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Von „alten Bekannten“ aus der militanten Neonazi-Szene

Einleitung

Es gibt hunderte - vermutlich gar tausende - Neonazis, die sich aus der „aktiven“ Szene zurückgezogen haben und heute virtuell und unter Freunden ihren Herrschafts- und Gewaltfantasien freien Lauf lassen. Viele von ihnen sind „tickende Zeitbomben“, deren Taten sich nicht vorhersehen und verhindern lassen.

Der Sprengsatzleger Stephan Kronbügel aus Hamburg (rechts).

Hamburg-Veddel 2017

Am 18. Dezember 2017 explodierte ein Sprengsatz auf einem Bahnsteig im Bahnhof des Hamburger Stadtteils Veddel. Wider­sprüchlich sind die Angaben darüber, ob er mit Schrauben und Nägeln präpariert war oder nicht. Die Polizei spricht davon, dass für Personen in unmittelbarer Nähe der Explosion Lebensgefahr bestanden hätte. Glücklicherweise erlitt nur eine Person ein Knalltrauma.

Der Täter wurde von einer Überwachungskamera gefilmt und schnell ermittelt. Es handelt sich um den 51-jährigen Stephan Kronbügel, den die Polizei der Öffentlichkeit als einen Täter „aus dem Trinkermilieu“ präsentierte. Subtext: kein terroristischer Hintergrund und kein politisches Motiv vorhanden. Doch Kronbügel zählte in den 1980er Jahren zum gewalttätigen Kern der Hamburger Neonaziskinheads.1 Am 22. März 1992 ermordete er in Buxtehude zusammen mit dem späteren „Blood&Honour“-Aktivisten Stefan Silar den 53-jährigen Gustav Schneeclaus, nach­­dem dieser Adolf Hitler als „Verbrecher“ bezeichnet hatte. Silar war auf den am Boden liegenden Schwerverletzten eingesprungen, während ihn Kronbügel angefeuert hatte: „Mach ihn tot.“ Kronbügel erhielt eine Haftstrafe von 8,5 Jahren, in der er zunächst noch Kontakt zu einer neonazistischen Gefangenen-Hilfsorganisation hielt. Dann verschwand er vom Radar antifaschistischer Gruppen — und geriet 20 Jahre später mit dem Anschlag in Veddel wieder ins Blickfeld. Über seine Beweggründe gab Kronbügel bisher keine Auskunft. Im Stadtteil Veddel haben über 70 Prozent der Menschen einen Migrationshintergrund, das Motiv Rassismus ist nahe­liegend.

Köln 2015

Ein ähnlicher Lebenslauf lässt sich von Frank Steffen zeichnen. Am 17. Oktober 2015 stach der damals 44-Jährige mit einem 30 cm langen Messer an einem Wahlkampfstand in Köln auf die Oberbürgermeisterkandidatin Henriette Reker ein. Sie überlebte nur knapp. Steffen gab sich als Rassist und Frauenhasser zu erkennen. Er machte Reker für die Asylpolitik verantwortlich und mochte sowieso nicht akzeptieren, von einer Frau regiert zu werden. Den Mordanschlag hatte er sorgsam vorbereitet.

Frank Steffen ist aus der militanten Neonaziszene der 1990er Jahre bekannt. Er bewegte sich im Kreis der 1995 verbotenen Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei (FAP) und nahm um 1993 an neonazistischen Aufmärschen teil. Dann wurde es still um ihn — bis zum 17. Oktober 2015.2

Im Juli 2016 wurde Frank Steffen wegen versuchten Mordes zu einer 14-jährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Der psychiatrische Gutachter im Prozess bescheinigte ihm ein „trostloses und perspektivloses“ Leben. Augenscheinlich war der Mangel an sozialen Kontakten. In der Wohnung von Steffen hatte die Polizei ausschließlich seine Fingerabdrücke festgestellt. Und einzelne seiner Nachbar_innen  konnten keine Auskunft darüber geben, wer in der Wohnung lebte, in der Steffen 14 Jahre verbracht hatte.

Killer im virtuellen Raum

Rassismus und mörderische Fantasien beherrschen hunderte, wenn nicht tausende Männer. Doch wie groß ist der Schritt vom bloßen Gerede oder der virtuellen Killer-­Figur hin zur geplanten Messerattacke und zur Bombe? In den internen neonazistischen Szene-Foren inszenieren sich viele Personen als Kämpfer, die nach eigenem Empfinden nicht mehr aktiv sind, aber dennoch zu allem in der Lage und zu allem bereit seien.

Beispielhaft hierfür steht eine Diskussion, die Anfang 2005 in einem internen Bereich des Forums des „Freien Widerstands“ stattfand. Dort lernten sich drei Personen aus dem Rhein-Main-Gebiet kennen. Sie alle gaben an, als Neonazis unbemerkt und unauffällig in Frankfurt am Main, Mainz und im Taunus zu leben. Alle drei erzählten, Mitglied einer neonazistischen Gruppe gewesen zu sein, was glaub­­haft erscheint, da sie detailliert über Szene-­Geschehnisse berichten konnten. Alle sind zu diesem Zeitpunkt offensichtlich weit über 30 Jahre alt. Sie arbeiten in miesen Jobs, die sie nicht wegen der Arbeitsbedingungen und der schlechten Bezahlung als Zumutung empfinden, sondern wegen der Kolleg_innen, die nicht ihre Ansichten teilen, stets gegen sie intrigieren würden und mit denen sie dennoch auskommen müssten. Sie sind alleinstehend, was jedoch ausschließlich daran läge, dass es keine Frau gäbe, die ihren gehobenen Ansprüchen genügt.

Im vermeintlich geschützten virtuellen Raum bestärken sie sich beständig in ihrem Selbstbild aus Größen- und Verfolgungswahn und geben ihren Gewaltfantasien immer mehr Raum. Sie diskutieren über den Roman „Hunter“, der 1989 von einem US-amerikanischen Neonazi geschrieben wurde. Es ist die fiktive Geschichte eines rassistischen Massenmörders in den USA, der als „Lone Wolf“ vor allem Paare ermordet, in denen eine weiße Frau eine Beziehung mit einem schwarzen Mann führt, und dem es damit gelingt, die Gesellschaft in seinem Sinne zu spalten. Die Diskussion über das Buch ist deshalb bemerkenswert, da der Roman zu dieser Zeit nur bei wenigen Gruppen kursierte und eine deutsche Übersetzung erst seit 2009 vorliegt.3

Rassismus und Männlichkeitswahn

Die Kommentare der drei entgleisen völlig, wenn Rassismus und Männlichkeitswahn zusammen wirken. Auf die Nachricht der bevorstehenden Hochzeit von Heidi Klum mit dem schwarzen Sänger Seal im Mai 2005 ergießt sich eine Flut von Vorstellungen darüber, auf welche Art und Weise man beide umbringen, und was man zuvor mit ihnen machen würde. Man spürt die Kränkung und den Zorn darüber, dass sie, die verkannten Supermänner, ihr Leben in Trostlosigkeit verbringen, während sich die Superfrau, die ihnen vorbehalten sein sollte, einem schwarzen Mann zuwendet.

Die gekränkte Mannesehre äußert sich auch in fantasierten „Ehren“-Morden. Auf die Frage, was er tun würde, wenn eines Morgens ein junger Mann namens Murat aus dem Zimmer seiner 14-jährigen Tochter käme, schreibt „Felix Steiner“: „da würd ich ganz ruhig bleiben. ich würd pfeifend in den keller gehen und meine waffe holen, hoch kommen, meiner tochter vor seinen augen mit einem lächeln in den kopf schiessen und danach mit ihm zu seiner familie fahren um sie vor seinen augen wie hasen abzuknallen.“ Der Frank­furter Ex-NPD’ler „UR Detroit“ ist davon angetan und antwortet: „du bist mein mann! :d“.

Fantasien von Herrschaft und Vernichtung

Den „Angry White Men“ geht es in der Regel darum, sich als Herren im Lande und Stadtteil aufzustellen, alle „anderen“ zu beherrschen und zu erniedrigen. Das schließt nicht aus, dass auch sie zu Mördern werden können, doch die gezielte Tötung eines Menschen stellt für sie eine moralische Hemmschwelle dar. Neonazis haben diese Hemmschwelle nicht, auch nicht, wenn sie sich seit langer Zeit der aktiven Szene entfremdet haben. In ihrer Ideologie werden Gegner_innen vollkommen entmenschlicht. Die, die ihre Sozialisation in der Neonaziszene erfahren und diese Ideologie verinnerlicht haben, wollen ihre Feinde nicht bekämpfen, besiegen und unterwerfen, sondern wollen sie vernichten. So kann Frank Steffen tagelang die Ermordung einer Politikerin planen, ohne von Skrupeln eingeholt zu werden.

Die Taten von Frank Steffen und Stephan Kronbügel überraschen nicht, doch sie waren nicht vorherzusehen und zu verhindern. Für die antifaschistische Recherche waren die beiden nicht greifbar. Mit den Möglichkeiten und Ressourcen, die Antifaschist_innen zu Verfügung stehen, lassen sich nicht tausende Personen beobachten, die seit den 1990er Jahre die sichtbare Neonaziszene verlassen haben. Und selbst wenn: Woran hätte sich erkennen lassen können, dass Steffen die Ermordung einer Politikerin plant und Kronbügel einen Sprengsatz baut?

So bleibt die Arbeit anti­faschistischer Gruppen darauf beschränkt, die politische Geschichte der Täter aus dem vermeintlich unpolitischen „Trinkermilieu“ zu erzählen.