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Meloni auf Migrantenjagd

Christian Jakob (Gastbeitrag)
Einleitung

Vor ihrer Wahl hatte die Anführerin der extrem rechten "Fratelli d’Italia", Giorgia Meloni, keine Zweifel gelassen: Die Flüchtlingszahlen würden sinken, wenn sie ins Amt käme. Mit einer „Seeblockade“ werde sie deren Ankunft verhindern. Seit acht Monaten ist sie nun im Amt. ­Die Ankunftszahlen sind hoch wie nie.

Foto: Ministerpräsidentin Giorgia Meloni (Italien) und Präsident Kai Saied (Tunesien) am 6. Juni 2023 in Tunis.
(Bild: Screenshot social media)

Ministerpräsidentin Giorgia Meloni (Italien) und Präsident Kai Saied (Tunesien) am 6. Juni 2023 in Tunis.

Seit acht Monaten ist sie nun im Amt. ­Die Ankunftszahlen sind hoch wie nie. Rund 85.000 Menschen sind seit Ende Oktober 2023 über das Mittelmeer nach Italien gekommen, im Schnitt gut 10.000 pro Monat. Zum Vergleich: 2022 waren etwa 5.000 im Monat gekommen, 2021 etwa 3.000. ­Allerdings zieht ein großer Teil der Ankommenden direkt weiter Richtung Frankreich, Deutschland oder Skandinavien.

Eine „Seeblockade“ aber gibt es nicht. Vor der hatte nicht nur der alte Innenminister und Lega-Chef Matteo Salvini gewarnt. Die sei juristisch und praktisch nicht umsetzbar. Umso heftiger geht Meloni seit Amtsantritt gegen die Seenotrettungs-NGOs vor. Diese wurden schon von den Vorgängerregierungen nach Kräften behindert. Einer im Mai 2023 veröffentlichten Auswertung von "Brot für die Welt" zufolge wurden 24 NGO-Rettungschiffe in der Zeit von 2016 bis 2022 insgesamt 1.116 Wochen lang blockiert und an ihrer Arbeit gehindert – durch Verweigerung des Einlaufens in einen Hafen einer Rettung, Entzug von Flagge oder Registrierung, Verbot des Auslaufens, Festsetzung der Crew oder Beschlagnahmung der Schiffe. Ein Großteil der Blockaden geht auf das Konto Italiens. Erst im August 2022 hatte der Europäische Gerichtshof geurteilt, dass die Festsetzung der Rettungsschiffe ohne triftigen Grund nicht rechtens ist. Die Blockaden gingen indes auch danach weiter.

Allerdings versuchte Meloni, die Schrauben weiter anzuziehen. Per Dekret hatte die Regierung im Februar verfügt, dass Rettungsschiffe nicht den nächsten sicheren Hafen –  etwa auf Sizilien –  anlaufen dürfen, sondern jenen ansteuern müssen, den die Regierung ihr zuweist. Auf dem Weg sind weitere Rettungen untersagt. Ansons­ten drohen enorme Bußgelder. Seither schickt Italien vor allem die größeren Rettungsschiffe in weit im Norden liegende Hafenstädte. Die NGOs sind überzeugt, dass sie so gezielt aus dem Einsatzgebiet ferngehalten werden sollen.

Serienweise wurden die Schiffe seither blockiert. Zuletzt traf es Anfang Juni 2023 die „Sea-Eye 4“ des Vereins "Sea-Eye", die im Hafen von Ortona an der Adriaküste lag. Sie durfte 20 Tage nicht wieder auslaufen – weil das Schiff nach der Rettung von 17 Menschen in der libyschen Such- und Rettungszone 32 weitere Menschen in der maltesischen Such- und Rettungszone an Bord nahm und nicht so schnell wie möglich den Hafen von Ortona angefahren ­habe, teilte "Sea-Eye" auf Twitter mit.

Die langen Anfahrten zu zugewiesenen, weit entfernten Häfen werden immer wieder dazu führen, dass wir auf dem Weg dorthin entscheiden müssen, ob wir auf weitere Notrufe reagieren. Natürlich tun wir das“, sagte Gorden Isler, Vorsitzender von "Sea-Eye". Dies führe dann zu dem Vorwurf, dass die Crew der ­Rettungsschiffe italienische Gesetze bräche. „Es ist ein weiterer, verwerflicher Versuch, die Seenotrettung und die Flucht selbst zu kriminalisieren.“

Dieser Versuch drückte die Ankunftszahlen allerdings nicht. Denn nur zehn Prozent der Ankommenden werden von NGOs gerettet. Die übrigen werden von Schiffen der Küstenwache an Bord genommen oder gelangen aus eigener Kraft an Italiens Küste. Salvini hatte versucht, entsprechende Einsätze der Küstenwache einzuschränken und war deshalb 2021 vor Gericht gelandet. Heute rettet die Küstenwache, anders als früher kommuniziert Italien dies aber nicht.

Auf dem Mittelmeer haben sich derweil einige Dinge geändert.

Libyen war seit Mitte des vergangenen Jahrzehnts erst von Italien, später dann auch von der EU als Handlanger in Sachen Migrationsabwehr aufgebaut worden. Die sogenannte dortige Küstenwache greift derzeit im Schnitt etwa 1.000 Menschen pro Monat auf dem Mittelmeer auf und bringt sie zurück in libysche Lager. Das geht schon seit 2016 so, nur dass zuletzt Malta und Italien immer offener dazu übergegangen waren, die libysche Küstenwache zu rufen, damit die Menschen nicht von europäischen Seenot-NGOs gerettet werden.

Libyen geht in seiner Erfüllungshilfe für den EU-Grenzschutz mittlerweile so weit, dass die Sicherheitskräfte Anfang Juni 2023 mit türkischen Bayraktar-Drohnen Treibstofflager und Unterkünfte von Schleppern in den Küstenstädten Zawiya und Zuwara bombardierten. Krankenhäuser berichteten dem Journalisten Mirko Keilberth nach den Drohnen-Angriffen von fünf Toten und mehreren verletzten Migranten, die in Unterkünften am Strand auf die Abfahrt nach Europa gewartet hatten. Man wolle „Westlibyen von Menschen- und Drogenschmugglerbanden säubern“, sagte demnach ein Sprecher der libyschen Armee in Tripolis. Dabei seien sieben Boote zerstört worden.

Da verwundert es kaum, dass neben Schiffen, die in der Türklei und Ägypten in See stechen, das Nachbarland Tunesien heute Libyen als Hauptroute für Schutzsuchende auf dem Weg nach Europa abgelöst hat. Zeitweise kamen im April 2023 3.000 Menschen pro Tag aus Tunesien in Italien an. Mit der Zunahme der Überfahrten stiegen auch die Todeszahlen im zentralen Mittelmeer: 1.030 Menschen starben dort von Anfang des Jahres bis Mitte Juni 2023 – rund ein Drittel mehr als im Vorjahreszeitraum.

Dazu beigetragen haben auch Massenverhaftungen und Pogrome gegen Menschen aus den subsaharischen Staaten in Tunesien, zu denen der Präsident Kais Saied regelrecht angestachelt hatte. „Horden irregulärer Migranten aus Subsahara-­Afrika“ seien nach Tunesien gekommen, „mit all der Gewalt, der Kriminalität und den inakzeptablen Praktiken, die damit einhergehen“, hatte er im März 2023 behauptet. Dies sei eine „unnatürliche“ Situation und Teil eines kriminellen Plans, der darauf abziele, „die demographische Zusammensetzung zu verändern“ und Tunesien in „ein weiteres afrikanisches Land zu verwandeln, das nicht mehr zu den arabischen und islamischen Nationen gehört“.

Die völkische Haltung wiederum erschwert die Ausgangslage für Meloni und die EU insgesamt, die Tunesien wieder als das Bollwerk gegen die Flüchtlinge aufbauen wollen, das es vor allem in den Zeiten des 2011 gestürzten Diktators Ben Ali war. Anfang Juni 2023 reiste Meloni deshalb nach Tunesien und bot Kais Hilfe bei der Erfüllung der Voraussetzungen für neue IWF-Kredite, auf die Tunesien dringend angewiesen ist. Kais kann weder ­Importe finanzieren noch Staatsschulden bedienen.

Die europäischen Regierungen fürchten, dass nach einem Zusammenbruch der tunesischen Staatsfinanzen auch zunehmend Tunesier:innen versuchen könnten, über das Mittelmeer nach Italien zu gelangen. Deren Anteil lag zuletzt bei nur etwa sieben Prozent der Ankommenden, in den vergangenen Jahren stellten sie zeitweise die größte Gruppe. Doch inwieweit und zu welchem Preis Tunesien beim EU-Grenzschutz mitziehen wird, ist offen. Brüssel will das Land seit Langem am liebsten als Standort für Asylverfahrenslager aufbauen, in die vor allem auf dem Mittelmeer Gerettete gebracht werden können, um dort auf ­eine Prüfung ihres Asylantrags zu warten. ­Tunesien lehnt dies bisher strikt ab.

Im Vorfeld der Beratungen für das Gemeinsame Europäische Asylsystem durch die EU-Innenminister am 8. Juni 2023 hatte Italien deshalb mehrfach deutlich gemacht, dass es weniger Interesse an den vorgesehenen Asylverfahren an den Außengrenzen – also auf EU-Territorium – hat, sondern vor allem verhindern will, dass die Flüchtlinge sich überhaupt auf den Weg machen können. Mit der Haltung ist die extrem rechten Regierung in Rom nicht allein: Österreich, Polen, Ungarn und andere sehen es genauso.

Italien wird allein gelassen“, sagte Meloni und spricht immer wieder vom „emergenza“, dem Notstand also. Nach einem Telefongespräch des österreichischen Innenministers Gerhard Karner und seines Amtskollegen Matteo Piantedosi hatten die beiden erklärt, dass sie die Pläne der EU-Kommission für einen Verteilmechanismus für „erfolglos“ halten. Stattdessen sollte die EU Initiativen verstärken, die darauf abzielen, „die Abfahrten zu stoppen und die Rückführungen zu verstärken“. Brüssel soll also mehr Geld rausrücken, um Tunesien dafür zu bezahlen, die Flüchtlinge aufzuhalten und damit Italien seine Abschiebungen – derzeit sind es rund 6.000 pro Jahr – steigern kann. Dass sie die Aussicht auf entsprechende Zahlungen – und die viel höheren Covid-Wiederaufbauhilfen – nicht untergraben will, ist neben der Angst vor juristischen Schwierigkeiten wohl der zweite Grund dafür, dass Meloni vor der See-blockade zurückschreckt – und in Richtung EU gut Wetter macht.

Die Sperrung der Milliarden für Viktor Orbán wegen dessen Demokratieabbau hat sie mit durchgewunken und als Bundeskanzler Olaf Scholz Meloni Anfang Juni 2023 besuchte, herrschte Harmonie: Scholz lobte Italien als „verlässlichen Freund“, mit dem man „ausgezeichnete, enge Beziehungen“ pflege. Und Meloni lobte „die intensive Dynamik“ der Beziehungen. Im Herbst 2023 ist ein Regierungstreffen der beiden Länder geplant.