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Österreich: Die braunen Kirschenpflücker und der Mörder

Karl Öllinger
Einleitung

In Österreich wurden die besonderen Umstände, unter denen ein Häftling im April 2018 aus der Justizanstalt Garsten (Oberösterreich) nach einem Freigang abgetaucht ist, um sieben Wochen später auf einem Bauernhof in Sachsen-Anhalt von Zielfahndern aufgegriffen zu werden, bisher nicht wirklich öffentlich erörtert. Nur das Boulevard-Blatt „Kronenzeitung“ gab mit der Meldung, dass der „Prostituiertenmörder“ Gerhard S. beim „Kirschenpflücken“ auf einem Neonazi-Bauernhof gesehen wurde, einen knappen Hinweis darauf, wohin die Reise tatsächlich ging.

Bild: Screenshot Facebook

Gruppenbild in Görschen: Tino „Krafti“ K. (2. von rechts) posiert mit Freunden.

Der Neonazi-Bauernhof, den die „Kronenzeitung“ etwas ungenau in Sachsen verortete, liegt tatsächlich in Sachsen-Anhalt, und zwar in Görschen bei Naumburg. Ob der Bauernhof dort noch immer im Eigentum von dem Neonazi Philip Tschentscher steht, der als „Reichstrunkenbold“ widerliche antisemitische und neonazistische Lieder singt, ist unklar. Zwischendurch war Tschen­t­schers bäuerliches Leben in Görschen dadurch gestört worden, dass er eine dreijährige Haftstrafe wegen NS-Wiederbetätigung und Verstoß gegen das Waffengesetz in Österreich verbüßen musste.

Wie einige seiner Neonazi-Freunde aus Deutschland war Tschentscher vorher auf einem Bauernhof in Österreich aktiv gewesen. Im nach der Hausnummer 21 im Ortsteil Windern in der Gemeinde Desselbrunn in Oberösterreich benannten „Objekt 21“, haben österreichische Neonazis über mehrere Jahre hinweg einen Bauernhof als regionalen Stützpunkt und Rückzugsort genutzt.1 Die Kirschen werden es aber wohl eher nicht gewesen sein, die Gerhard S. bis nach Görschen geführt haben. Warum aber landet ein Prostituiertenmörder, der nach über zwanzig Jahren Haft bei einem die Haftentlassung vorbereitenden Freigang in Oberösterreich abtaucht, auf einem Neonazi-Bauernhof in Sachsen-Anhalt? Dafür gibt es zwei denkbare Erklärungen:

Die eine knüpft an seiner Vergangenheit im Rotlicht-Milieu an. Im Dezember 1996 wurde Gerhard S. verhaftet, weil er verdächtigt wurde, die Prostituierte Petra K. im Auftrag ihres Zuhälters Georg W. äußerst brutal ermordet zu haben. Die „Kronenzeitung“ schrieb am 31. August 1997 über die Tat: „Die Frau mußte sich im Keller eines Abbruchhauses niederknien, S(…) setzte ihr einen Revolver am Genick an. Nach einem Fehlversuch drückte er ein zweites Mal ab“.2 Gerhard S. und sein Auftraggeber Georg W. wurden in einem Geschworenenprozess in Jahr 1997 zu lebenslanger Haft verurteilt. Im Strafprozess kam kurz zur Sprache, dass Gerhard S. im Wiener Resselpark neben einer Schule eine Handgranate vergraben hatte. Ein Linzer, der in einem Wiener Park eine Handgranate vergräbt? Weshalb? Das wurde im Prozess ebenso wenig genauer beleuchtet wie der Umstand, dass sein Auftraggeber Georg W., der sich im Jahr 2001 in der Haft das Leben nahm, Kontakte zum Wiener Neonazi-Führer Gottfried Küssel hatte: „Fotos im Akt belegten seine Kontakte zu rechtsradikalen Kreisen. Sie zeigen den Waffennarren mit dem Neonazi Gottfried Küssel und bei Schießübungen vor einem Kleinkind“.3

Viel wahrscheinlicher als irgendwelche denkbaren, aber diffusen Neonazi-Beziehungen aus den 1990er Jahren ist ohnehin die Erklärung, dass der Mörder aus dem Rotlicht-Milieu in den letzten Jahren seiner Haft die Neonazi-Kameraden vom „Objekt 21“ kennengelernt hat, die ebenfalls einige Erfahrung im Rotlicht-Milieu haben. Einige der Neonazis vom „Objekt 21“ wurden nämlich, nachdem sie Anfang 2013 wegen ihrer kriminellen Aktivitäten aufgeflogen waren, in der Folge zu Haftstrafen wegen einer breiten Palette von Delikten verurteilt, die von Diebstahl, Raub, Körperverletzung, Erpressung, Drogen- und Waffenhandel, Brandstiftungen im Rotlicht-­Milieu bis hin zur NS-Wiederbetätigung reichten. Unter den Verurteilten waren auch Neonazis aus Thüringen wie Steffen Mäder von der „Hausgemeinschaft Jonastal“ (2014 zu drei Jahren Haft verurteilt) und Andreas P. aus Gotha, der „Mann fürs Grobe“, der mit seinen Aussagen einige seiner Kameraden belastet hatte (verurteilt zu drei Jahren, neun Monaten und zwei Wochen Haft).

Aus polizeilichen Unterlagen ging hervor, dass Andreas P. noch während der Untersuchungshaft aus dem Kreis seiner ebenfalls inhaftierten Neonazi-Kameraden massiv bedroht und alternativ mit einem lukrativen Angebot zum Schweigen gebracht werden sollte.

Jürgen Windhofer, der als eigentliche Chef von „Objekt 21“ galt, hatte schon während seiner Haft, die er zwischen 2010 und 2012 wegen NS-Wiederbetätigung im „Kampfverband Oberdonau“ in der Justizanstalt Suben in Oberösterreich verbringen musste, aus der Zelle und bei Freigängen die (kriminellen) Aktivitäten von „Objekt 21“ koordiniert und dafür Mithäftlinge begeistern können. Windhofer – das geht aus Aussagen von späteren „Objekt 21“-Aktivisten hervor – hat schon die alte Haftzeit für Bekehrungsversuche zur Neonazi-Ideologie genutzt und diese publizistisch über seine Facebook-Konten begleitet. Den Button „Freiheit für Wolle“, also für den NSU-Unterstützer Ralf Wohlleben, zeigte Windhofer zeitweilig auf seinem Facebook-Titelfoto.

Das „Objekt 21“ entwickelte sich vor und während der Haftzeit Windhofers – geför­dert durch dessen zahlreiche Freigänge – zu einem über die regionale Szene hinausreichenden Anlaufpunkt für Neonazis, wobei die kriminellen Komponenten bei den Aktivitäten des zunächst als „Kulturverein“ gegründeten braunen Projekts zunehmend an Bedeutung gewannen. Vor allem mit Steffen Mäder (Neonazi-­„Hausgemeinschaft Jonastal“ in Crawinkel) und Tino K. („Krafti“) gab es rege Kontakte. Beide waren beispielsweise in diverse Akti­vitäten von „Objekt 21“ eingebunden – vom „Escort-Service“ bis hin zu Einbrüchen und Brandanschlägen.

Gerhard S. tauchte im Frühjahr 2018 nach seinem heimlichen Abgang aus der Haftanstalt Garsten aber nicht in Thüringen auf einem Bauernhof auf, sondern in Sachsen-Anhalt. Das ist deshalb interessant, weil sich auch dort Neonazis von „Objekt 21“ versammelt hatten. Ein Foto, das ein früherer „Objekt 21“-Aktivist aus Oberösterreich im Dezember 2017 auf Face­book veröffentlichte, zeigt eine fröhliche, aus Österreichern und Deutschen gemischte Neonazi-Runde – bei Tino K. auf dem Bauernhof in Görschen. Freilich kann das Foto schon älter sein – der Bauernhof ist jedoch derselbe, auf dem Gerhard S. angeblich die Kirschen pflückte.

Fast alle der verurteilten Aktivisten von „Objekt 21“ sind mittlerweile aus der Haft entlassen worden, haben viel Freizeit und beschäftigen sich vermutlich mit ihren poli­tischen und beruflichen Perspektiven. Kirschenpflücken wird vermutlich nicht darunter sein.

(Der Autor Karl Öllinger ist Redakteur bei stopptdierechten.at und war bis 2017 Abgeordneter der Grünen zum Nationalrat)