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USA: LSBTQI+ Community unter Beschuss

Max Böhnel
Einleitung

Antifeminismus als Scharnierfunktion sowie als gemeinsame ideologische und politische Basis von konservativ über christlich bis zu extrem rechts: Nirgendwo wurde dies in den vergangenen Monaten deutlicher als in den USA.

Patriot front
(Bild: Screenshot CNN)

Eine Gruppe der "Patriot Front" wurde am Rande der “Pride in the Park” Veranstaltung in Coeur d’Alene (Idaho) verhaftet.

Ende Juni 2022 kippte der US-Supreme Court mit sechs zu drei Richterstimmen das verfassungsmäßige Recht auf Abtreibung. Seitdem entscheiden die Parlamente in den Bundesstaaten, ob und wie Abtreibung erlaubt oder verboten ist. In zahlreichen Bundesstaaten sind Schwangerschaftsabbrüche nun weitgehend illegal. Der Angriff auf das Selbstbestimmungsrecht von Frauen und andere gebärfähige Menschen allein ist verheerend. Doch warnten die drei liberalen RichterInnen, die gegen das Urteil stimmten davor, dass nunmehr weitere Rechte in Frage stünden, wie etwa das Recht auf Empfängnisverhütung, gleichgeschlechtliche Gleichstellung der Ehe.

US-Präsident Joe Biden unterzeichnete Mitte Juni 2022 anlässlich des Pride Month eine Durchführungsverordnung, mit der das US-Gesundheitsministerium aufgefordert wird, den Bundesstaaten bei der Erweiterung der Gesundheitsversorgung für LSBTQI+ Menschen zur Seite zu stehen. Gleichermaßen soll das US-Bildungsministerium dafür sorgen, dass LSBTQI+ Menschen besser in das Schulsystem integriert und ihre Rechte dort abgesichert werden. Die sogenannte Konversionstherapie soll mit Bundesmitteln zum Austrocknen gebracht und gleichzeitig Suzid-Prävention ausgebaut werden. Zudem zielt das Dekret auf Datenerhebungen zu sexueller Orientierung und Genderidentität bei Obdachlosen ab, um Missbrauch und Gewalt gegenüber LSBTQI+ Menschen dort entgegenzuwirken.

Ein Schritt in die richtige Richtung, aber sehr viel mehr sei nötig, und zwar auf politischer Ebene lautete die Kritik aus LSBTQI+ Verbänden. Dass von Demokraten regierte Bundesstaaten den Richtlinien des Weißen Hauses folgen, gilt als sicher. Was aber erfolgt in Staaten wie Texas, Florida, Alabama, Arizona und Kentucky, wo die Republikaner-Partei und die extreme Rechte den politischen Ton angeben? Die Antwort: Heteronormativität nimmt zu, ebenso wie Entrechtung und Gewalt. Verbände nennen es eine „national emergency“.

Nicht nur die Washingtoner Regierung unter Biden, sondern auch die Demokratische Partei verweist – zahnlos wie zumeist – auf die Midterm-Wahlen im November 2022. Aber eine ultrareaktionäre Mehrheit im Obersten Gericht, auf das es letztendlich im Streitfall ankommt, lässt sich nicht abwählen. Denn die Richter sind auf Lebenszeit ernannt. Allein in laufenden Jahr verabschiedeten über 20 US-Bundesstaaten Gesetze, die unabhängig von dem Urteil des Obersten Gerichts LSBTQI+ Rechte einschränken. Sie reichen vom Verbot, Lehrmaterial, das sich mit Gender-Identitäten auseinandersetzt, im Schulunterricht zu verwenden, über das Verbot von gender-spezifischer Gesundheitsfürsorge bis hin zur Vorschrift, dass gegen Eltern, die sich um ihre trans Kinder kümmern, wegen potentiellem Kindesmissbrauch ermittelt wird.

Auch jenseits der Parlamente ist der reaktionäre Backlash auf dem Vormarsch. Von direkter Aktion und Einschüchterungsversuchen gegenüber gewählten Politikern über (neo)faschistische Hetze bei Schulversammlungen bis hin zur Übernahme rechtsextremer Rhetorik in „konservativen“ Massenmedien.

So ist beispielweise das rechtsextreme Stichwort „Grooming“, das vor Jahren schon in QAnon-Kreisen umging, im Mainstream angekommen. Eigentlich sind darunter emotionale Annäherungsversuche von Erwachsenen gegenüber Kindern mit der Absicht zu verstehen, sie zu sexuellen Handlungen zu manipulieren. Die US-Rechte hat den Begriff aber zur Angriffswaffe gemacht. Der rechte Medienstar Tucker Carlson behauptete in seiner Sendung auf Fox News beispielweise, Lehrer*innen in Kalifornien würden „Schulkinder indoktrinieren“, wenn sie über sexuelle und Gender-Identität sprechen. „Sie unterziehen 7-Jährige ihrem Grooming und sprechen mit ihnen über ihr Sexleben“. Ebenfalls auf Fox News beschuldigte die berüchtigte rechtskonservative Kommentatorin Laura Ingraham den Walt-Disney-Konzern, Kindern „eine sexuelle Agenda aufzudrängen“. Es handele sich nicht „um Programmgestaltung, das ist Grooming-Propaganda“, sagte sie. In Ohio stellte sich der Senatskandidat J.D. Vance ausdrücklich hinter den Begriff. „Wer nicht Groomer genannt werden will, soll halt nicht sechs- oder siebenjährige Kinder sexualisieren“.

Die größer werdende Schnittmenge zwischen vermeintlich Konservativen und Rechtsextremen ist nicht nur rhetorischer, sondern auch ideologischer Art. Feminismus sei dekadent, zerstöre die westliche Zivilisation und die natürliche Rolle von Frauen bestehe im Gebären von Kindern sowie in der freiwilligen Unterordung unter Männer. Starke Männer seien nötig, um für die natürliche Ordnung der Welt zu sorgen, auch mit Gewalt. Diese antifeministische Rhetorik führt zum weißen Nationalismus und zur „Replacement“-Theorie.

„The Great Replacement“ wurde von dem Franzosen Renaud Camus populär gemacht. Nicht-Weiße hätten mehr Kinder als Weiße, wurde darin beklagt, der demographische Wandel sei eine tödliche Bedrohung für die europäische Kultur. In allen ihren Variationen dieser „Theorie“ spielt die Kontrolle über weibliche Sexualität und Reproduktion eine entscheidende Rolle. Die Entscheidungsfreiheit von Frauen wird als Bedrohung der Zivilisation angesehen, „Notwehr“ dagegen ist angesagt.

Die antifeministischen Drohungen und gewalttätigen Übergriffe auf queere Menschen und bei Veranstaltungen von US-Abtreibungsbefürwortern ergeben sich nicht spontan, sondern sind organisiert. Oft stecken die ultra-rechten "Proud Boys" dahinter. Das "Southern Poverty Law Center" (SPLC) zählte in der ersten Jahreshälfte 2022 28 Störaktionen im ganzen Land bei queeren Veranstaltungen oder feministischen Treffen. Die meisten Übergriffe fanden im Pride-Monat Juni statt. Gegen fast 50 "Proud Boys" ermitteln zwar die Behörden wegen ihrer Aktivitäten bei der Stürmung des US-Kapitols am 6. Januar 2021. Doch der behördliche Druck auf den faschistoiden Männerclub hält ihn nicht von solchen Aktivitäten ab. Seit der Kapitolsstürmung wurden sie aktiver als je zuvor. Hatten sie 2020 43 Ortsgruppen, so wuchs laut SPLC die Zahl im Jahr darauf auf 72. Seit dem 6. Januar 2021 verlagerten sie ihren Schwerpunkt weg von Prügeleien mit Antifaschist*innen auf der Straße hin zu „Security“ bei Wahlkampfveranstaltungen rechtsextremer Politiker sowie auf Lokalpolitik und Bündnisse mit Konservativen. "Proud-Boys" wurden auf einmal bei Stadtratssitzungen gesehen und tauchten auf Elternabenden an Schulen auf, wo sie lautstark und aggressiv immer die rechteste Argumentationslinien verfolgten. Im vergangenen halben Jahr verstärkten die "Proud Boys" ihre Aktivitäten auf den Bereich Gender, laut SPLC mit einem „exakt ausgearbeiteten Feldzug, der aus Transphobie, Homophobie und Frauenfeindlichkeit besteht“. Kein Zufall ist es, dass diese ausschließliche Fokussierung zeitgleich mit der Radikalisierung der Republikanerpartei nach rechts und dem Abtreibungsverbot durch ein Urteil des Obersten Gerichts erfolgte.

Ende Juni 2022 tauchten in der Stadtbibliothek von Sparks im Bundesstaat Nevada ein Dutzend "Proud Boys" in ihrer typischen Schwarz-Gelb-Uniform auf und hielten verängsten Kindern und Eltern Schilder entgegen, auf denen ihnen „Grooming“ vorgeworfen wurde. Ein "Proud Boy" fuchtelte vor der Bibliothek mit einer Pistole herum, als die Polizei wieder abgezogen war. Der Anlass war eine in vielen Stadtbüchereien beliebte „Drag Queen Story Hour“. Seit einigen Jahren lesen Drag Queens auf Einladung von Büchereien aus Kinderbüchern vor. In einer Bücherei in San Lorenzo in Kalifornien stürmten "Proud Boys" eine weitere Vorlesestunde und beschimpften die Drag Queen als „Pädophilen“ und „Groomer“. In McKinney in Texas tauchten "Proud Boys" laut örtlicher Presse in Kampfuniformen und mit Tränengas auf, einer trug eine Waffe im Gürtel. "Proud Boys" nahmen auch an Protesten und Demonstrationen vor Kliniken teil, die Schwangerschaftsabbrüche anbieten sowie vor Abtreibungs-Beratungsstellen.

USA-weit machten neofaschistische Männerbünde aber in diesem Jahr erst Schlagzeilen, als bei einer Pride-Demonstration in Coeur D‘Alene in Idaho 31 Mitglieder der Neonazigruppierung "Patriot Front" von der Polizei vor laufenden Kameras festgenommen wurden. Sie waren am 11. Juni 2022 in einem großen Umzugswagen versteckt in Kampfuniformen und vermummt in der Stadt unterwegs, um die örtliche Pride-Demonstration anzugreifen. Die Gruppierung ist die am stärksten wachsende White-Supremacist-Organisation in den USA.