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Statistische Mogelpackung

Einleitung

Das Innenministerium und seine Statistik über politisch motivierte Straftaten.

Pünktlich vor dem 1. Mai veröffentlichte das Bundesinnenministerium eine Pressemitteilung1  mit den aktuellen Zahlen zu politisch motivierten Straftaten. Dass die Pressemitteilung nur höchst selektiv zusammengestelltes Datenmaterial aufwies, wurde in der Medienlandschaft nicht hinterfragt. Vielmehr gab es den großen Aufschrei über vermeintlich gestiegene linke Gewalt und an die Wand gemalte bürgerkriegsähnliche Prognosen für den diesjährigen Maifeiertag.2 Inzwischen hat sich die Debatte öffentlich wieder gemäßigt. Der komplette Zahlensatz ist mit dem aktuellen Bundesverfassungsschutzbericht3  erschienen, die schwarz-gelbe Regierung plant Gelder auch gegen »Links- und Ausländerextremismus«4  zur Verfügung zu stellen und eine Gesetzesverschärfung zum Tatbestand des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte und die Errichtung einer Bund- Länder-Projektgruppe zur besseren Bekämpfung linker Gewalt wurde im Rahmen der Innenministerkonferenz5  beschlossen. Um die notwendige politische Debatte unaufgeregt und analytisch klar führen zu können, bedarf es jedoch einer Aufarbeitung und Einschätzung der dargelegten Zahlen.

Viel Lärm um nichts?!

Verwirrungstaktik Nummer eins war es, so viele unterschiedliche Begriffe wie möglich in den Raum zu werfen und dabei wichtige Begriffe nur marginal zu beleuchten. Politisch motivierte Straftaten werden zunächst in Links, Rechts, Ausländer und Sonstige6 unterteilt, eine Teilmenge davon sind Gewalttaten.7 Als politisch links motiviert gelten Delikte, wenn »in Würdigung der Umstände der Tat und/oder der Einstellung des Täters Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie nach verständiger Betrachtung (z. B. nach Art der Themenfelder) einer ›linken‹ Orientierung zuzurechnen sind, ohne dass die Tat bereits die Außerkraftsetzung oder Abschaffung eines Elements der freiheitlichen demokratischen Grundordnung (Extremismus) zum Ziel haben muss. Insbesondere sind Taten dazu zu rechnen, wenn Bezüge zu Anarchismus oder Kommunismus (ein–schließlich Marxismus) ganz oder teilweise ursächlich für die Tatbegehung waren.«8 Aus der öffentlich weniger bekannten Definition zu politisch motivierter Kriminalität geht hervor, dass als Themenfelder beispielsweise auch Antirassismus, Antifaschismus aber auch Menschenrechte und Sozialpolitik gelten.9

Mit diesem Begriffswirrwarr noch nicht getan, existiert zusätzlich die Kategorie »politisch motivierte Straftaten mit extremistischen Hintergrund« (Rechts, Links, Ausländer, Sonstige) mit der Teilmenge der »politisch motivierten Gewalttaten mit extremistischen Hintergrund«. Der extremistischen Kriminalität werden jene politisch motivierten Straftaten zugeordnet, »bei denen tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtet sind«10 .

Eine weitere Dreistigkeit stellte dar, dass Delikte als politisch motiviert in die Statistik eingeordnet wurden, obwohl deren Hintergrund unklar erscheint. So verkündete Innenminister de Maiziére: »Ebenfalls ist zu beobachten, dass vermehrt Personen aus einer zwar eher politisch geprägten Grundeinstellung handeln, ihre Taten jedoch auch von Vandalismus geprägt zu sein scheinen; teilweise sogar der Vandalismus im Vordergrund steht.«6 Weshalb Taten, bei denen der Vandalismus im Vordergrund steht, als politisch motivierte Straftaten erfasst werden, hinterfragte leider keine_r Journalist_in.

Abgehangene NPD-Plakate als linke Straftaten

Die nächste Finte des Bundesinnenministeriums war es, lauthals den Anstieg linker Straftaten zu verkünden, in dem Wissen dass es sich zum Großteil um Sachbeschädigungsdelikte im unteren Deliktsbereich handelte. So wurde beispielsweise der legitime, gewaltfreie Protest gegen Neonazis in Form des Abhängens von Plakaten und Teilnahme an Protesten, sobald er an die Schranken von Gesetzen geriet, statistisch mit erfasst. Dazu bekannte der Bundesinnenminister: »Viele dieser Sachbeschädigungen haben im Zusammenhang mit der Bundestagswahl und den Wahlen zum Europäischen Parlament gestanden und sich in der Zerstörung, der Beschädigung oder dem Beschmieren mit verfassungsfeindlichen Symbolen von Wahlplakaten widergespiegelt.«11 Der letzte Halbsatz erklärt sich daraus, dass sich dieses Zitat allgemein auf den Anstieg von Sachbeschädigungen bezog. Bekanntermaßen wurden aber bedeutend mehr NPD-Plakate abgehangen, als dass Neonazis Plakate beschädigt haben. Darüber hinaus hatte die NPD erklärt, jedes beschädigte Plakat anzuzeigen.

Mit der großen Anzahl von Sachbeschädigungsdelikten begründet sich zahlenmäßig in weiten Teilen der Anstieg linker Straftaten (46 Prozent aller linken Straftaten fallen in diesen Bereich)12 . Weitere 18 Prozent der linken Straftaten stellten Verstöße gegen das Versammlungsgesetz dar, darunter zählen auch zahlreiche Proteste gegen Neonaziaufmärsche wie beispielsweise die Teilnahme an Sitzblockaden. Es sei in Erinnerung gerufen, dass die polizeiliche Statistik eine reine Tatverdächtigenstatistik ist und kein Abgleich mit tatsächlichen Verurteilungen stattfindet. Darüber hinaus ist die Statistik zur Politisch Motivierten Kriminalität (PMK) eine Eingangsstatistik, d.h. dass Straftaten bereits bei Aufnahme der polizeilichen Ermittlungen und damit beim ersten Anfangsverdacht erfasst werden.13  

Let´s talk about left violence

Zu Recht wird darauf verwiesen, dass tatsächlich im Bereich der linken Gewalttaten ein Anstieg zu verzeichnen ist. Dabei sind über ein Drittel dieser Delikte den Tatbeständen des Landfriedensbruchs und Widerstandsdelikten gegen Vollstreckungsbeamte zuzuordnen. Taten also, die klassisch im Zusammenhang mit Demonstrationen und Protesten gegen Neonazis stehen. Ein großer Teil von Widerstandsdelikten kann nur unter einem äußerst weiten Gewaltbegriff erfasst werden. Kommt es nämlich zur Verletzung des_der Beamt_in, geht die Tat als Körperverletzung in die Statistik ein.14

So gilt nach der Rechtsprechung als Gewalt im Sinne des Widerstandsdelikts, wenn man sich von einem_r Polizist_in losreißt oder sich gegen den Boden bzw. andere Hindernisse stemmt, um sein Wegbringen zu verhindern oder heftige Bewegungen ausführt, um sich aus dem Griff eines_r Beamt_in zu befreien.15 Ähnliches gilt für den Landfriedensbruch, der auch schon bei dem Werfen von Eiern, Erdklumpen, Feuerwerkskörpern oder Farbbeuteln, dem Zerstechen von Autoreifen oder dem Durchbrechen von Absperrungen einschlägig sein kann.16

Wenn man zusätzlich bedenkt, dass die PMK-Statistik nach Anfangsverdacht erstellt wird, so liegt nahe, dass zahlreiche nichtstrafbare passive Widerstandshandlungen17 als Gewaltdelikte erfasst werden. So endet tatsächlich nur ein Teil dieser vorgeworfenen Delikte in Verurteilungen. Viele, die sich aktiv an den zahlreichen antifaschistischen Protesten beteiligt haben, wissen wie schnell es zu Anzeigeerstattungen kommt. So ist es nicht verwunderlich, dass ein nicht geringer Teil des Anstiegs linker Gewalttaten genau auf diesen Straftatenkomplex zurückgeht.

Der andere Bereich des Anstiegs linker Gewalttaten ist im Zuwachs von Körperverletzungsdelikten begründet. Dabei bleibt zu sagen, dass sich etwa die Hälfte der Delikte gegen Polizist_innen richtete. Es dürfte sich weniger um gezielte Angriffe, als um Verletzungen im Rahmen von Demonstrationsabläufen gehandelt haben. Die zweite Hälfte der Körperverletzungen richtete sich gegen (vermeintliche) Neonazis.

Auch politisch linksmotivierte Brandstiftungsdelikte haben sich knapp verzweifacht. Der statistischen Verdopplung muss allerdings dahingehend widersprochen werden, dass es sich um ein schwerpunktmäßig auf Berlin begrenztes Phänomen handelt.18 Nur ein Bruchteil der medial nach links zugeschriebenen Fälle war tatsächlich politisch motiviert. Diese pauschale Kategorisierung wird inzwischen von verschiedenen Seiten gerügt und selbst die Polizei widerspricht häufig. Vielfach sind die Tathintergründe unklar und auch Versicherungsbetrüge finden nicht selten statt.

Schlussendlich wurden in der Medienrezeption im Vorfeld des ersten Mai die Begriffe »Straftat« und »Gewalttat« nicht differenziert verwendet. So ist zwar jede Gewalttat eine Straftat, aber nicht jede Straftat eine Gewalttat, ein kleiner aber feiner Unterschied.

Links gleich Rechts, Rechts gleich Links?

Beim Durchblättern der Pressemeldungen zu politisch motivierter Kriminalität erscheinen rechte Straftaten als Normalität. In der Medienlandschaft und Öffentlichkeit ist im Laufe der Jahre ein Gewöhnungs- und Normalisierungseffekt eingetreten. So wurde »glücklicherweise« in diesem Jahr endlich ein Rückgang vermeldet und der »alte« Feind links war wieder präsent. 

Dabei wurden auch für das Jahr 2009 mehr als doppelt so viele rechte wie linke Straftaten registriert. Es muss aber angefügt werden, dass es sich in knapp 70 Prozent der Fälle um Propagandadelikte handelte. Diese herausgerechnet, kam es auch im letzten Jahr zu einem leichten Anstieg rechter Straftaten.

Rechte Gewalttaten waren vorrangig rassistisch motiviert und forderten erneut ein Todesopfer. Nahezu 90 Prozent aller rechten Angriffe stellten Verletzungshandlungen mit teilweisen schweren Folgen dar. Sie wurden überwiegend im direkten körperlichen Angriff häufig mit dem Einsatz von gefährlichen Gegenständen ausgeführt. »Linksextremistische Gewalttaten« waren zu über 40 Prozent Widerstands- und Landfriedensbruchdelikte sowie gefährliche Eingriffe in den Bahn-, Luft-, Schiffs und Straßenverkehr. Linke Gewalt greift insgesamt in deutlich geringerem Maße auf brutale und lebensbedrohliche Tatbegehung zurück und kann eher als Distanzgewalt beschrieben werden.

Zieht man zusätzlich die veröffentlichten Zahlen der Beratungsstellen für Betroffene rechter Gewalt in Ostdeutschland19 heran, so wird offensichtlich, dass rechte Gewalt in der offiziellen Statistik deutlich unterrepräsentiert ist. So vermeldeten die Beratungsstellen allein 739 Gewalttaten für die fünf ostdeutschen Bundesländer inklusive Berlin. Diese Zahl ist annähernd so hoch wie die von den Behörden veröffentlichte Zahl von Gewalttaten für die gesamte Bundesrepublik (891 rechte Gewalttaten).

Die Frage nach dem »Warum« und »Wie weiter«

Zunächst gibt es simple statistische Antworten. Tatsächlich haben sich die registrierten linken Straftaten massiv erhöht. Das Jahr 2009 schlägt als Superwahljahr mit einer Vielzahl politischer Veranstaltungen und insbesondere Protesten gegen Neonazis nieder. Rechnet man die Sachbeschädigungen heraus, gibt es nahezu keinen Anstieg linker Straftaten. Die Zunahme linker Gewalttaten liegt in weiten Teilen im Demonstrations- und Protestgeschehen begründet und basiert schwerpunktmäßig auf Widerstands- oder Landfriedensbruchdelikten sowie Körperverletzungen. Eingebettet in die Themenfelder »Antifaschismus« und »Konfrontation/Politische Einstellung gegen rechts« bzw. »gegen sonstige politische Gegner« geben die Zahlen und Veröffentlichungen dem Extremismusansatz der schwarz/gelben Bundesregierung und den zahlreichen Fans von »law and order« Auftrieb.

Der Wind um die Delikte gegen Beamt_innen ist im Wesentlichen damit zu begründen, dass eine Gesetzesverschärfung geplant ist. So beschloss die Innenministerkonferenz im Mai die Höchststrafe für Widerstandsdelikte von zwei auf drei Jahre anzuheben. Der Öffentlichkeit wurde dabei vermittelt, dass dies notwendig sei um linke Gewalt und Stadienkriminalität einzudämmen, was empirisch durch eine Studie des Kriminologischen Instituts Niedersachsens20 bekräftigt wurde. Danach hat die Gewalt gegen Polizeibeamt_innen seit 2005 um 60 Prozent zugenommen, wobei sich die Fallzahlen aber auf relativ niedrigem Niveau bewegen (Anstieg von 203 auf 325 Fälle mit Dienstunfähigkeit über 6 Tagen). Hauptursache sind aber nicht randalierende Linke, sondern laut der Studie normale Einsätze wie nichtversammlungsrechtliche Veranstaltungen, Personenkontrollen, Ruhestörungen und Streitigkeiten. Selbst der sonst nicht für liberale Äußerungen bekannte Bundesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP) Konrad Freiberg hatte verkündet, dass »es immer häufiger Routineeinsätze (sind), die eskalieren«21 . So sind es beispielsweise die prügelnden Ehemänner22 , die den Polizist_innen Sorge bereiten. Denn nach den Änderungen im Gewaltschutzgesetz im Jahr 2002 sind die Beamt_innen verpflichtet, gewalttätige Familienmitglieder aus der Wohnung zu entfernen. Daher stiegen Verletzungen aufgrund von Einsätzen wegen häuslicher Gewalt um fast 80 Prozent an.23 Der Anstieg (37 auf 65 Fälle) von Verletzungen auf linken Demonstrationen zwischen 2008 und 2009 bewegt sich dagegen auf niedrigem absoluten Niveau. Die Debatte um häusliche Gewalt ist aber aufgrund gesellschaftlicher Verwurzelung und mangelnder öffentlichkeitswirksamer Brisanz schwieriger vermittelbar als der Kampf gegen (vermeintliche) Extremist_innen.

Schlussendlich hat die schwarz-gelbe Bundesregierung »allen Extremismen« den Kampf erklärt. In dieser Logik muss es auch ein Problem mit Links- und Ausländerextremismus geben. Die sich wiederholenden Erklärungen bezogen sich insbesondere auf die neue Statistik, Gewalt gegen Polizist_innen sowie brennende Autos in Hamburg und Berlin. Rechte Einstellungen in der Mehrheitsgesellschaft geraten so aus dem politischen Fokus. Ein Rückfall – auch auf Bundesebene – in Verhaltensweisen der neunziger Jahre scheint wahrscheinlich. Rassistische Einstellungen sind weit verankert, rechte Gewalt wird ignoriert und alternative Jugendliche zu »Linksextremen« stilisiert. Dass dies, wie bereits von verschiedenen Wissenschaftler_innen angemahnt24 , völlig an der Realität vorbeigeht, passt aber nicht ins politische Konzept. Treu dem Extremismusansatz folgend (vgl. AIB # 80), wollte die Bundesregierung auch schon dieses Jahr Geld gegen »Linksextremismus« in Ostdeutschland ausgeben und blieb darauf sitzen.25

In Zukunft gilt es weiter aktiv gegen den Extremismusansatz zu streiten und gesellschaftliche Analysen nicht nach der »guten Mitte« und den »bösen Extremisten« auszurichten. Dabei sollte sich der Fokus einer antifaschistischen Linken insbesondere auf die Kritik des derzeitigen bundesdeutschen Demokratiekonzepts im Sinne der freiheitlich demokratischen Grundordnung (fdGO)26 richten. Demokratie wird demnach im staatsrechtlichen Sinne als Ordnungsinstrument und nicht als Rahmen zur Verteidigung/Gewährleistung von Menschenrechten verstanden. Diesem antiemanzipatorischen Konzept müssen eigene Vorstellungen von Gesellschaft entgegengestellt werden.

Sämtliche Zahlen ohne nähere Angaben sind der Pressemitteilung des Bundesinnenministeriums vom 23.03.2010 oder dem Bundesverfassungsschutzbericht 2009 entnommen. Die Begriffe Rechts-, Links-, Ausländer- und sonstiger Extremismus sowie Straftaten werden aus der Logik der Veröffentlichungen des Innenministeriums verwendet.