Skip to main content

Der Unwille zur Aufklärung

Wolf-Dieter Vogel (Gastbeitrag)
Einleitung

Eine V-Person liefert Sprengstoff an Neo­nazis, Verfassungsschützer decken Terroristen, Polizisten schreddern Akten die zu den Mördern führen könnten – durch die Enthüllungen über den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) ist einmal mehr deutlich geworden wie sich deutsche Ermittler bemühen, die Strafverfolgung von militanten Neonazis zu vereiteln und wie eng die Behörden in deren Strukturen eingebunden sind. Dass Geheimdienstler und Polizisten mit Neonazis kooperieren, ist freilich keine Neuigkeit. Dennoch wirft die Dimension der Zusammenarbeit, wie sie jetzt öffentlich wird, auch ein neues Licht auf Angriffe, die von den Sicherheitsbehörden längst ad acta gelegt wurden.

Foto: Azzonacao

Bei dem Brand­anschlag am 18. Januar 1996 in Lübeck kamen 10 Flüchtlinge, darunter Kinder und Jugendliche ums Leben.

Bereits 1995 versuchte der Militärische Abschirmdienst das spätere NSU-Mitglied Uwe Mundlos als Informanten zu gewinnen. Die Beamten erhofften sich Wissen über geplante Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte. Mundlos lehnte ab – so zumindest der aktuelle Stand der veröffentlichten Wahrheit. Dennoch drängt sich angesichts des Anwerbeversuchs die Frage auf, wie viele Neonazis dieses Angebot akzeptiert und welche Rolle V-Leute bei den Angriffen in diesen Jahren gespielt haben. Vergleicht man die Ermittlungen der NSU-Morde mit denen zum Brandanschlag auf ein von Asylsuchenden bewohntes Haus in Lübeck im Jahr 1996, so fallen die Parallelen sofort ins Auge: Die Strafverfolger gaben sich in beiden Fällen alle Mühe, Rechte als Täter auszuschließen und die Verantwortlichen im Kreis der Opfer zu suchen.

Zur Erinnerung: Am 18. Januar 1996 brannte in der Hansestadt eine Flüchtlingsunterkunft. Zehn Menschen starben, 38 wurden zum Teil schwer verletzt. Schnell war klar, dass es sich um einen Anschlag handelt, und fast ebenso schnell schienen die Täter ausgemacht. Noch am selben Tag nahm die Polizei vier junge Deutsche fest, die in der Nacht in der Nähe des Gebäudes gesehen wurden. Doch wenige Stunden später kam die Wende. Die Männer aus dem mecklenburgischen Grevesmühlen wurden freigelassen und stattdessen ein Bewohner der Unterkunft verhaftet. Von nun an konzentrierten sich alle Ermittlungen auf den Libanesen Safwan E. Einen rassistischen Hintergrund des Anschlages schlossen die Strafverfolger praktisch aus. Auch für viele Medien stand außer Zweifel: Die Mörder kamen nicht von außen. Von Autoschiebern, Kinderpornografie und Drogenhandel in der Unterkunft war plötzlich die Rede. Und von Streit unter den Bewohnern, obwohl diese angaben, sich gut verstanden zu haben.

Vier Jahre später ermordeten Unbekannte den Blumenhändler Enver Simsek. Bis 2006 fielen acht weitere türkisch- und griechischstämmige Menschen Attentaten zum Opfer. Wieder ermittelten die Strafverfolger im vermeintlich kriminellen Milieu der Migrantinnen und Migranten, in den Kreisen der »Türkenmafia« wie Journalisten sekundierten. Man bastelte falsche Döner-Buden, entdeckte omi­nöse Verbindungen zu kriminellen Netzwerken in der Türkei und zog Wahrsagerinnen zu Rate. Unter allen Umständen wollten die Ermittler vermeiden, dass sich der Verdacht bestätigt, Neonazis könnten für die Morde verantwortlich sein. Nur der Zufall wollte es, dass die NSU-Mitglieder Uwe Mundlos, Beate Zschäpe und Uwe Böhnhardt lange Zeit später als Täter ausgemacht wurden.

Wer jedoch in jener Januarnacht in Lübeck gezündelt hat, ist noch immer nicht juristisch geklärt. Bis heute weigert sich die Staatsanwaltschaft, gegen die Grevesmühlener ein neues Strafverfahren einzuleiten. Wie bei den NSU-Ermittlungen fällt es schwer, von »Ermittlungspannen« zu reden. Beweise wurden offenbar bewusst unterschlagen und Spuren nicht konsequent verfolgt, obwohl die Männer eindeutig neonazistisch gesinnt waren. Maik W., der sich auch »Klein-Adolf« nennen ließ, verzierte sein Zimmer mit einer Reichskriegsflagge, Dirk T. war bereits am rassistischen Pogrom 1992 in Rostock beteiligt.

Bei drei der vier Mecklenburger stellten die Gerichtsmediziner versengte Wimpern, Augenbrauen und Haare fest, wie sie für Brandstifter »typisch« seien. Die Männer lieferten skurrile Erklärungen: Der eine wollte einen Hund angezündet haben, der andere schilderte, wie er bei Dunkelheit mit Hilfe eines Feuerzeugs in den Tank seines Mofas geschaut habe und dabei eine Stichflamme entstanden sei. Die Strafverfolger nahmen ihnen ihre Begründungen ab, obwohl spätere Untersuchungen ergaben, dass sich die Männer ihre Verbrennungen in den 24 Stunden vor der Festnahme zugezogen hatten. Weitere Ermittlungen gestalteten sich schwierig: Die Haarproben verschwanden aus der Asservatenkammer des Landeskriminalamtes (LKA) Schleswig-Holstein.

Gegen Safwan E. lagen nicht ansatzweise solche Verdachtsmomente vor. Ein vermeintliches Tatgeständnis, das ein Sanitäter gehört haben will, reichte aus, um den Flüchtling ein halbes Jahr zu inhaftieren. Er sollte den genauen Ort des Brandausbruchs genannt haben. Doch wo das Feuer losging, konnte bis heute nicht geklärt werden. Alle vermeintlichen Beweise lösten sich letzten Endes in Luft auf: Nach drei Jahren und zwei Prozessen wurde Safwan E. 1999 endgültig freigesprochen.

Dennoch weigern sich die Staatsanwälte bis heute, das Verfahren gegen die Mecklenburger wieder aufzunehmen. Dabei haben sich die Männer alle Mühe gegeben, die Ermittler von ihrer Täterschaft zu überzeugen. Maik W. hatte vor der Tat einem Freund erzählt, er habe oder werde etwas in Lübeck anzünden, René B. beschuldigt Dirk T. der Mittäterschaft. Nachdem der 1998 wegen Diebstahls im Gefängnis einsitzende Maik W. Mithäftlingen seine Beteiligung gestand, kümmerten sich die Strafverfolger um den Fall. Allerdings schienen sie vor allem darum bemüht zu sein, den Verdächtigen zum Schweigen zu bringen. Haftleiter Peter Dannenberg war »sehr erstaunt« darüber, wie wenig Interesse die Staatsanwälte an W.s Aussagen hatten. Auch eine andere Spur verlief im Sand: Bei Vernehmungen kam der Verdacht auf, dass Dirk T. schon vor seiner Festnahme einen Draht zu Beamten des LKA Schleswig Holstein hatte.   

War Dirk T. als V-Mann für die Sicherheitsbehörden tätig? Ist das der Grund dafür, warum sich die Strafverfolger beharrlich weigern, gegen die Hauptverdächtigen zu ermitteln? Hält deshalb das Innenministerium von Schleswig-Holstein die Behauptung aufrecht der Anschlag sei nicht von außen verübt worden? Nach den NSU-Enthüllungen ist der Verdacht nicht von der Hand zu weisen, dass die Be­hörden involviert waren. »Die Staatsanwaltschaft Lübeck wird diesen Fall nicht aufklären, weil sie sich selbst verteidigt«, ist die ehemalige Rechtsanwältin von Safwan E., Gabriele Hei­necke, über­zeugt.

Angesichts der undurchsichtigen Verhältnisse und der Erfahrungen mit der NSU-Aufarbeitung kann nur ein Untersuchungsausschuss im Landtag von Schleswig-Holstein für Aufklä­rung sorgen. Dazu ist es auch nach 16 Jahre nicht zu spät. Die Täter müssen zur Verantwortung gezogen werden, denn Straflosigkeit, das weiß man aus Staaten mit größeren Menschen­rechts­­problemen, schafft den Boden für die nächste Tat. Der Lübecker Anschlag hat deshalb nicht nur unter den Hausbewohnern seine Opfer gefordert. Er hat auch denen, die später im Namen des NSU gemordet haben, unmissverständlich signalisiert: Wer Flüchtlinge und Migranten umbringt, muss nicht unbedingt mit Strafverfolgung rechnen.

Wolf-Dieter Vogel ist Journalist und Publizist und lebt in Berlin. Zum Prozessbegin gegen Safwan E. hat er 1996 das Buch »Der Lübecker Brandanschlag« herausgegeben.