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Der NSU-Prozess

Einleitung

Zwischenstand aus München (Teil 2)

Seit dem 6. Mai 2013 wird in München der Prozess gegen Beate Zschäpe, Ralf Wohlleben, Carsten Schultze, Holger Gerlach und André Eminger verhandelt.

Inzwischen haben mehr als 160 Hauptverhandlungstage stattgefunden; von 600 in der Anklage genannten ZeugInnen wurden bislang etwa 300 vernommen. Auf Beweisanträge der Nebenklage wurden etliche weitere ZeugInnen gehört. Seit diesem Sommer steht die terroristische Vereinigung „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) im Zentrum der Beweisaufnahme. Wie organisierten Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos ihr illegales Leben? Wo lebten sie, wer half ihnen, welche Ziele verfolgten sie, welche Ideologie lag ihren Anschlägen zu Grunde, gab es weitere Mittäter? In diesem Zusammenhang ist es der Nebenklage durch zahlreiche Anträge nicht nur gelungen, die Zeugenvernehmung vieler, im direkten Umfeld der Untergetauchten aktiven V-Leute zu erzwingen, sondern darüber hinaus auch deutlich zu machen, dass die Gruppe eben keineswegs isoliert von der restlichen Neonaziszene agierte, sondern zumindest in der Zeit zwischen 1998 und 2001 eng mit der Blood & Honour Sektion Sachsen verbunden war. Dieser Teil der Beweisaufnahme ist noch nicht abgeschlossen. Die Konstruk­tion der Anklage von einer stark isolierten Gruppe aus drei Personen gerät damit ins Wanken.

Der Gang der Beweisaufnahme zu den angeklagten Straftaten

Wie bereits im AIB Nr. 101 dargestellt, haben sich im Prozess zwei Angeklagte eingelassen; Carsten Schultze hat eine umfangreiche teilgeständige Aussage gemacht, in der er Ralf Wohlleben stark belastet. Schultze gab nicht nur zu, im Auftrag von Ralf Wohlleben die Ceska samt Schalldämpfer gekauft und überbracht zu haben, er teilte auch bis dahin unbekannte Tatsachen mit, wie beispielsweise, dass ihm Mundlos und Böhnhardt von einem durch sie durchgeführten Anschlag mit einer „Taschenlampenbombe“ erzählt haben. Ein entsprechender Vorfall mit einem Sprengsatz in Nürnberg konnte recherchiert werden.

Holger Gerlach hatte gegenüber der Polizei umfangreiche Angaben gemacht. Im Prozess gab er nur eine schriftliche Erklärung ab. Darin gibt er zwar zu, eine Pistole überbracht zu haben, bestreitet aber geglaubt zu haben, dass mit dieser Waffe schwere Straftaten begangen werden sollten.
In der Beweisaufnahme wurden die dem NSU bislang zur Last gelegten neun Morde an migrantischen Kleinselbständigen sowie der Mord und Mordversuch an zwei Polizeibeamten in Heilbronn weitgehend aufgeklärt, es wurden also die polizeilichen Ermittlungen vor und nach der Selbstbekennung des NSU nach dem Tod von Mundlos und Böhnhardt nachvollzogen. Bereits frühzeitig war demnach klar, dass bei den Taten Fahrräder benutzt wurden, dass eine Mordserie vorlag und der Schluss auf ein rassistisches Tatmotiv als verbindendes Element der Serie nur schwer zu ignorieren war.

Die Tat in Heilbronn wurde insoweit aufgeklärt, als unter anderem der Tatablauf, die Tatwaffen, das gemietete Wohnmobil und die Blutspritzer auf einer Jogginghose aus der letzten NSU-Wohnung als Beweismittel in den Prozess eingeführt wurden. Zur Frage des Tatmotivs gibt es nach wie vor keinerlei Erkenntnisse. Auch der Bombenanschlag in der Kölner Probsteigasse wurde größtenteils aufgearbeitet. Bislang stehen noch der Bombenanschlag in der Keupstraße und dreizehn der fünfzehn bislang bekannten Banküberfälle des NSU aus.

Mit den bisherigen Erkenntnissen sind die mit der Ceska durchgeführten Morde über die Bekenner-DVD und die im Wohnmobil und dem Brandschutt der Frühlingsstraße gefundenen Gegenstände und Waffen dem NSU zuzuordnen. Die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Beate Zschäpe als Mittäterin wird vor allem aus dem gemeinsamen Untertauchen, der engen Verbindung im Zusammenleben mit Böhnhardt und Mundlos und dem Versenden der Bekenner-DVD durch Zschäpe herzuleiten sein. Ebenso die Mittäterschaft Zschäpes für den Bombenanschlag in der Probsteigasse. Die Beihilfe von Schultze und Wohlleben an den neun mit der Ceska 83 durchgeführten Morde ergibt sich aus der Aussage Schultzes und die Rekonstruktion des Weges der Waffe von der Schweiz bis zu den NSU-Mördern. Selbst die Verteidigung zweifelt offensichtlich nicht an der Täterschaft Zschäpes bei der Brandlegung in der Zwickauer Frühlingsstraße. Diese Tat erfüllt den Tatbestand der besonders schweren Brandstiftung, aber auch des dreifachen versuchten Mordes an zwei im Dachgeschoss des Hauses arbeitenden Handwerkern und einer im Haus wohnenden alten Frau.

Die terroristische Vereinigung „NSU“

Seit Ende der Sommerpause versucht das Gericht, ein Bild über den ideologischen, organisatorischen und strukturellen Aufbau des NSU zu gewinnen. Die Generalbundesanwaltschaft (GBA) führt parallel zum Prozess Ermittlungsverfahren gegen neun namentlich bekannte Tatverdächtige wegen des Verdachts der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung. Weil keine Beihilfehandlungen zu den einzelnen Taten ermittelt wurden, sind diese Vorwürfe nach Ansicht des GBA weitestgehend verjährt. Der Nebenklage wird vollständige Akteneinsicht in diese Ermittlungsverfahren verwehrt. Es wird zudem noch ein sogenanntes „Strukturermittlungsverfahren“ gegen Unbekannt geführt, die Akten bleiben jedoch völlig außen vor. In dieser Akte verschwindet alles, was die GBA für den Prozess als „nicht erheblich“ hält. Sie hat damit auch nach Anklageerhebung die Hoheit über den Prozessstoff.

Die Frage nach der organisatorischen Zusammenarbeit weiterer Personen oder Netzwerke mit dem NSU wird damit von der GBA völlig aus dem Prozess herausgehalten. Gericht und Nebenklage haben daher nur die Chance, die in Betracht kommenden Personen als ZeugInnen zu befragen und machen damit im Grunde genommen Polizeiarbeit. Diese ZeugInnenvernehmungen bleiben oft frustrierend, weil entweder die Aussage verweigert oder dreist gelogen wird.

Die V-Leute Tino Brandt und Kai Dalek haben vor Gericht angegeben, dass der Thüringer Heimatschutz in das in den 1990er Jahren immer noch dominierende bundesweite Neonazinetzwerk Gesinnungs­gemein­schaft der Neuen Front (GdnF) eingebunden war. Dalek, wichtiger Aktivist vor allem in der Anti-Antifa-Arbeit und Organisator der Rudolf-Heß-Märsche, war „Führungskamerad“ von Brandt. Dalek gab an, vom bayerischen Verfassungsschutz erst in die Neonaziszene geschickt und dort mit dem Aufbau des Computerverbundes „Thulenetz“ und der Kontaktaufnahme zum THS beauftragt worden zu sein. Damit waren nun mindestens zwei V-Leute beim THS in zentraler Funktion „am Tisch“.

Weitere V-Leute bzw. Informanten befanden sich in direktem Umfeld der Unterstützer des untergetauchten Trios in den Jahren 1998 bis 2001: Über Blood & Honour Sachsen lieferten mindestens Thomas Starke und Carsten Szczepanski Informationen. Dabei wurden dem Thüringer LKA bereits 1998 Informationen bekannt, dass die Drei von Starke, Antje Probst und Jan Werner unterstützt werden. Szczepanski gab an, dass Werner versucht habe, Geld und Waffen für die Abgetauchten zu besorgen. B&H Sachsen-Mitglied Antje Probst gab in ihrer ersten Vernehmung an, im Jahr 1997 oder 1998 hätten 20.000 DM aus der B&H Konzertkasse gefehlt, Jan Werner habe eine Diskussion darüber unterbunden. Mit dieser Summe hätte dem NSU tatsächlich ein Grundkapital für den Aufbau seiner Aktivitäten zur Verfügung gestanden.

In den nächsten Monaten werden alle Personen aus dem damaligen Umfeld von B&H Sachsen gehört werden müssen, um zu überprüfen, ob sich die Unterstützung durch B&H Sachsen auch nachhaltig und konkreter beweisen lässt und ob die Unterstützung noch darüber hinaus ging.
Über weitere Anträge der Nebenklage auf Vernehmung von Personen aus dem Umfeld von B&H Dortmund, bzw. der dortigen Combat 18 Gruppe, wurde noch nicht entschieden. Die dortige Neonaziszene verfügte nicht nur über Waffen, sie verübte damit auch erhebliche Straftaten. Es gibt Verbindungen zur sächsischen B&H-Szene. Könnte hier eine Verbindung nachgewiesen werden, wäre belegt, dass der NSU wie in dem Bekennervideo behauptet nur eine Zelle von mehreren gewesen wäre, die hier angeklagten Straftaten also vermutlich arbeitsteilig und gemeinsam mit anderen bewaffneten Zellen aus der Neonaziszene durchgeführt wurden.

Ein Ende der Beweisaufnahme ist noch nicht abzusehen. Insoweit ist nicht klar, ob der Vorsitzende versuchen wird, zunächst all diese ZeugInnenvernehmungen abzuschließen, bevor er die noch offenen Komplexe Keupstraße und Banküberfälle beginnt. Auch die von der Nebenklage Yozgat aufgeworfenen weiteren ZeugInnenvernehmungen zur Anwesenheit des Verfassungsschützers Andreas Temme am Tatort in Kassel sind noch nicht durchgeführt.