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Vigilantismus in Deutschland

Matthias Quent
Einleitung

Acht mutmaßlichen Rechtsterroristen aus Chemnitz und Umgebung mit einschlägigen ‚Karrieren‘ in der Neonazi-Szene wirft die Bundesanwaltschaft derzeit Anschlagspläne gegen Menschen aus Einwandererfamilien, Politiker_innen und Linke vor. Ihre Telegram-Chatgruppe hieß „Revolution Chemnitz“. Weniger umstürzlerisch als in dem konspirativen Messenger-Kanal gaben sich einige der Beschuldigten noch kurz vor ihrer Festnahme: Als Bürgerwehr inszenierte sich am 14. September ein Mob von 15 Rechtsextremen. Sie zogen bewaffnet mit Quarzsandhandschuhen und Elektroschockern durch Chemnitz, forderten Ausweise von Migran­t_innen, bedrohten und beleidigten diese rassistisch. Einen iranischen Staatsangehörigen verletzten sie mit einer Flasche am Kopf.

Bild: Screenshot twitter; AfD_LV-SH

Das extrem rechte Narrativ der Verteidigung dient zur Rechtfertigung politischer Aggressionen.

Die „Vikings Security“ (früher „Soldiers of Odin“), der Kölner Verein „Begleitschutz“, die „Steeler Jungs“ in Essen, die „Schutzzonen“ der NPD, die rechtsterroris­tische „Bürgerwehr Freital“ und die NSU-­Vor­gängerorganisation „Thüringer Heimat­schutz“ sind weitere Beispiele dafür, wie die extreme Rechte Narrative der Verteidigung zur Rechtfertigung ihrer rassistischen Aggressionen nutzt.

Dies geschieht durch Androhung oder Durchführung der Übernahme hoheitlicher Aufgaben, insbesondere der angeblichen Kriminalitätsprävention als Bürgerwehr. Dieses extrem rechte Narrativ ist anschlussfähig: Im Jahr 2016 konnten sich einer YouGov-­Umfrage folgend 29 Prozent der Deutschen vorstellen „in einer Bürgerwehr mitzumachen, die auch mit körperlicher Gewalt ihre Interessen schützt, wenn der Staat es nicht tut“.1

Nicht alle „Bürgerwehren“ sind (extrem) rechts oder rassistisch motiviert, insbesondere die gleichnamigen historischen Traditionsvereine haben in der Regel keine gesellschaftspolitische Agenda. Viele Bürgerwehren bleiben weitgehend virtuelle Inszenierungen in sozialen Netzwerken. Doch vor allem nach kriminellen Ereignissen mit Beteiligung von Migrant_innen treten diese Aktionsformen verstärkt auf, so beispielsweise nach den Straf- und Gewalttaten der Kölner Silvesternacht oder dem Todesfall in Chemnitz. Teilweise erfindet die extreme Rechte auch Vorfälle, um ihre Raumnahmebestrebungen zu verschleiern und zu rechtfertigen. Die Inszenierung als Schutzmacht vor „kriminellen Ausländern“ bietet der (extremen) Rechten eine aus ihrer Sicht ideale Möglichkeit, Autoritarismus und Rassismus zu verbinden und Erwartungen an den Rechtsstaat gruppenbezogen menschenfeindlich umzudeuten. Zentrale Absichten und Wirkungen hinter diesen extrem rechten Inszenierungen sind:

•   ein Bedrohungsszenario zu behaupten, welches insbesondere von Migration ausgehe
•  das Versagen des staatlichen Gewaltmonopols zu behaupten und den Staat bloßzustellen
•  die positive Selbstdarstellung als präsente „Ersatzpolizei“
•  die Auslebung und Präsentation soldatischer und toxischer Männlichkeit
•  Raum- und Sozialkontrolle auszuüben, d.h. durch die Androhung oder Anwendung von Gewalt zu bestimmen, welche Orte für welche Menschen (nicht) risiko­frei zugänglich sind
•  Menschen aus Einwandererfamilien und Nicht-Rechte einzuschüchtern
•  Einschüchterung und Gewalt als „Notwehr“ erscheinen zu lassen, um das Verständnis der Öffentlichkeit für rassistische Aggressionen zu gewinnen

Die Inszenierung von „Bürgerwehren“ durch die extreme Rechte ist weder neu noch eine singulär deutsche Strategie: Der Straßenterror von "Sturmabteilung" (SA) und Freikorps in den 1920er und 1930er Jahren, die vorgaben, Deutschland gegen den Kommunismus zu verteidigen, sind dem zuzurechnen. An der amerikanisch-mexikanischen Grenze operieren bewaffnete private rassistische Milizen, um Einwanderer_innen abzuschrecken. In Bulgarien wehren extrem rechte „Bürgerwehren“ Geflüchtete an der Grenze zur Türkei ab – in der Vergangenheit unter anderem mit der Unterstützung von Tatjana Festerling (PEGIDA Dresden). Sie wollen die „Festung Europa“ privat aufbauen und damit politischen Druck auf Politik und staatliche Grenzschützer_innen ausüben.

Deutlich wird in diesen Aktionen das ambivalente Verhältnis zwischen staatlicher Autorität und den autoritären Erwartungen der extremen Rechten: Einerseits unterminieren „Bürgerwehren“ das staatliche Gewaltmonopol über Gesetzesverstöße bis zum rassistischen Terrorismus, andererseits streben sie politisch danach, das Monopol der Gewalt selbst zu übernehmen. Gesetz- und Regelüberschreitungen sind dabei keine generalisierte Absage an das Ordnungssystem des National­staats, sondern Ausdruck des Misstrauens in dessen Autorität und Wir­kungsmacht. Es geht diesen Akteuren zunächst nicht darum, das ‚System‘ grundlegend zu verändern, sondern dessen alte Ordnung (oder was man dafür hält) zu verteidigen – auch wenn dies bedeutet, dass das staatliche Gewaltmonopol zwischenzeitlich suspendiert werden muss. Der durch die Bürgerwehren erklärte Vertrauensverlust – insbesondere in die nationale Flüchtlingsabwehr – verlangt nach der harten Hand des Staates.2

Diese Form systemstabilisierender Selbstjustiz nichtstaatlicher Akteure mit vorgeblich protektiven Motiven beschreibt der Begriff des Vigilantismus. Der Soziologe Harold Garfinkel definiert Vigilantismus als „die nichtstaatliche Parallele und Entsprechung staatlicher sozialer Kontrolle […], die Verhängung von Sanktionen durch dazu nicht befugte Mitglieder der Gesellschaft. Es ist die faktische Seite der Ausgrenzung und der Isolierung des politischen und gesellschaftlichen Feindes und der Opponenten. Damit ist gleichzeitig die symbolische, moralische und normative Aussonderung intendiert.“3 Der Historiker Robert Ingalls (1988) stellt fest: „Vigilanten nehmen das Recht in die eigenen Hände, um die herrschenden Machtstrukturen zu festigen, nicht um sie zu unterlaufen4 . Rechter Terrorismus wird daher auch als vigilantistischer Terrorismus bezeichnet.

Es handelt sich bei den allermeisten extrem rechten Anschläge um einen ambivalenten Terrorismus, der einerseits nicht auf den Umsturz, sondern auf die Bewahrung gesellschaftlicher Machtverhältnisse abzielt, wie etwa der „weißen Vorherrschaft“. Andererseits sind Angriffe, etwa auf Geflüchtete, durchaus Angriffe auf die verfassungsmäßigen Grundfesten der Bundesrepublik, wie auch das Dresdner Oberlandesgericht im März 2018 im Urteil gegen die rechtsterroristische „Bürgerwehr Freital“ urteilte.

Vorgehen und Erscheinungsformen vigilantistischer Gewaltakteure unterscheiden sich von anderen Formen politischer Gewalt, weil sich die Mehrzahl der extrem Rechten nicht besonders konspirativ organisiert. Das zeigen auch die Anschläge gegen Geflüchtete der vergangenen Jahre. Dass sie ihre Aktionen relativ offen ausführen, so der Terrorismusforscher Peter Waldmann, resultiert daraus, „dass die Gewaltanschläge nicht gegen Organe des Staates, sondern gegen gesellschaftliche Gruppen gerichtet sind“.5 Daher verhalten sich staatliche Sicherheitskräfte „häufig passiv und schreiten nicht ein, teilweise geben sie aber auch zu erkennen, dass sie das Vorgehen der selbsternannten Ordnungshüter billigen“.5

Rechte Bürgerwehren stellen eine perfide Inszenierung zur Verteidigung rassistischer Privilegien dar. Dass mittlerweile auch aus der "Alternative für Deutschland" (AfD) "Bürgerwehren" unterstützt und zur Inszenierung im Wahlkampf genutzt werden, ist daher folgerichtig.

(Ausführlich zum Konzept des Vigilantismus und zu rechtem Terrorismus: Quent, Matthias (2019): Rassismus, Radikalisierung, Rechtsterrorismus. Wie der NSU entstand und was er über die Gesellschaft verrät. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. Weinheim: Beltz Juventa.

Dazu auch die kostenfreie Broschüre (bestellbar über die Amadeu Antonio Stiftung: Quent, Matthias (2016): Bürgerwehren. Hilfssheriffs oder inszenierte Provokation? Berlin: Amadeu Antonio Stiftung. Online abrufbar unter: www.idz-jena.de)