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Wahnvorstellungen in der (Corona) Krise

Olaf Kistenmacher
Einleitung

Bei den Coronaleugner-Demonstrationen kommt alles zusammen: extreme Rechte, „Querdenker“, Esos und auch Linke, neue Verschwörungsnarrative und alte antisemitische Phantasmen.

Beliebte Holocaustverharmlosung bei Impfgegner_innen: Ein gelber Stern mit der Aufschrift „Ungeimpft“.

Nicht alle sprechen es so offen aus wie Sucharit Bhakdi, der ehemalige Bundestagskandidat der Partei „Die Basis“, der im April 2021 in einem Interview sagte, „das Schlimme an den Juden“ sei: „Sie lernen gut. Es gibt kein Volk, das besser lernt als sie. Aber sie haben das Böse jetzt gelernt – und umgesetzt.“1 Bhakdi wurde wegen Volksverhetzung angezeigt. Aber die Staats­anwaltschaft Kiel stellte im November 2021 die Ermittlungen mit der Begründung ein, die Kritik habe sich „vornehmlich gegen den Staat Israel“ gerichtet und dessen Politik „zur Eindämmung der Covid-19­-Pandemie“ gemeint. Die Generalstaatsanwaltschaft Schleswig hat allerdings kurz darauf die Ermittlungen wieder aufgenommen.

Große gesellschaftliche Krisen sind Hochphasen für Verschwörungsideologien und Antisemitismus. Das wird seit 2008 deutlich, seitdem die globale ökonomische Krise nicht mehr zu übersehen ist, und hat erneut die Corona-Pandemie mit ihren politischen Gegenmaßnahmen gezeigt. Immer wenn in das Leben der Mehrheit etwas einbricht, das unerwartet war und ihre Existenz bedroht oder sie verängstigt, wittern Verschwörungsideolog*innen ihre Chance und drängen an die Öffentlichkeit. Die „Theorien“, die sie verbreiten, versprechen viel und werden deswegen auch gern geglaubt: Zunächst einmal entlasten sie davon, sich mit strukturellen Ursachen von gesellschaftlichen Problemen zu beschäftigen. Stattdessen soll eine kleine Gruppe von „bösen Mächtigen“ hinter der schlechten Entwicklung oder dem Unglück stecken. Zudem bieten Verschwörungsideologien ein exklusives Wissen. So kann man sich als Mitglied eines auserwählten Kreises fühlen, der mehr weiß als der Rest der Menschheit. Gleichzeitig zeigen Verschwö­rungsideologien, wohin mit dem ganzen Unmut und der Wut. Denn sie benennen immer eine kleine Gruppe, die für alles verantwortlich sein soll. Bei Aufmärschen der Coronaleugner ist es mal „die Regierung“, mal der Epidemologe Christian Drosten, mal Bill Gates oder auch Georges Soros. Und immer wieder wird mal offen, mal dunkel raunend auf „die Juden“ oder einen „jüdischen Einfluss“ verwiesen.

Verschwörungsideologien sind nicht immer offen antisemitisch. Aber dass sie zu antisemitischen Weltbildern tendieren, hat historische Gründe. Denn Jüdinnen und Juden wird seit Jahrhunderten nachgesagt, sie würden ein Doppelleben führen, im Verborgenen agieren und über dunkle Mächte verfügen, über die sonst keine andere Gruppe verfügt. Mit der weltweiten Verbreitung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung wurden diese alten Stereotype mit moderneren Weltbildern verschmolzen, die, wie der US-ameri­kanische Marxist Moishe Postone 1979 in seinem Aufsatz „Antisemitismus und Nationalsozialismus“ ausführte, die Krisenphänomene des Kapitalismus scheinbar erklären sollten.2

Von „Juden“ hieß es schon vor 200 Jahren, sie wären in der Lage, auf unsichtbare Weise andere Menschen zu beherrschen, die öffentliche Meinung zu lenken und Kapitalströme zu beeinflussen. Für die besessensten Antisemiten waren „die Juden“ diejenigen, die den Kapitalismus in die Welt gebracht haben sollen. Die etwas weniger starken Antisemiten glaubten, „Juden“ gehörten quasi von Geburt an immer zu den Ausbeutern, Krisengewinnern und Profiteuren.

Mal mehr, mal weniger offen antisemitisch

Verschwörungsideologien hört man nicht nur bei den Coronaleugnerdemos. Sie wurden im vergangenen Jahr auch im Namen der Katholischen Kirche verbreitet. Mehrere Bischöfe veröffentlichten Anfang Mai 2020 die Erklärung „Ein Aufruf für die Kirche und für die Welt an Katholiken und alle Menschen guten Willens“. Darin hieß es über die Anti-Pandemie-Maßnahmen, die verschiedenen Regierungen wollten „der Gesellschaft dauerhaft Formen inakzeptabler Freiheitsbegrenzung aufzwingen, die Menschen kontrollieren und ihre Bewegungen überwachen. Das Auferlegen dieser unfreiheitlichen Maßnahmen ist ein beunruhigendes Vorspiel zur Schaffung einer Weltregierung, die sich jeder Kontrolle entzieht“. Es drohe, hieß es weiter, „eine verabscheuungswürdige technokratische Tyrannei“, in der „Menschen, deren Namen und Gesichter man nicht kennt, über das Schicksal der Welt entscheiden können, indem sie uns in eine virtuelle Wirklichkeit verbannen“. Die Katholische Kirche distanzierte sich noch am folgenden Tag.3 Doch die Bischöfe, die den offenen Brief unterzeichnet hatten, blieben in Amt und Würden. Von „Juden“ war in dem ganzen Text keine Rede. Aber wer nur einmal von der antisemitischen Wahnidee einer „jüdischen Weltverschwörung“ gehört hat, erkennt die Bildersprache wieder.

Offen antisemitisch sind in Deutschland heute nur Wenige. Selbst „Neue Rechte“ verwahren sich dagegen, als judenfeindlich benannt zu werden. Dafür dass sie sich nicht offen äußern, bestehen in einigen Ländern juristische Gründe. Es gab aber schon vor 1945 für Antisemiten Gründe, bestimmte Codes zu nutzen, statt offen zu hetzen. Denn durch eine eigene Sprache, die nicht alle sofort verstehen, schafft sich eine Gemeinschaft von Gleichgesinnten. Wie das funktioniert, analysierte Theodor W. Adorno anhand von faschistischen Reden in den USA während des Zweiten Weltkriegs: „Ein Agitator sagt zum Beispiel: ‚Jene dunklen Mächte, Sie wissen schon, wen ich meine‘, und die Zuhörer verstehen sofort, daß seine Bemerkungen gegen die Juden gerichtet sind.“ Die Zuhörer*innen würden so „als eine In-Group behandelt, die schon alles weiß, was der Redner ihr sagen will, und die noch vor jeder Erklärung mit ihm übereinstimmt“.4 Die gleiche Funktion haben heute auf rechten Internetforen die Memes. Sie dienen „als eine Art ‚Erkennungszeichen‘“, schreibt Veronika Kracher in ihrem Buch über die Incels. „Nicht selten“ beklagten sich Rechte oder Incels im Netz, wenn eine neue Meme-Kreation „von ‚Normies‘ entdeckt und adaptiert“ worden ist.5

Schatten der Vergangenheit

Mittlerweile berüchtigt sind die gelben Sterne auf Coronaleugnerdemos. Sie sollen an die nationalsozialistischen Kennzeichen für Menschen erinnern, die jüdisch waren oder nach der Nazi-Ideologie als „jüdisch“ galten. Statt des Wortes „Jude“ steht dort nun „ungeimpft“ oder „Impfgegner“. Die Gleichsetzung von irgendeiner Politik mit der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik hat eine lange Geschichte.

In Deutschland ist es gerade auch für liberale oder linke Milieus bis heute verlockend, den jüdischen Staat mit Nazi-Deutschland gleichzusetzen. Das ist übrigens auch Sucharit Bhakdis Meinung. Er sagte in dem bereits zitierten Interview: „Das Volk, das geflüchtet ist aus diesem Land, aus diesem Land, wo das Erzböse war, und haben ihr Land gefunden, haben ihr eigenes Land in etwas verwandelt, was noch schlimmer ist, als Deutschland war.“6 Mit solchen Gleichsetzungen wird die Shoah relativiert. Aus dem Staat, der der Staat der Überlebenden der Shoah ist, wird so ein Staat der Täter gemacht, die genauso agierten wie die Nazis.

Wenn sich Deutsche gelbe Sterne anheften, treiben sie die Relativierung noch weiter. Nicht nur wird die Regierung der Bundesrepublik zu einer „Coronadiktatur“ erklärt und mit dem Nationalsozialismus gleichgesetzt. Diese Deutschen selbst setzen sich mit den Opfern der Nazis gleich. Das ist schon keine Relativierung der Shoah mehr, das ist eine Trivialisierung. Und sie hat für nichtjüdische Deutsche eine entlastende Funktion. Denn ob es ihnen bewusst ist oder nicht: Wenn die gesundheitspolitischen Maßnahmen so schlimm wären wie das einmalige Verbrechen in der Menschheitsgeschichte, dann muss die Shoah heute keine Bedeutung mehr haben. Diese Trivialisierung schließt nahtlos an das Gerede von Köpfen der AfD und der „Neuen Rechten“ an, in Deutschland würden eine „Erinnerungsdiktatur“ und ein „Schuldkult“ herrschen, sowie ihren Versuchen die Shoah zu einem „Vogelschiss“ in der Geschichte zu erklären.

Diese beiden Motive des modernen Anti­semitismus – die Schuldabwehr und die Verschwörungsideologien – kommen bei den Coronaleugnern und „Querdenkern“ zusammen. Dass sich bei diesen Aufmärschen nicht nur bekannte (extreme) Rechte versammeln, sondern auch Personen, die zu alternativen Milieus zählen oder in der linken Szene zu Hause waren, darf nicht überraschen. Denn die Schuld­abwehr prägt mindestens seit Ende der 1960er Jahre den Antisemitismus von links. Und gegen Verschwörungsideologien war die Linke leider noch nie gefeit. Wer sich noch an die Stimmung nach 9/11 erinnert, wird es wissen. Was dagegen helfen könnte? Leider keine Spritze.

Olaf Kistenmacher hat im Sommer 2021 die Broschüre „Ausgesprochen unausgesprochen. Latenter Antisemitismus und Erinnerungsabwehr innerhalb der Neuen Rechten“ veröffentlicht (online unter: prisma.online/wp-content/uploads/prisma_expertise2_web.pdf).