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Tsunami in Schengenland

Maxim Kammerer
Einleitung

Der arabische Frühling, die erfolgreichen und folgenreichen Revolutionen im Maghreb, hat die italienische Insel Lampedusa wieder in den Mittelpunkt des medialen Interesses gerückt. Der Sturz des Ben-Ali-Regimes in Tunesien hatte auch ein zeitweiliges Ende der Ausreisekontrolle durch die tunesische Polizei zur Folge. Vor allem junge tunesische Männer nutzten die sich bietende Möglichkeit, um nach Lampedusa überzusetzen. Die italienische Regierung reagierte sofort mit der Forderung, europäische Polizisten in Tunesien zu stationieren. Dies wurde jedoch von der tunesischen Übergangsregierung brüsk zurückgewiesen. Dabei sorgte vor allem der Hinweis des tunesischen Regierungssprechers für Aufsehen, dass der besonders ausfällige italienische Innenminister Roberto Maroni von der Lega Nord ein »rechtsextremer Rassist« sei. 

Bild: attenzione-photo.com

Antirassistischer Protest im Düsseldorfer Flughafen.

Diese Aussage stellt dabei keinesfalls eine einmalige Spitze gegen die italienische Regierung dar, vielmehr vertreten viele TunesierInnen die Meinung, dass die harte Anti-Einwanderungspolitik der EU einer xenophoben und rassistischen Stimmung in Europa geschuldet ist, die sogar so stark sei, dass die Politik gegen die eigenen ökonomischen Interessen handle. Die italienische Regierung lieferte auch gleich mehrere Kostproben, die diese Lesart unterstreichen. Sie warnte vor einem »menschlichen Tsunami« und prophezeite, dass Hunderttausende, wenn nicht sogar Millionen von TunesierInnen nur darauf warteten, nach Europa überzusetzen, wenn nicht schnell und entschlossen gehandelt werde. Die Charakterisierung von Migration durch Naturmetaphern, wie etwa »Wellen«, »Ströme« oder, ganz neu als »Tsunami«, ist ein gängiges und altes rassistisches Muster, welches insbesondere im Deutschland der 1990er Jahre genutzt wurde, um die Abschaffung des Rechts auf Asyl (Art. 16 GG) voranzutreiben.

Erst die Intervention des rechten italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi, der am 4. April nach Tunis reiste, um dort direkt über eine Wiederaufnahme der tunesischen Ausreisekontrolle zu verhandeln, veränderte die Situation im Mittelmeer. Italien lieferte vier Fregatten für die tunesische Küstenwache, zudem wurde ein hoher Millionenbetrag an Unterstützung versprochen. Teil des Deals war auch die Zusage der italienischen Regierung, den mittlerweile rund 25.000 auf Lampedusa angekommenen TunesierInnen ein Aufenthaltspapier für sechs Monate auszustellen, welches die Reisefreiheit innerhalb des Schengenraums garantierte. Währenddessen verpflichtete sich Tunesien, die Abschiebung aller später Angekommenden zu akzeptieren. Mittlerweile kommt es kaum noch zu Überfahrten von Tunesien nach Lampedusa.

In der Zwischenzeit war jedoch der Bürgerkrieg in Libyen voll entbrannt. Der libysche Diktator Gaddafi hatte schon 2010 gedroht, Europa werde »schwarz« werden, wenn die EU nicht nach seinem Willen handle. Seit der Intervention europäischer Staaten an der Seite der libyschen Rebellen scheint Gaddafi diese Drohung auch wahr machen zu wollen. Die Abfahrten von Booten mit MigrantInnen werden von Libyen aus nicht mehr unterbunden und es kursieren Gerüchte, dass die Truppen Gaddafis sich sogar aktiv an der Organisation solcher Überfahrten beteiligen. Dies hat in den letzten Wochen erneut zu schrecklichen Dramen im Mittelmeer geführt, als überfüllte Boote kenterten und viele hundert Menschen ertranken. Die im Mittelmeer stationierten Schiffe der NATO-Allianz scheinen die Boote zwar zu bemerken, fangen diese aber nicht ab und unternehmen auch nur sporadisch Rettungsversuche bei Seenot.

Scheitert Schengen?

Das Schengener Vertragswerk, seit 1999 integraler Bestandteil europäischen Rechts, ist durch diese Entwicklungen in Bedrängnis geraten. Es garantiert die Reisefreiheit ohne Grenzkontrollen im Inneren des Schengenraums, erzwingt jedoch eine verschärfte Kontrolle der Außengrenzen. So wie der Euro und der Binnenmarkt die Basis der wirtschaftlichen Union bilden, so markiert Schengen die territoriale Union. Schon im August 2010 geriet die französische Regierung in einen Konflikt mit Schengen. Im Rahmen einer rassistischen Kampagne gegen Roma und Sinti wurde deren Vertreibung und Abschiebung beschlossen und teilweise auch durchgeführt.

Der zweite Konflikt entzündete sich an den 25.000 TunesierInnen, die aufgrund ihrer, von Italien ausgestellten, Aufenthaltserlaubnis anfingen, innerhalb der EU weiterzureisen. Da viele von ihnen Frankreich als Ziel hatten, führte die französische Regierung kurzerhand wieder Grenzkontrollen zwischen Italien und Frankreich ein und brach damit zum zweiten Mal innerhalb weniger Monate europäisches Recht, wie die Europäische Kommission verlautbaren ließ.

Gleichzeitig wurde auch in Deutschland die Wiedereinführung von Grenzkontrollen an der deutsch-österreichischen Grenze gefordert, obwohl Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) eingestehen musste, dass er gar keine verlässlichen Zahlen über den Aufenthalt von tunesischen MigrantInnen in Deutschland habe. Den wenigen, in Bayern aufgrund einer intensivierten Schleierfahndung aufgegriffenen TunesierInnen konnte die Einreise nicht verweigert werden, da sie über ausreichend Bargeld verfügten und im Besitz von Pässen waren.

Anfang Mai erklärte dann die dänische Regierung als Zugeständnis an den kleineren, rechtspopulistischen Koalitionspartner, dass sie wieder Grenzkontrollen Richtung Deutschland und Schweden einführen würde. Zwar machte der Präsident der Europäischen Kommission, Manuel Barroso, deutlich, dass auch diese Maßnahme mit dem Schengener Vertragswerk unvereinbar sei, dennoch hat die dänische Regierung ihre Pläne keineswegs rückgängig gemacht.

Die Kommission griff in einer Mitteilung von Anfang Mai Forderungen aus Italien und Frankreich auf, eine Klausel zur Wiedereinführung von Grenzkontrollen angesichts von Flüchtlingsbewegungen einzuführen. Dies ist bisher nur bei außerordentlichen Anlässen möglich, welche z.B. die Sicherheit eines EU-Staats betreffen. Gleichzeitig will die Kommission die Schengen-Evaluation an sich ziehen. Dies würde ihr eine weitere Handhabe bieten, um Verstöße zu ahnden.

Antirassistische Intervention

Die Begebenheiten der letzten Monate haben noch einmal gezeigt, wie eng Außengrenze, Migration und Renationalisierung in Europa zusammenhängen. Angesichts der Erfolge rechtspopulistischer bis offen extrem rechterParteien in ganz Europa sowie dem Versuch, nationalstaatliche Grenzen wieder einzuführen, steht eine auch von AntirassistInnen zu begrüßende Errungenschaft der EU, dem Abbau von Grenzen innerhalb Europas, auf der Kippe. Versuche der europäischen antirassistischen Bewegung zu intervenieren, blieben vereinzelt. Dies mag auch damit im Zusammenhang stehen, dass eine Positionierung in der Frage Schengen hochkomplex ist. Entspricht der Wegfall von Grenzkontrollen im Wesentlichen einer Forderung nach »no border«, so ist die Schengen-Außengrenze zu Recht als zentrales Moment rassistischer europäischer Anti-Migrationspolitik identifiziert worden.

Sich in diesem Dilemma zu positionieren und für eine radikale Ausweitung des Schengenprinzips der Freizügigkeit über Europa hinaus zu plädieren, ist angesichts des anwachsenden Rassismus in Europa nicht einfach. Doch der Erfolg der Revolutionen im arabischen Raum ist gleichzeitig auch ein Scheitern des europäischen Projekts der Externalisierung von Migrationskontrolle. Diese hat sich im Wesentlichen auf Diktaturen gestützt und damit eine anti-demokratische Grenze hervorgebracht. Die Forderung nach sozialen und politischen Rechten in Nordafrika muss nun auch an Europas Grenzen und im Innern stark gemacht werden.