Skip to main content

25 Jahre rassistischer Brandanschlag Lübeck

Initiative Hafenstraße ’96 (Gastbeitrag)
Einleitung

Die Ereignisse der Nacht vom 18. Januar 1996 sind Teil unserer Geschichte. Eine Geschichte der Betroffenheit, des Nicht-Glaubenkönnens und des Widersprechens. Eine Geschichte des Gedenkens und des Anklagens. Und wir begreifen den Anschlag, die rassistischen Verhältnisse und alles, was daraufhin geschah, als einen politischen Prozess, dem wir uns als Antifaschisten*innen angenommen haben.“ (Hafenstraße’96: 2020)

Bild: Screenshot twitter

Zehn Menschen verloren in der Ostseestadt ihr Leben. Sie starben bei einem Brand in einer Geflüchtetenunterkunft in der Lübecker Hafenstraße. Dieser gilt als unaufgeklärter Brandanschlag mit der bisher höchsten Opferzahl – alles deutet darauf hin, dass Neonazis die Tat begangen haben. Eine Gruppe männlicher Neonazis aus Grevesmühlen wurde am Tatort kontrolliert und zunächst auch vernommen. Einer dieser Männer gestand später gegenüber einem Journalisten die Tat, revidierte dieses Geständnis aber später.1

Im Fall Lübeck wurde, ebenso wie bei den NSU-Morden oder bei den rassistischen Morden in Solingen, zunächst ein Opfer beschuldigt. Der Bewohner Safwan Eid wurde mehrfach angeklagt, inhaftiert und am Ende aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Trotz der Geständnisse der Tatverdächtigen wurden die Ermittlungen nicht wiederaufgenommen. Ein rassistisches Tatmotiv wurde nicht verfolgt – ein Vorwurf, mit dem die Lübecker Staatsanwaltschaft mehrfach konfrontiert wurde. Auch mit dem Vorwurf, dass ein V-Mann des Landeskriminalamts in den Fall verstrickt gewesen sei.2 Im Jahr 2000 versuchte die Anwältin von Safwan Eid vor dem Landesgericht eine Anklage gegen die vier Neonazis aus Grevesmühlen zu erzwingen, jedoch ohne Erfolg. Tatumstände und Brandursache bleiben bis heute unaufgeklärt – ebenso die Todesursache des Bewohners Sylvio Amoussou, der im Vorderhaus des Hauses ums Leben kam.

Doch die zivilgesellschaftlichen Forderungen zur Aufklärung des Falls und der Gründung eines Untersuchungsausschusses sind bis heute nicht verklungen – genauso wie die Kritik an dem fehlenden Aufklärungswillen staatlicher Organe. Mit den Skandalen um die NSU-Ermittlungen, der Verstrickung des Verfassungsschutzes und seiner Mitarbeiter sowie den neuen Erkenntnissen zu extrem rechten Netzwerken in Polizei und Bundeswehr ergeben sich auch für den Lübecker Fall neue Blickwinkel.

Hier wirft die Arbeit der Ermittlungsbehörden bereits viele Fragen auf: Beweismittel verschwanden, Aussagen wurden verfälscht, eine Leiche wurde zur Einäscherung freigegeben, obwohl noch keine Todesursache ermittelt worden war. Auffällig ist auch die Einseitigkeit der „Pannen“: Polizei und Staatsanwaltschaft ignorierten Spuren, die in Richtung Neonazis deuteten. Gleichzeitig ignorierten sie Aussagen, die eindeutig für die Unschuld des angeklagten Libanesen Safwan Eid sprachen. Spätestens die Aufarbeitung des NSU-Komplexes lehrt uns, die Gefahren einer „Täter-Opfer-Umkehr“ und der Nichtverfolgung von rassistischen Tatmotiven ernst zu nehmen. Nach wie vor sind zu viele Fragen zum Komplex „Hafenstraße“ ungeklärt. Deshalb müssen auch 25 Jahre nach dem tödlichen Brandanschlag mögliche Fehler der Ermittlungsbehörden konsequent aufgearbeitet werden.

Etablierung einer Erinnerungskultur

Weil ein Parlamentarischer Untersuchungsausschuss ein geeignetes Mittel sein kann, um die Vorgänge in Lübeck seit dem Brand im Januar 1996 aufzuarbeiten, hat unsere Initiative zum 25. Jahrestag die Online Petition #HafenstraßenMordUnvergessen ins Leben gerufen, mit der wir den Landtag von Schleswig-Holstein zur Einrichtung eines Untersuchungsausschusses auffordern.3 Wir sind der festen Überzeugung, dass eine Neubewertung der Erkenntnisse keine andere Schlussfolgerung zulässt, als die strafrechtlichen Ermittlungen wiederaufzunehmen und in einem neuen Strafprozess darüber zu entscheiden, ob die vier Neonazis aus Grevesmühlen für den zehnfachen Mord von Lübeck zur Verantwortung gezogen werden können.

Trotz dieser Forderung ist es uns als Initiative natürlich bewusst, dass wir vom Staat und den Behörden an dieser Stelle nicht viel erwarten können. Doch betrachten wir die Ereignisse der Nacht vom 18. Januar 1996 in Lübeck als Teil unserer Geschichte. Eine Geschichte des Verlustes geliebter Menschen, von Verletzungen, Angst, Traumatisierung, Betroffenheit, des Nichtglaubenkönnens und des Widersprechens. Eine Geschichte des Gedenkens und des Anklagens. Wir begreifen die Nichtaufklärung des Anschlags und der rassistischen Verhältnisse dahinter als unsere politische Aufgabe, der wir uns als Antifaschisten*innen stellen wollen. Wir sehen es als unsere Pflicht an, die Verstorbenen und Überlebenden des Lübecker Brandanschlags, aber auch die Opfer und Angehörigen von allen anderen rassistisch motivierten Anschlägen wie in Halle oder Hanau nicht zu vergessen und aus ihrem Leid etwas für die Kämpfe und Herausforderungen unserer Zeit zu lernen. Wir wollen nicht still sein, wenn Menschen rassistische Gewalt erfahren, sei es durch die Poli­zei oder durch rechten Terror. Denn der Hass gegenüber Geflüchteten und Migrant*innen ist nach wie vor tief in unserer Gesellschaft verwurzelt. Den Brandanschlag in der Lübecker Hafenstraße ordnen wir ein in eine Reihe rassistischer und extrem rechter Gewaltdelikte in den 1990er Jahren in Lübeck4 .

Es ist erschreckend, dass staatliche Ermittlungen immer wieder rassistische Tatmotive außer Acht lassen. Im Fall „Hafenstraße“ wurde die rassistische Gewalt der 1990er Jahre schlichtweg ausgeblendet, obwohl es hier sogar Teilgeständnisse von Neonazis gegeben hatte. So stehen wir als Initiative vor der Herausforderung, die Erinnerung an den rassistischen Brandanschlag wach zu halten, während die gesellschaftliche Empörung um das Ausmaß der Tat längst verklungen ist. Wir glauben, dass der Gedenkkultur heute auch von Seiten der Hansestadt Lübeck eine bedeutsamere Rolle beigemessen werden würde, wenn die Tat als rassistischer Brandanschlag (im juristischen Sinne) benannt worden wäre.

Um für die Etablierung einer Erinnerungskultur in Lübeck zu kämpfen, haben wir im Januar 2021 eine Erinnerungswoche organisiert. In Zusammenarbeit mit vielen Aktivist*innen, antifaschistischen Gruppen und anderen Gedenkinitiativen konnten wir verschiedene digitale Veranstaltungsformate anbieten, die auch weiterhin auf unserer Homepage zur Verfügung stehen.

Ein weiteres Kernstück unser Arbeit zum 25. Jahrestag ist eine umfangreiche Online-Dokumentation des Tatgeschehens, der Ermittlungen, der Prozesse und der Berichterstattung, die auf unserer Homepage nach und nach veröffentlicht werden. Ziel dieser Dokumentation ist es, das gesammelte Wissen um den rassistischen Brandanschlag in der Lübecker Hafenstraße einer breiten Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Dazu zählt: Eine Chronologie der wichtigsten Ereignisse, Details zur Brandnacht, den Todesopfern, den Verletzten und Wissen zum persönlichen Hintergrund und möglicher Motivlagen der vier Tatverdächtigen. Im Rahmen der Online-Aufarbeitung alter Materialien gelang es uns, die Tatnacht zu rekonstruieren und herauszuarbeiten, dass den vier Tatverdächtigen aus Grevesmühlen - im Gegensatz zur Behauptung der damaligen Staatsanwaltschaft - doch genug Zeit für die Legung des Brandes geblieben wäre.

Eine Karte - ergänzt durch eine erklärende Audiodatei - zeichnet die Aufenthaltsorte der Neonazis in der Tatnacht nach. Somit blicken wir als Initiative voller Erwartungen und ein wenig erschöpft auf den 25. Jahrestag und die (digitale) Erinnerungswoche zurück. Trotz der eigenen Skepsis gegenüber des politischen Erfolgs einer Online-Petition sind wir am Ende froh diesen Schritt gemacht zu haben. Dadurch konnten wir viele Betroffene und Angehörige erreichen, zu denen wir vorher keinen Kontakt hatten. Für sie ist der gemeinsame Kampf um die Aufarbeitung des Tatgeschehens in der Brandnacht weiterhin von großer Bedeutung. Daher sehen wir es als Antifaschist*innen als unsere Aufgabe an, diesen Kampf an der Seite der Betroffenen zu führen. Niemand ist vergessen – auch 25 Jahre später nicht. 

Die Online-Dokumentation und weitere Informationen über unsere Initiative findet Ihr auf unserer Homepage: www.hafenstrasse96.org

  • 1Panorama – die Reporter (2016): Die Brandnacht. TV-Beitrag im NDR vom 19.01.2016, ndr.de/fernsehen/sendungen/panorama_die_reporter/Die-Brandnacht,sendung477120.html [28.11.2020].
  • 2Der Spiegel (1997): Brandanschlag. Britta und die Detektive, Zeitschriftenartikel vom 7.04.1997.
  • 3Rassistischer Mord in Lübeck – Tat und Ermittlungsfehler endlich aufklären! | WeAct (campact.de)
  • 4Avanti – Projekt undogmatische Linke (1997): Katholische Kirche von Neonazis niedergebrannt. Zeitschriftenartikel in: AIB 39/2.1997.