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Zur Situation in Ungarn

Einleitung

Karl Pfeifer im Interview

Bild: attenzione-photo.com

Unter dem Motto "day of honour" versammeln sich am 10.02.2007 über 1000 Neonazis aus ganz Europa auf dem Budapester Heldenplatz. Sie gedenken der letzten großen Schlacht der ungarischer Pfeilkreuzler, Waffen-SS und Wehrmachtssoldaten gegen die Rote Armee im Jahre 1944.

Welche rechten bzw. extrem rechten Parteien gibt es im ungarischen Parlament? Wie haben sich diese entwickelt und welche Auswirkungen hat dies auf das Parteienspektrum?

Es gibt eine völkische Partei die jetzt Regierungspartei ist – FIDESZ-KDNP. Diese gründete sich kurz vor der Wende, also vor 1990, als eine linksliberale und antiklerikale Partei. Sie hat sich im Laufe der Zeit gewandelt und wurde zu einer pro-Klerikalen und völkischen Partei. Nun muss man unterscheiden. Nicht alle FIDESZ-Anhänger und -Politiker sind völkisch, aber die Ideologie ist es und so haben viele keine Berührungsängste mit den Rechtsextremen, so lange diese sie nicht gefährden. Dadurch entsteht ein eigenartiges Verhältnis z.B. zu der rechtsextremen »Jobbik«. Deren Gründer, Gabor Vona, war in einem von FIDESZ gegründeten sogenannten »bürgerlichen Kreis« aktiv und hat sich dort entschlossen, seine eigene Partei zu gründen. Dies ist ihm zusammen mit weiteren Intellektuellen 2003 gelungen. »Jobbik« ist nationalsozialistisch und versucht mit allen modernen Mitteln, hauptsächlich, aber nicht nur, die Jugend zu erreichen. Im Moment hat die FIDESZ eine 2/3-Mehrheit im ungarischen Parlament und »Jobbik« ist mit 17 Prozent vertreten. D.h. insgeamt sind 80 Prozent des Parlaments von völkischen oder nationalsozialistischen Politikern besetzt.

Gibt es thematische Schwerpunkte die sich auch anhand von Strategien und Aktionsformen äußern? Zum Beispiel hat in Deutschland die Gründung der »Magyar Gárda« (Ungarische Garde) kurzzeitig für Aufsehen gesorgt.

Die »Ungarische Garde« ist eine paramilitärische Organisation, die 2007 von Gabor Vona gegründet wurde. Damals wurden die ersten Mitglieder vor dem Palast des Präsidenten der Republik vereidigt. Der ehemalige Verteidigungsminister, Lajos Für, hat diesen Eid abgenommen und die drei historischen Kirchen, die katholische, die calvinistisch-reformierte sowie die evangelische waren durch ihre Geistlichen, die die Fahne der »Ungarischen Garde« geweiht haben, vertreten. Als Viktor Orbán noch in der Opposition war, meinte er in einem internen Kreis, er würde der »Ungarischen Garde« zwei Ohrfeigen geben und dann würden sie nicht mehr existieren. Die Garde wurde zwar vom Gericht verboten, aber sie funktioniert weiter. Sie gibt sich immer wieder mal einen neuen Namen und wird eher stärker. Die paramilitärischen Garden sind existent.

In Ungarn versucht die Rechte immer einen Bezugspunkt in der Geschichte des Landes herzustellen. Und für die FIDESZ ist dieser historische Bezugspunkt das Horthy-System. Dies war kein faschistisches System, Sozialdemokraten, antifaschistische Klein-Parteien und Gewerkschaften waren, bis zum Tag der Besatzung durch die deutsche Wehrmacht, legal. Es war aber keine Demokratie, sondern vielmehr ein autokratisches, halbfeudales System. Auf diese Vergangenheit bezieht sich FIDESZ.

Die »Ungarische Garde« und auch »Jobbik« funktionieren mit »antikapitalistischer« Agitation. In Unterscheidung zum »raffenden« und »schaffenden« Kapital, wobei das »raffende, internationale Finanzkapital« natürlich in »jüdischen Händen« ist. Da wird eine ironische Bemerkung des israelischen Staatspräsidenten Peres, der vor drei Jahren auf einer Tagung von Immobilienhändlern in Tel Aviv auf hebräisch eine Rede hielt und lächelnd gesagt hat, »wir kaufen Mannhattan auf, wir kaufen Polen auf, wir kaufen Rumänien auf und wir kaufen Ungarn auf«, für diese Agitation benutzt. Es gab keinen Aufschrei, weder in Manhattan, noch in Rumänien oder in Polen – dafür aber in Ungarn. Die Aussage wurde ins englische übersetzt, auf der Internetvideoplattform »YouTube« veröffentlicht und die Empörung reichte bis in die Mitte der Gesellschaft.

Ungarn ist aber nicht antisemitischer als andere Länder, wie Meinungsforschungsumfragen belegen. Aber was in Ungarn, im Unterschied zu anderen Ländern, auffällt, ist der Umstand, dass die Gesellschaft viel mehr dazu schweigt. Die ungarische Gesellschaft wurde während des Kádár-Regimes erzogen und dazu angehalten, den Mund nicht öffentlich aufzumachen. Die Leute haben sich daran gewöhnt, keine Stellung beziehen zu müssen. Von der liberalen Partei SDSZ, die nach der Wende sehr stark war, hieß es eben auch, dass es in Ungarn genauso Freiheit für Nazi-Diskurse geben muss. Diese Freiheit ist mittlerweile erreicht. Somit spielen der antisemitische und auch der antiziganistische Diskurs eine große Rolle. In den Jahren 2008/2009 wurden acht »cigány« (dieser Begriff steht für »Zigeuner« und ist in Ungarn von der »cigány«-Minderheit akzeptiert und wird weitgehend benutzt) ermordet. Vier Männer wurden daraufhin voriges Jahr festgenommen und sind noch immer in Haft. Die verdächtigen Täter leugnen natürlich jede Teilnahme. Einer dieser Festgenommenen hat als 15-jähriger Skinhead die Synagoge in Debreczen geschändet. Die Polizei hat ihn daraufhin festgenommen, verhört und dann festgestellt, dass diese Tat keinen rechtsextremen Hintergrund hat und der Täter lediglich betrunken war. Das ist leider ein typischer Umgang mit solchen Fällen in Ungarn. Und hier gibt es durchaus noch eine Reihe an Beispielen.

Bleiben wir beim Antiziganismus. Es gibt natürlich gesellschaftliche Probleme. Und es ist klar, die »cigány« werden und wurden diskriminiert, auch während der Kádár-Zeit. Offiziell herrschte zwar Gleichberechtigung, doch in der Praxis gab es häufig Apartheid. In einigen Ortschaften wurden »cigány« separat angesiedelt und durften z.B. manche Lokale nicht betreten und bekamen harte und schlecht bezahlte Arbeit. Mit der Wende kam das neue System und es wurde deutlich, dass der Großteil der ungarischen Industrie nicht mit der westlichen konkurrieren konnte. Das Resultat war, dass die ersten, die auf der Straße landeten, die »cigány« waren. Wenn ein wenig Land vorhanden ist, kann dies bewirtschaftet werden, anders ist für viele ein Überleben aber auch nicht möglich. Ich sehe das als komplexes, gesellschaftliches Problem, das nicht gelöst wurde – vielleicht auch im Moment gar nicht lösbar ist. Man müsste mit humanen Investitionen erreichen, dass allen die Möglichkeit zur Schulbildung offen steht und eine Grundversorgung gewährleistet ist. Es gibt in Ungarn immer noch hungernde Kinder und große soziale Probleme. Selbstverständlich sind »Jobbik« und andere Rechte daran interessiert, diese Probleme und die real vorhandenen Spannungen für sich nutzbar zu machen.

Gibt es einen rechten Einfluss in kirchlichen bzw. religiösen Zusammenhängen?

Und wie! Gerade die katholische, aber insbesondere die calvinistisch-reformierte Kirche treten hierbei in Erscheinung. Letztere duldet z.B. den Pfarrer Lóránt Hegedüs Jr., der sich ganz offen antisemitisch äußert und auch schon den Holocaust-Leugner David Irving zu einer Buchvorstellung in seine Kirche eingeladen hat. Auf Demonstrationen tritt er mit antisemitischen Parolen auf. Hegedüs Jr. propagiert die Grenzen »Groß-Ungarns« und die Kirche kann fast nichts dagegen machen, weil ein großer Teil ihrer Gläubigen so gesinnt ist. Das Gleiche gilt im übrigen auch für die katholische Kirche. Beide grenzen sich in keiner Weise von den Rechten ab, die z.B. behaupten Jesus sei kein Jude gewesen oder sich auf einen alten ungarischen Glauben beziehen, der in Ungarn vor dem Christentum praktiziert wurde. Und obwohl dies ja ihrer eigentlichen Praxis widerspricht, verhalten sich die Kirchen dazu nicht. Die katholische Kirche hielt in der Basilika in Budapest einen Gedenkgottesdienst für Trianon ab, an dem alle rechten Parlamentarier teilnahmen. Dort ließen sie auch den Präsidenten der jüdischen Gemeinde sprechen. Als dieser anfing auf hebräisch zu beten, verließen die Rechten die Kirche und davor kam es zu antisemitischen Sprechchören. Das ist Ungarn. Darüber hinaus sind sie enorm beleidigt, wenn die ausländische Presse ihnen das entgegen hält.

Hat die Hauptbetroffenengruppe überhaupt eine gesellschaftliche Lobby?

Die Hauptbetroffenen sind die »cigány« und deren Lobby ist in Ungarn sehr klein. Es gibt einige wenige, aber eine große und vor allem einflussreiche Lobby ist nicht da. Für die wenigen Engagierten ist die Unterstützung der »cigány« nicht ungefährlich. Und es ist auch nicht absehbar, wie sich diese spannungsgeladene Situation weiter entwickeln wird.

Gibt es Kontakte zu deutschen Neonazis?

Es kommen viele deutsche Neonazis nach Ungarn. In Budapest findet jedes Jahr am zweiten Samstag im Februar der »Tag der Ehre« statt. Dort hat schon der NPD-Vorsitzende Udo Voigt gesprochen, aber es kommen auch englische sowie andere Neonazis und marschieren dort gemeinsam auf. An diesem Tag wird der Waffen-SS und ihrer ungarischen Satelliten gedacht, die aus der Budapester Burg im Februar 1945 ausgebrochen sind. Die meisten wurden dabei von der Roten Armee erschossen. An diese »Helden der Waffen-SS« soll gemeinsam gedacht werden.

Würdest du einen Blick in die Zukunft wagen?

Nein, das wage ich nicht. Ich bin davon überzeugt, dass niemand aus dem Ausland oder der EU nach Ungarn kommen könnte, um deren Probleme zu lösen. Das geht nicht. Jede Gesellschaft muss ihre eigenen Probleme lösen. Und eines der Hauptprobleme ist, dass die ungarische Elite es noch nicht begreift, dass diese rassistische und antisemitische Atmosphäre, nicht nur von Linken, sondern ebenso von bürgerlichen Kräften im Westen nicht gerne gesehen wird. Vielmehr glauben die meisten immer noch, dass sie genauso weitermachen können wie bisher.

Vielen Dank für das Gespräch.

Zum Autor:
Karl Pfeifer, geb. am 22. August 1928 in Baden bei Wien, ist ein österreichischer Journalist. Seit Anfang der 1990er Jahre arbeitet er als Wiener Korrespondent des israelischen Radios, als freier Journalist des monatlich erscheinenden antifaschistischen Londoner Magazins »Searchlight« und der Budapester Wochenzeitung »Hetek«. Pfeifer gehört auch dem Kuratorium des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes an.

Im Jahr 2008 produzierte Mary Kreutzer für die »Gesellschaft für kritische Antisemitismusforschung« einen Dokumentarfilm über sein Leben: »Zwischen allen Stühlen. Lebenswege des Journalisten Karl Pfeifer«.

Aktuelles zur extremen Rechten in Ungarn unter: http://pusztaranger.wordpress.com