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Ungarn: Jobbik auf dem Weg zur moderaten „Volkspartei“?

István Kovács
Einleitung

Seit 2013 fährt die neofaschistische Partei "Jobbik" eine Kommunikationsstrategie, die sie als moderate „Volkspartei“ in der ungarischen Öffentlichkeit etablieren soll. Mit Erfolg, wie nicht nur die vergangenen Wahlen gezeigt haben. Selbst bei Protesten wird sie von den restlichen Oppositionsparteien und Regierungskritikern als legitimer politischer Partner betrachtet.

Foto: flickr.com; Leigh Phillips; CC BY-NC 2.0

Die Wochenzeitung "Magyar Narancs" fragte kurz vor den Parlamentswahlen Anfang April 2018: „Sollte ein Jobbikvertreter in ihrem Wahlbezirk der aussichtsreichste Herausforderer des Regierungskandidaten sein, darf oder soll ein Mensch, der sich demokratischen Werten verpflichtet fühlt und einen Regierungswechsel will, für diesen Kandidaten stimmen?“ Hierbei ist wichtig zu erwähnen, dass im ungarischen Wahlsystem den Direktkandidaten ein größeres Gewicht zukommt als in der Bundesrepublik und sie für die letztendlichen Mehrheiten im Parlament entscheidend sind. Die Zeitung veröffentlichte die Antworten von Personen des öffentlichen Lebens: Literat_innen, Aktivist_innen, Historiker_innen, Musiker_innen.

Für viele der Befragten war die Antwort ein klares Nein, so zum Beispiel für den Schriftsteller Péter Nádas. Andere sahen darin den einzigen Ausweg. Bezeichnend ist die Antwort des anerkannten, 50-jährigen Theaterregisseurs Robert Alföldy, einem Star der Kultur- und Medienszene, von 2008 bis 2013 Intendant des Nationaltheaters in Budapest, der wichtigsten ungarischen Bühne und bekennender Homosexueller. Er schrieb, es sei zwar schwer den Schritt zu tun, er müsse aber als „Staatsbürger seine eigenen Interessen zur Seite schieben“, damit überhaupt „irgendeine Hoffnung für eine andere Zukunft besteht“. Im Kampf gegen die Zweidrittelmehrheit des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán müsse auch für Jobbik gestimmt werden: „In der Hoffnung, dass etwas Schlimmeres nicht mehr kommen kann.“

Was ist passiert, dass einige Vertreter_innen des offenen und liberalen Ungarn ihre „Hoffnung“ in eine Partei setzen, der sie glauben wollen, sie habe sich verändert? Eine Partei, die vor wenigen Jahren noch einen Judensternstempel in den Pässen von ungarischen Parlamentarier_innen mit doppelter, auch israelischer Staatsbürgerschaft  forderte? Die Roma in Lagern sammeln wollte, über ihre Zwangssterilisierung nachdachte und sie als „biologische Massenvernichtungswaffe“ zur Zerstörung des ungarischen Volkes bezeichnete? Die sich mit der „Ungarischen Garde“ eine eigene paramilitärische Organisation gehalten hat? Die verbal all jenen zur Hand ging, die mit physischer Gewalt unter anderem die Teilnehmer_innen der Budapest Pride angriffen, so dass seit 2007 die Demonstration gegen Homophobie und jegliche Form sexu­eller Diskriminierung nur noch hinter Absperrungen stattfinden kann?

Es darf zwar nicht überraschen, dass das liberale Bürgertum unter bestimmten Bedingungen für eine zum Teil offen faschistische Partei stimmt. Dennoch soll auf einige konkrete Punkte hingewiesen werden.

Imagekampagne

Zum einen hat die ungarische Regierung den Neofaschisten der "Jobbik Magyarországért Mozgalom" ("Bewegung für ein besseres Ungarn") den Rang abgelaufen. Die liberalkonservative Partei Fidesz hatte schon nach den verlorenen Wahlen 2002 versucht, die radikaleren rechten Kräfte für sich zu gewinnen. Bei den Wahlen 2010, als zum ersten Mal auch Jobbik ins ungarische Parlament gelangte, war sie mit diesem Anspruch gescheitert. Aber Fidesz gab ihn deswegen nicht auf. Orbán gewann 2010 die Wahlen, ohne zuvor ein Programm vorgestellt zu haben. Die Regierung hat seither die rassistische und autoritäre Agenda der NeofaschistInnen in vielen Punkten verwirklicht.

Da Jobbik aber zum einen sein Wählerpotential in den Neonazigruppen, die nicht für die Regierung stimmen würden, erschöpft sah, zum anderen deutlich wurde, dass Fidesz sie nicht so leicht an die Haushaltstöpfe lassen würde, versuchte die Partei nach 2013 mit einer neuen Kommunikationsstrategie, breitere Wählerschichten anzusprechen und sich für einen Regierungswechsel in Position zu bringen. Die bei Jungwählern ohnehin beliebteste Partei begann eine „Zuckerkampagne“, um zur „nationalen Volkspartei“ zu werden. Sinnbildlich wurden die Fotos, die den ehemaligen Parteivorsitzenden Gábor Vona in Jeans und mit Lederjacke lächelnd mit Hundewelpen der ungarischen Jagdhund-­Rasse Vizsla zeigen.

Im selben Jahr zeichnete der ungarische „Superminister“ „für Humanressourcen“, Zoltán Balog, den Sänger der in Neonazikreisen beliebten Rechts­Rockband „Kárpátia“, János Petrás, mit einem Staatsorden für Verdienste um die ungarische Kultur aus. Die Parteien sind sich in den letzten Jahren immer ähnlicher geworden und  bilden einen nationalchauvinistischen, autoritären Block. Deutlich wird dies u.a. auch dadurch, dass Jobbik die wichtigen Gesetzesprojekte der Regierung im Parlament unterstützt.

Reaktionäre Mehrheit

Das führt zum zweiten Grund. Jobbik ist mit 13 Prozent der Sitze die größte Oppositionspartei. Mit der Regierungskoalition, die auf 67 Prozent kommt, vereinen sie 159 der 199 Parlamentssitze auf sich. 80 Prozent des ungarischen Parlaments sind in der Hand von offen reaktionären Parteien. Das ist der klare Ausdruck eines europäischen Zeitgeistes. Die Parteien der sogenannten demokratischen Opposition ziehen daraus den Schluss, ein Regierungswechsel sei nur gemeinsam mit den Neofaschisten machbar. Ganz offensichtlich erscheint ihnen die Möglichkeit, eine Opposition zu diesem reaktionären Block zu bilden, ausgeschlossen. Das hängt auch damit zusammen, dass die ungarische „Linke“ Angst hat, mit der staatssozialistischen Vergangenheit in Verbindung gebracht zu werden und ihr ideologischer Horizont über den Neoliberalismus als „linke“ Alternative zum Nationalismus kaum hinausgeht.

Während das liberale Bürgertum in den letzten 30 Jahren den Antitotalitarismus gepredigt hat und keine Möglichkeit verstreichen ließ, um zu behaupten, dass Kommunismus und Faschismus zwei Seiten derselben Medaille sind, flirtet sie jetzt ganz offen mit den NeofaschistInnen, und muss sich immer wieder eine Abfuhr von ihnen holen. Von der Zusammenarbeit mit Jobbik erhofft sie sich in erster Linie, die Klientelpolitik der Regierung zu brechen. Das orbánkritische ungarische Bürgertum sieht in der Korruption das größte Problem des Landes. Die ideologische Nähe der NeofaschistInnen zur Regierung wird daher in Kauf genommen.

Ausblick

Jobbik ringt mit seiner neu gewonnenen Bedeutung. Seit 2016 findet ein offener Machtkampf in der Partei statt, der sich seit den Parlamentswahlen Anfang April 2018 verschärft hat. In den liberalen Medien wird gebangt, ob die Partei den „Volksparteikurs“ halten kann und als möglicher Bündnispartner erhalten bleibt. Im Grunde handelt es sich bei dem Richtungsstreit der Partei aber um eine Strategiefrage: Die einen wollen Wahlen gewinnen, indem sie die Ziele in einer moderaten Kommunikation verpacken. So Tamás Sneider, der seit Mitte Mai 2018 neuer Vorsitzender ist, und mit seinen Leuten dem ehemaligen Parteichef Vona nahe steht.

Die anderen wollen Wahlen dadurch gewinnen, dass sie radikal und offen die Ziele der Partei aussprechen. So der eher an den neonazistischen Kleingruppen orientierte Laszló Toroczkai, Bürgermeister der ostungarischen Grenzstadt Asotthalom. Beiden gemein sind aber immer noch die rassistischen und menschen­feindlichen Ziele.
In welche Richtung sich dies in Zukunft entwickeln wird, ist nicht vorauszusagen. Vielleicht hat sich die Partei schon an dem Tag gespalten, an dem dieser Artikel veröffentlicht wird. Denn nachdem Toroczkai die Wahl zum Vorsitzenden verloren hatte, kündigte er an, eine Parteiplattform mit dem Namen „Wir selbst“ gründen zu wollen.

Vor allem LokalpolitikerInnen vom Land wollten sich ihm anschließen. Die Parteiführung verbot dies jedoch und geißelte „Spaltungsversuche“. Die einzige Parlamentsabgeordnete, die sich auf die Seite Toroczkais stellte, war Dora Dúró. Ende Mai gab die Parteiführung bekannt, sie würde Dúró aus der Fraktion ausschließen. Die Abgeordnete verkündete daraufhin auf face­book, sie wäre bereit, ihr Mandat abzutreten. Über die Hintergründe wird noch geschwiegen. Tatsächlich scheint ein Bruch möglich. Aber niemand sollte sich von diesem Theater blenden lassen. Die Jobbik wird weiter auf ihre Weise, ob im Stillen oder lautstark, ob nah an der Regierung, den Neonazigruppen oder relativ unspektakulär in der Kommunalpolitik wie bislang rassistisch, antidemokratisch und autoritär an ihrer Vision einer Gesellschaft für „national empfindsame“ Bürger basteln.