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Tödlich unpolitisch

Einleitung

Zur Erfassung von Todesopfern rechter Gewalt am Beispiel Sachsen-Anhalt

Nach der Selbstenttarnung des Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU) sieht die Bundesregierung zwar keinen Bedarf, die 2001 eingeführten und von zivilgesellschaftlichen und antifaschistischen Initiativen kritisierten Kriterien für die Erfassung der durch Neonazis Getöteten zu überarbeiten, dennoch hat sich die »offizielle« Statistik geändert. Nicht nur die zehn durch den NSU Ermordeten sind aufgenommen worden, ebenso sahen sich einzelne Bundesländer dazu veranlasst, auch weitere, länger zurückliegende Tötungsdelikte neu zu untersuchen. An Art und Weise der Erfassung sowie der darin deutlich werdenden staatlichen Ignoranz im Umgang mit Betroffenen rechter Gewalt muss weiterhin Kritik formuliert werden. Dies soll am Beispiel Sachsen-Anhalt verdeutlicht werden, wo mittlerweile der Bericht zur Nach­unter­su­chung diverser Tötungsdelikte zwischen 1993 und 2008 vom Innen- sowie Jus­tizministerium veröffentlicht wurde.

Mit Stand vom November 2012 ließ das Bundesinnenministerium verlautbaren, »dass seit 1990 nunmehr 63 Todesopfer rechter Gewalt zu beklagen sind.« Auffällig hierbei ist die hohe Diskrepanz zu den bis zu 182 dokumentierten Fällen von durch Neonazis Ermordeten, wie sie unabhängige Initiativen veröffentlichen. Diese hohe Ab­wei­chung ergibt sich aus der Logik des 2001 eingeführten Meldesystems Politisch Motivierte Kriminalität (PMK) und dem darin enthaltenen Bedürfnis staatlicher Behörden, Deutungshoheit darüber zu erlangen, was einen politischen Tathintergrund darstellt und was nicht.

Meldesystem PMK

Grundlage des Meldesystems sind die Richtlinien des »Kriminalpolizeilichen Meldedienstes – Politisch motivierte Kriminalität«, die für alle Bundesländer verpflichtend gelten. Demnach werden kriminaltechnische Anfragen von den einzelnen Staatsschutzabteilungen an die jeweiligen Landeskriminalämter weitergeleitet, durch diese ihrer Zuordnung überprüft und anschließend an das Bundeskriminalamt (BKA) über­mittelt. Die Taten werden dabei in die Kategorien PMK-rechts, -links, -Ausländerkriminalität und -sonstige unterteilt und in die Statistik des Bundesinnenministeriums aufgenommen. Einzige Ausnahme stellen hierbei die NSU-Morde dar, die selbstständig vom BKA übernommen wurden. Dass dieses neue System aber ebensowenig wie das Vorläufermodell in der Lage ist, das gesellschaftliche Ausmaß und Vorhandensein extrem rechter Einstellungen zu erfassen, verdeutlicht stellvertretend das Beispiel Sachsen-Anhalt. Hier wurden neun Tötungen unter Zuhilfenahme der aktuellen Richtlinien untersucht und ab-schließend drei »Fälle« neu in die Statistik des Bundes aufgenommen.

Offizielles aus Sachsen-Anhalt

Mitte April 1993 kam es vor einer Diskothek in Obhausen zu einer Auseinandersetzung zwischen Besucher_innen und Neonazis, in der letztere unterlagen. Um sich für die Niederlage »zu rächen«, stürmten am 24. April 1993 40 bis 50 Neonazis die Diskothek, verschossen Reizgas sowie Leuchtmunition und schlugen auf die Anwesenden ein. Der 23-jährige Matthias Lüders erhielt dabei mit einem Baseballschläger zwei Schläge auf den Kopf und erlag zwei Tage später den dadurch zugefügten Verletzungen.

Der 37-jährige Hans-Werner Gärtner geriet auf Grund einer geistigen Beeinträchtigung des öfteren in den Fokus neonazistischer Anfeindungen in seinem Wohnort Löbejün. Im August 1999 wurde er durch Neonazis angegriffen und verletzt, woraufhin es zu einer polizeilichen Anzeige kam. Nur zwei Monate später, am 8. Oktober 1999, trafen die Neonazis erneut auf Hans-Werner Gärtner und wollten sich für die Anzeige »rächen«. Über mehrere Stunden wurde er so lange misshandelt, bis er letztlich kaum noch zu erkennen war und an der Gesamtheit seiner Verletzungen starb.
Ebenfalls auf Grund einer geistigen Beeinträchtigung wurde der 39-jäh­rige Jörg Danek am 29. Dezember 1999 durch Neonazis in Halle getötet. Die Angreifer schlugen und traten so massiv auf ihn ein, dass er aufgrund schwerer Halswirbelverletzungen starb. 

So erschreckend sich jede einzelne  Tat auch darstellt, drängt sich gleichzeitig die Frage auf, warum den weiteren Getöteten Eberhart Tennstedt (43 Jahre / Quedlinburg), Helmut Sackers (60 Jahre / Halberstadt), Willi Worg (38 Jahre / Milzau), Andreas Oertel (40 Jahre / Naumburg), Martin Görges (46 Jahre / Burg), Hans-Joachim Sbrzesny (50 Jahre / Dessau) und Marcel W. (18 Jahre / Bernburg) eine »offizielle« Anerkennung als Opfer rechter Gewalt weiterhin verwehrt wird?

Amtlich rechts

Eine Antwort darauf liefert Bundesinnenminister Friedrich (CSU) selbst und zeigt damit gleichzeitig die notwendige Auseinandersetzung um Deutungshoheit. »In dieser Statistik werden nur Täter aufgeführt, bei denen ganz klar und gerichtsfest eine rechtsextreme Tatmotivation vorliegt. Wenn der Täter zwar eine rechtsextreme Gesinnung hat, seine Tat aber nichts mit dieser Gesinnung zu tun hat, dann wird er nicht in dieser Statistik geführt«.

Auf welcher Grundlage darf also entschieden werden, wann die rechte Ideologie der Tatbeteiligten eine Rolle spielt und wann nicht? Nach den Bundesministerien Inneres und Justiz liegt PMK-rechts vor »wenn Bezüge zu völkischem Nationalismus, Rassismus, Sozialdarwinismus oder Nationalsozialismus ganz oder teilweise ursächlich für die Tatbegehung waren«. Gerade aber die Bewertung der Ursächlichkeit macht es den staatlichen AnhängerInnen der »Extremismustheorie« fast unmöglich, neonazistische Taten in ihrem gesamtgesellschaftlichen Kontext zu betrachten. Diese Sichtweise durchzieht den Untersuchungsbericht aus Sachsen-Anhalt und veranschaulicht die zugrundeliegenden Detailproble­me. Demnach fällt es schwer, ein rechtes Tatmotiv festzustellen, wenn die Getöteten nicht in eine stereotype Opfergruppe von Neonazis passen, diese z.B. erst mit einem Obdachlosen trinken, um ihn anschließend trotzdem aus Hass auf »Asoziale« zu töten (Vgl. AIB Nr. 89) oder rassistische Tatmotive vorliegen, der/die TäterIn aber nicht der organisierten extremen Rechten zugeordnet werden kann.

Die rein repressive Ausrichtung auf die zu überprüfenden Taten stellt hierbei das größte Problem, auch der Untersuchung aus Sachsen-Anhalt, dar. Demnach kritisiert die Landesregierung, dass »in entsprechenden Artikeln nicht durchweg sauber differenziert (wird) zwischen ›rechtsextremistisch motivierten‹ Taten und solchen Delikten, die von ›Rechten‹ begangen wurden.« Um diese »Differenzierung« vornehmen zu können, müssen dementsprechend drei Kriterien vorliegen. Vertritt der/die TäterIn eine extrem rechte Ideologie, war diese zentrales Motiv für die Tatausübung und liegen weitergehende Erkenntnisse bei Polizei oder Verfassungsschutz vor. Wie diese Vorgaben eine eindeutige Erfassung verunmöglichen, zeigt folgendes Beispiel aus dem Untersuchungsbericht. Ein seit 1989 in Halberstadt aktiver Neonazi, der zum Tatzeitpunkt eine größere Anzahl neonazistischer Tonträger besaß, gerät wegen Abspielens neonazistischer Musik und »Sieg Heil«-Rufe in Streit mit seinem Nachbarn Helmut Sackers und tötet ihn daraufhin mit mehreren Messerstichen. Obwohl sich der Streit »eindeutig wegen des Abspielens des Horst-Wessel-Liedes entwickelt hat«, kann die Tat dennoch nicht als neonazistisch eingestuft werden, da nicht eindeutig belegbar scheint, »dass ein Kausalzusammenhang zwischen der rechtswidrigen Tat und der politischen Orientierung des A. Sch. besteht.« Weil »das einschlägige PMK-Bewertungssystem für die Beurteilung der Frage, ob eine Tat kausal auf einen politischen Beweggrund zurückzuführen ist, aber auch zwingend das Vorliegen eines strafrechtlich vorwerfbaren Verhaltens voraussetzt, ist dieser Fall statistisch nicht zu bewerten.« Die Beteiligten in Sachsen-Anhalt wollen hier also »einheitliche, belastbare und objektive Bewertungsmaßstäbe« heranziehen und sich nicht von »moralischen, emotionalen oder politischen Erwägungen« leiten lassen. An diesem ausgewählten Beispiel wird jedoch deutlich, dass das zugrundeliegende staatliche Meldesys­tem es nicht vermag Aussagen über das tatsächliche Ausmaß rechter Ideologie und Gewalt zu treffen bzw. diese darzustellen. Viel mehr wird solches behördliches Wissen in öffentlichen Debatten platziert und oft unhinterfragt übernommen. Um aber der Deutungshoheit staatlicher Behörden etwas entgegenzusetzen, reicht es nicht aus, nur mit anderen Zahlen ins Feld zu gehen, sondern die (Un-)Möglichkeiten einer behördlichen statistischen Darstellung des Themengebietes herauszuarbeiten.