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Umkämpfte Erinnerung

Christian Carlsen
Einleitung

Massenmord, Kollaboration und jüdischer Widerstand im deutsch besetzten Litauen

In Litauen lebten im Juni 1941 etwa 230.000 Jüd_innen, über 90 Prozent von ihnen sollten unter deutscher Besatzung ermordet werden. Keine jüdische Gemeinde wurde derart zerstört. Dieser zynische Erfolg verdankt sich der Kollaboration litauischer Antisemit_innen – ein Kapitel, das in Litauen kaum aufgearbeitet wurde. Rechte und Konservative schwadronieren vom »Roten Holocaust« und diffamieren ehemalige jüdische Partisan_innen. Ein Berliner Filmprojekt porträtiert die Wilnaer Jüdin Fania Brancovskaja in ihrem Kampf um historische Gerechtigkeit.

Foto: C. Carlsen

Fania Brancovskaja ist eine der letzten noch lebenden Zeug_innen der Shoah in Litauen.

Von den litauischen Jüd_innen, die wegen ihres jiddischen Dialekts »Litwaks« genannt wurden, lebte ein Drittel in Vilnius (Wilna), das als »Jerusalem Litauens« galt.

Nachdem Polen die Region Vilnius 1922 annektiert hatte, wurde Kaunas (Kowno) vorübergehend litauische Hauptstadt. Der junge litauische Staat räumte der jüdischen Gemeinde erstmals Minderheitenrechte ein, und weil litauische Nationalist_innen mit Polen beschäftigt waren, blühte sie auf.

Der polnische Antisemitismus war stärker ausgeprägt, doch profitierte auch die Wilnaer Gemeinde vom polnisch-litauischen Konflikt. So wuchs Fania Brancovskaja in einer Stadt auf, die ein kulturelles Zentrum jiddischsprachiger Schriftsteller_innen, Künst­ler_innen und Wissenschaftler_innen war. Im Anschluss an den Hitler-Stalin-Pakt wurde die Region Vilnius am 19. September 1939 durch die Rote Armee besetzt und wenig später Litauen übergeben. Die jüdische Bevölkerung blieb zuversichtlich, hauptsächlich, weil sie vor deutscher Besatzung verschont blieb.

Das änderte sich radikal im Juli 1940, als die Sowjetunion Litauen annektierte. Jüdische Einrichtungen wur­den geschlossen, und jüdische Gemeindevertreter, Geschäftsleute und politisch Missliebige verfolgt. Auch Fanias Familie geriet unter Druck, weil der Vater ein Elektrowarengeschäft führte.

Andererseits versprach das Sowjetsystem Chancengleichheit, und ein Teil der litauischen Jüd_innen beteiligte sich an dessen Konsolidierung. Fania trat der kommunistischen Jugend »Komsomol« bei und begann eine Ausbildung zur Lehrerin.

Vor diesem Hintergrund gelang es der im Untergrund operierenden antisemitischen »Litauischen Aktivistenfront« (LAF), die Jüd_innen als Agenten der bolschewistischen »Besatzer« zu brandmarken – obwohl den »Säuberungen« proportional mehr Jüd_innen als Nicht-Jüd_innen zu Opfer fielen. Der Mythos vom »jüdischen Bolschewismus« sollte den deutschen Besatzern ihr Mordhandwerk erheblich erleichtern.

Holocaust und Kollaboration

Kaum, dass die Wehrmacht am 22. Juni 1941 in Litauen eingefallen war, begannen die »Einsatzgruppen« mit den Erschießungen jüdischer Männer. Zugleich fingen litauische Anti­se­mit_innen an, ihre jüdischen Nachbar_innen zu überfallen.

Strittig und politisch bedeutsam ist, inwieweit die Deutschen diese Pogrome initiierten oder die Litauer_innen spontan handelten – aus Antisemitismus, in »vorauseilendem Gehorsam« und aus Habgier. Obwohl die Deutschen die Pogrome als litauische »Selbstreinigungsakte« darstellten, agierten sie vielerorts als Aufwiegler oder stifteten Angehörige litauischer SS-Hilfsverbände an. Andererseits erfolgten Gewaltakte nachweislich auch ohne deutsche Beteiligung, und stets fanden sie Applaus von Schaulustigen.

Zugleich erließen die deutschen Besatzungsbehörden und die neue litau­ische Marionettenregierung Verordnungen, die die Jüd_innen erniedrigten, enteigneten und entrechteten.

Bereits im August 1941 ging das »Einsatzkommando 3« (EK 3) dazu über, die jüdischen Opfer ohne Rücksicht auf Alter und Geschlecht zu erschießen. Ein »Rollkommando«, das aus SS-Angehörigen und litauischen »Hilfswilligen» bestand, durchkämmte die Provinz in beispiellosem Tempo. Die Opfer – zu denen auch politisch Missliebige und Roma gehörten mussten ihr eigenes Grab ausheben, bevor sie erschossen wurden. Innerhalb weniger Wochen waren alle kleinen jüdischen Gemeinden ausgelöscht.

Die Vernichtung der städtischen Gemeinden gestaltete sich komplexer. Die Opfer der ersten »Aktionen« in Vilnius waren im nahen Paneriai (Ponar) erschossen worden, die der zweiten in Kaunas in Festungsanlagen aus der Zarenzeit. An diesen Orten richteten sich die Täter dauerhaft ein. Deutsche gaben die Befehle, Litauer führten die Erschie­ßungen aus und kommandierten einige jüdische Häftlinge, die zur Beseitigung der Mordspuren am Leben gelassen wurden.

Ein polnischer Einwohner von Paneriai, der die Massenmorde heimlich dokumentierte, differenzierte die Motive der Täter_innengemeinschaft wie folgt: »Für die Deutschen bedeuten 300 Juden 300 Feinde der Menschheit. Für die Litauer sind das 300 Hosen, 300 Paar Stiefel.«
Auf die beschriebene Weise wurden allein in Paneriai insgesamt etwa 90.000 Menschen erschossen, etwa 90 Prozent davon Jüd_innen. In den Forts VII und IX bei Kaunas wurden über 20.000 Jüd_innen ermordet.

Im Spätsommer gingen die Besatzer dazu über, die verbliebenen Jüd_innen in Ghettos zu konzentrieren. In Vilnius etwa trieb ein deutsch-litauisches Kommando insgesamt 8.000 Jüd_innen nach Ponar und erschoss sie. In dem Viertel, in dem sie gelebt hatten, wurden zwei Ghettos errichtet: 30.000 Jüd_innen, darunter Fania und ihre Familie – wurden in das sogenannte Große Ghetto gepfercht, 10.000 in das sogenannte Kleine Ghetto.

Noch im September 1941 leiteten die Deutschen die Liquidierung des Kleinen Ghettos ein: Familien, die im Besitz eines »Arbeitsscheins« waren, wurden ins Große Ghetto überführt, die übrigen im Kleinen Ghetto konzentriert. Dessen Insassen sollten ausnahmslos ermordet werden.

Die Entwicklungen in Kaunas, Siauliai und Svencˇionys verliefen entsprechend. So waren in Litauen im Dezember 1941 nur noch 40 000 Jüd_innen am Leben. In seinem berüchtigten Bericht tönte der Chef des EK 3, SS-Standartenführer Karl Jäger, er habe diese »ebenfalls umlegen« wollen, sei damit aber am Widerstand der deutschen Zivilverwaltung und der Wehrmacht gescheitert, die zuvor die Arbeitskraft der Jüd_innen ausbeuten wollten.

Reaktionen der verfolgten Jüd_innen

Dank der ›Pragmatiker‹ in der Judenfrage kam es zwischen Januar 1942 und Juli 1943 tatsächlich zu keinen größeren Mordaktionen. Das gab den verbliebenen Jüd_innen Gelegenheit, den Ernst ihrer Lage zu erkennen. Die meisten waren angesichts der beispiellosen Gewalt wie paralysiert gewesen. Anfangs hatten viele beim Sicherheitsdienst der SS um die Freilassung ihrer Angehörigen gebeten, deren Festnahme sie für ein Versehen hielten. Sie konnten nicht ahnen, dass sie sich an deren Mörder gewendet hatten und die Leichen ihrer Angehörigen längst verscharrt waren.

In seltenen Fällen überlebten Menschen die Massaker, nur konnte anfangs niemand ihren Schreckensberichten glauben. Die Judenräte, die besser informiert waren, setzten auf »Rettung durch Arbeit« und versuchten, den Deutschen Zugeständnisse abzuringen. Die Insassen versuchten, ihre Not durch den Schmuggel von Lebensmitteln zu lindern und sich mit kulturellen Aktivitäten abzulenken. Einige junge Erwachsene, die politisch organisiert gewesen waren, sahen keine Alternative zum Kampf und gründeten Widerstandsgruppen. Die größte war die Fareinikte Partisa­ner Organisatzije (FPO), die im Januar 1942 in Vilnius durch ein Bündnis von Kommunist_innen, Bun­dis­t_innen1 , Links- und Rechts­zionis­t_innen entstand. Der Kommunist Yitzhak Wittenberg wurde ihr Kommandeur, der zionistische Schriftsteller Abba Kovner, von dem der be­rüh­mte Aufruf »Geht nicht wie die Schafe zur Schlachtbank!« stammt, einer seiner Stellvertreter.

Die FPO plante einen bewaffneten Aufstand, sobald die Deutschen versuchen würden, alle Insassen zu vernichten. Als Signalwort wurde »Liza ruft!« vereinbart. Es wurden Waffen ins Ghetto geschmuggelt und Molotow­cocktails hergestellt.

Um die Organisation zu stärken, agitierte die FPO weiter. Im Frühjahr 1942 schloss sich ihr die damals 20-jährige Fania an.

Nachdem die Lage in den vier verbliebenen Ghettos 1942 relativ stabil gewesen war, spitzte sie sich 1943 zu. Zugleich wuchsen die Spannungen zwischen Widerstand und jüdischer Ghetto-Verwaltung, von der die Deutschen verlangten, gegen den Widerstand vorzugehen. So geriet Wittenberg im Juli 1943 in Gestapo-Haft und kam ums Leben, sein Nachfolger wurde Abba Kovner.

Kurz darauf befahl NS-Führung die Auflösung aller Ghettos. Die arbeitsfähigen Insassen sollten in Konzentrationslager deportiert, die übrigen ermordet werden.

Die Auflösung des Ghettos in Vilnius fand am 24. September 1943 mit einer Selektion vor der Stadt ihren Abschluss, in deren Folge die Deutschen 4.000 »Arbeitsfähige« nach Estland verschleppten und ebenso viele in Sobibor ermordeten. 2.000 Jüd_innen verblieben zur Zwangsarbeit in Vilnius. Die FPO-Führung hatte vorher entschieden, ihren Aufstandsplan fallen zu lassen und ihre Mitglieder angewiesen, sich in den Wäldern um Naratsch und Rudniki im Dreiländereck Litauen, Polen und Belarus der sowjetischen Partisan_innenbewegung anzuschließen.

Die Gründe hierfür waren vielfältig. Zum einen wollte sie kein Blutbad an jenen auslösen, die nicht zum Kampf bereit waren, zum zweiten schien der Kampf in der Enge des Ghettos schlicht zwecklos. Und nicht zuletzt galt auch für die Angehörigen des Widerstands, dass sie leben wollten. 500 bis 700 jüdische FPO-Angehörige entkamen, darunter Fania Brancovskaja, die zuvor Abschied von ihrer Familie genommen hatte, ohne zu ahnen, dass sie diese nie wieder sehen sollte. Bis heute muss sie daran denken, wie ihre Mutter ihr alles gab, was sie besaß: einen Beutel Erbsen, Schokolade, einen Lippenstift und eine blaue Bluse.

Die jüdischen Kämpfer_innen bildeten teils eine eigene Formation, zum Teil gingen sie in sowjetischen Einheiten auf. Sie verübten dutzende Sabotageakte und Überfälle. Der gemeinsame Kampf ließ Fania erstmals seit langer Zeit wieder spüren, ein Mensch zu sein. Gleichwohl war der Alltag nicht heroisch, sondern vom Überlebenskampf geprägt. Die Ressourcen waren knapp, und Lebensmittel mussten bei der Landbevölkerung requiriert werden, die diese selten freiwillig hergab – vor allem, wenn Jüd_innen darum baten.

Bevor die Rote Armee im Sommer 1944 die deutschen Besatzer aus Litauen vertrieb, ließ Berlin die Häftlinge ins Reichsinnere verschleppen oder ermorden. Einigen gelang die Flucht zu den Partisan_innen, darunter einem Dutzend jüdischer Häftlinge, die zur Beseitigung der Massengräber in Paneriai gezwungen worden waren. Von ihnen erfuhr Fania Details von der Massenvernichtung.

Anfang Juli 1944 beteiligte Fania Brancovskaja sich an der Befreiung ihrer Heimatstadt Vilnius.

Der lange Schatten des Holocausts

Die meisten Überlebenden sahen für sich keine Zukunft in Litauen oder verließen das Land infolge der Etablierung der Sowjetherrschaft, der Antisemitismus-Kampagne 1948–1953 und der ›kalten Amnestie‹  für litauische Kollaborateure.

Fania Brancovskaja jedoch wagte einen Neuanfang. Sie heiratete Mikhail, an dessen Seite sie gekämpft hatte, und beteiligte sich als Kommunistin am Wiederaufbau ihrer Heimat. Als 1950 ihr erstes Kind geboren wurde, nannten sie es sinnbildlich Vita.

Heute erinnert Fania, wie sie ihre Enttäuschung über die Entwicklungen verdrängte. Auswanderung nach Israel war kein Thema, wenngleich ihre zweite Tochter Dina Anfang der 1980er Jahre begann, ihre jüdische Identität zu entdecken und – aus Angst vor der Geheimpolizei – heimlich Hebräisch zu lernen.

Zur selben Zeit begannen Fania und ehemalige Kamerad_innen, das Schicksal der »Litwaks« zu vermitteln. Diese Arbeit wurde ihr nach dem Tod ihres Mannes und dem Zusammenbruch der Sowjetunion zur Lebensaufgabe.

Brachte ihr das im westlichen Ausland Anerkennung, wurde sie in ihrer litauischen Heimat zur Zielscheibe revisionistischer Antisemit_innen. Denn seit Anfang der 2000er Jahre hatte sich die Theorie vom »doppelten Genozid« ausgebreitet. Dieser zufolge hätten sich die Sowjetunion und Nazideutschland gleichermaßen eines Völkermords schuldig gemacht, und Litauen sei jeweils Opfer geworden.

Ehemalige jüdische Partisan_innen wurden als Kriminelle und Landesverräter_innen diffamiert, während litauische Antikommunist_innen, die oftmals mit den deutschen Besatzern kollaboriert und sich an den Massenverbrechen beteiligt hatten, als Widerstandskämpfer geehrt wurden.

Erstes prominentes Opfer wurde 2006 der ehemalige Partisan und langjährige Chef von Yad Vashem, Yitzhak Arad. Er hatte im Rahmen einer litauischen Untersuchungskommission die Beteiligung litauischer Kollaborateure am Holocaust erforscht und war einer Gleichsetzung von NS- und Sowjetregime entgegengetreten, bis er als »Kriegsverbrecher« beschuldigt und aus der Kommission entfernt wurde.

2008 fand die konservative Tageszeitung »Respublika« in den Memoiren der ehemaligen Partisanin Rachel Margolis einen Vorwand, ein Strafverfahren gegen Fania Brancovskaja einzuleiten. Daraufhin ordnete die litauische Staatsanwaltschaft die Vernehmung von Fania und Rachel Margolis an, die seitdem aus Angst bei ihrer Tochter in Israel lebt.

Fania Brancovskaja wurde vorgeworfen, im Januar 1944 an der Zerstörung des Dorfes Koniuchy durch sowjetische Partisan_innen beteiligt gewesen zu sein, denen es als Basis litauischer Kollaborateure galt. Am 29. Mai 2008 erschienen Polizisten in der kleinen Hochhauswohnung der damals 86-Jährigen und brachten sie auf das Kommissariat – angeblich weil sie unauffindbar gewesen sei. Sie beteuerte, nie in Koniuchy gewesen zu sein. Doch nur weil es dem Jiddisch-Professor und Aktivisten Dovid Katz gelang, diplomatischen Protest zu mobilisieren, und es der Staatsanwaltschaft an Belastungsmaterial fehlte, wurden die Ermittlungen auf Eis gelegt. Rehabilitiert wurde weder Fania Brancovskaja noch eine ihrer ehemaligen Kamerad_innen.

Trotz dieses revisionistischen »turns« versucht sich die kleine Gemeinde zu behaupten, und auch Fania, die ihre gesamte Familie im Holocaust verloren hat, kämpft weiter. Obwohl sie 90 Jahre alt ist, führt sie regelmäßig Gruppen zu den Stätten von Verfolgung und Widerstand, engagiert sich im Jiddischen Institut und organisiert Hilfe für bedürftige Gemeindemitglieder. Sie hat gelernt, Fragen nach den jüngsten Demütigungen wegzulächeln und politisch brisante Aspekte auszuklammern. Gefragt, woher sie die Kraft für ihre Arbeit nehme, sagte sie einmal: »Das tu‘ ich für die, was liegen tot in Ponar. Die können sich nicht stellen, die können nicht erzählen, was ihnen geschehen ist. In Jiddisch sagt man: so lang die Fieß tragen. Das ist meine Pflicht…«.
 

Der Autor arbeitet zusammen mit Philipp Jansen an dem Dokumentarfilmprojekt "Liza ruft!"

  • 1Als Bundisten werden historische und heute noch bestehende sozialistisch-jüdische Vereinigungen bezeichnet. Sie alle gehen zurück auf den Allgemeinen jüdischen Arbeiterbund im ehemaligen russischen Zarenreich.