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Totalitarismus, Faschismus, Nationalsozialismus: Zur Aktualität eines Streits um mehr als Wörter

Dr. Gerd Wiegel (Gastbeitrag)
Einleitung

Anfang 2004 kam es zur spektakulären Aufkündigung der Mitarbeit des Zentralrats der Juden in Deutschland in der »Stiftung sächsischer Gedenkstätten«, die sich mit der Neukonzeption der Gedenkstättenarbeit in Sachsen beschäftigte. Was die Kritik von WN-BdA und PDS nicht erreichte, trat mit dem Schritt des Zentralrats ein. Die überregionalen Medien nahmen die geäußerte Kritik an den hier diskutierten Konzeptionen auf, die für den Zentralrat, aber auch die anderen Kritiker in der »sich abzeichnenden Analogisierung und Relativierung von NS-Verbrechen gegenüber denen des Stalinismus und der Staatssicherheit der DDR«1 bestand.

  • 1Zitiert nach Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5.2.2004.

Auch ein Teil der Debatte um den Totalitarismus: Das Schwarzbuch des Kommunismus. Der Herausgeber und Mitautor des Schwarzbuch Stephane Courtois (links) und der Bundesbeauftragte für die StaSi-Unterlagen Joachim Gauck (rechts).

In den Blick rückte dabei ein von der Unionsfraktion im Bundestag vorbereiteter Antrag, der ein Gesamtkonzept für NS- und DDR-Gedenkstätten nach sächsischem Vorbild forderte. Die inhaltlichen und geschichtspolitischen Implikationen werden im Titel des Antrags - »Förderung von Gedenkstätten zur Diktaturgeschichte in Deutschland - Gesamtkonzept für ein würdiges Gedenken aller Opfer der beiden deutschen Diktaturen« - und in einigen inhaltlichen Passagen deutlich, in denen die Einbeziehung von »Opfern von Krieg und Vertreibung« und »zivilen(n) Opfern der alliierten Luftangriffe des Zweiten Weltkriegs« gefordert wird.

Hier spiegeln sich zwei geschichtspolitische Konzeptionen, die in Deutschland eine lange Tradition haben: die identifizierende Totalitarismustheorie, die rechte und linke Diktatur, Faschismus (Nationalsozialismus) und Kommunismus als wesensgleich ansieht und der Versuch, den Status als Opfer des Faschismus (Nationalsozialismus) auch für einen großen Teil der Deutschen zu reklamieren - als Opfer von Krieg und Vertreibung.

Die bis heute unterschiedliche Sichtweise der NS-Vergangenheit wurde auch im Rahmen einer Debatte des Thüringischen Landtags im November 2004 zum Thema Rechtsextremismus deutlich. Sichtlich entnervt von den historischen Verweisen der PDS-Fraktion auf den Faschismus in Deutschland bemerkte ein CDU-Abgeordneter, es habe in Deutschland überhaupt keinen Faschismus gegeben. Diese Äußerung führte zu Tumulten und schließlich zu einem offenen Brief einer PDS-Parlamentarierin an die CDU-Vorsitzende, Angela Merkel. Vermutet wurde, der Abgeordnete habe die faschistische Vergangenheit in Deutschland leugnen wollen, dabei ging es sehr viel wahrscheinlicher um eine begriffliche Definition dieser Vergangenheit, die von konservativer Seite immer als »Nationalsozialismus« und nie als Faschismus bezeichnet wird.

Die hier skizzierten aktuellen politischen Diskurse zur deutschen Vergangenheit zeigen, dass die geschichtspolitische Brisanz des Themas bis heute anhält. Trotz einem zeitweiligen Abebben der Debatte nach den Diskussionen um Wehrmacht, Goldhagen und Mahnmal in den neunziger Jahren, ist bis heute kein Thema so leicht skandalisierbar und für politische Zwecke nutzbar, wie die NS-Vergangenheit. Die gegenwärtige politische Indienstnahme hat etwas mit dem generellen Verständnis dieser Vergangenheit zu tun, ihrer definitorischen Einordnung und der daraus ableitbaren politischen Bewertung. »Politische Diktatur des Monopolkapitals« oder »totalitäre Vernichtung der bürgerlich-liberalen Gesellschaft«, mit diesen zwei Sichtweisen (gleichsam die beiden Pole der Debatte) verbinden sich unterschiedliche politische Reaktionen auf die Vergangenheit und unterschiedliche Bewertungen gegenwärtiger politischer Konzeptionen.

Totalitarismus, Faschismus, Nationalsozialismus, welcher Begriff trifft den Gegenstand am besten? Welche geschichtspolitischen Implikationen verbinden sich mit den jeweiligen Begriffen? Ausgehend von einer Kritik des Totalitarismusbegriffs sollen hier die Möglichkeiten und Grenzen des Faschismusbegriffs diskutiert werden.

Totalitarismustheorie1

Die Genese des Totalitarismusbegriffs liegt im Italien der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Hier versuchten bürgerliche Intellektuelle die neuartige Erscheinung der faschistischen Bewegung, welche die ganze italienische Gesellschaft durchdrang, zu beschreiben. Die Selbstaussagen des ab 1922 unter Mussolini regierenden Regimes, man wolle eine totale Durchdringung des Staates, führte zu einer Verstetigung des Begriffs, der sich hier noch in keiner Weise auf den Kommunismus der Sowjetunion bezog. Dies geschah erst ab den dreißiger Jahren, als die Sowjetunion zusammen mit dem Faschismus in Italien und Deutschland als Bedrohung für des Westen wahrgenommen wurde.2

Für das bis heute vorherrschende Begriffsverständnis des Totalitarismus war die Entwicklung der Theorie nach 1945 von entscheidender Bedeutung. In der Ausprägung der beiden US-amerikanischen Politikwissenschaftler Carl Joachim Friedrich und Zbigniev Brezezinski nahm die Totalitarismustheorie eine kanonisierte Form an, die für die frühe Bundesrepublik als verbindlich galt. Friedrich / Brezezinski sehen Kommunismus und Faschismus3 als wesensgleich (»basiacly alike«) an, was sie an einem sechs Punkte umfassenden Kriterienkatalog zur Definition des Totalitarismus verdeutlichen: Dieser umfasst 1. eine offizielle Ideologie, 2. eine Massenpartei, 3. eine terroristische Geheimpolizei, 4. ein Nachrichtenmonopol, 5. ein Waffenmonopol und 6. ein System zentraler Wirtschaftslenkung.4

Worum geht es in der Auseinandersetzung mit dieser auf den ersten Blick recht einleuchtenden Theorie? Zunächst geht es um die Frage, ob sich bei einem Vergleich zwischen Faschismus/Nationalsozialismus auf der einen und Kommunismus auf der anderen Seite insgesamt mehr Unterschiede oder mehr Gemeinsamkeiten in wesentlichen Fragen ergeben. Die Antwort fällt unterschiedlich aus, je nach dem, was für wesentlich gehalten wird. Ein zentrales Problem beim Streit um die Totalitarismustheorie liegt in der Bewertung des Verhältnisses von Form und Inhalt, Mittel und Zweck, Umsetzung und Intention von Herrschaftsprinzipien.

Die grundsätzliche Schwäche der Totalitarismustheorie liegt darin, dass sie jeweils die eine Komponente dieser Dichotomien völlig vernachlässigt (Inhalt, Zweck, Intention) um gleichzeitig die andere Komponente um so stärker hervorzuheben: Form, Mittel und Umsetzung von Herrschaftsprinzipien. Kann aber eine vorn Inhalt der Herrschaft abstrahierende Beschreibung der Herrschaftsformen und -methoden zu brauchbaren Erkenntnissen führen? Bis zu welchem Grad »heiligt« welcher Zweck welche Mittel?'

Und: Macht es für die Bewertung der Herrschaftsausübung einen Unterschied, wie die ihr zugrunde liegende Motivation bewertet wird? Die Beschränkung auf Phänomene wie die Herrschaftsstruktur und die Vernachlässigung der Analyse der Herrschaftsfunktion, d.h. die Beschränkung auf das »Wie?« und die Ausblendung des »Warum?« und »Wozu?«, machen die Totalitarismustheorie untauglich für eine Erfassung des gesamten untersuchten Herrschaftssystems. Da somit die Ursprünge einer »totalitären Entwicklung« nicht erfasst werden können, ist die Theorie zugleich untauglich, eine solche Entwicklung verhindern zu helfen.

Fraglich ist, ob phänomenologische Gemeinsamkeiten zwischen Faschismus und Stalinismus hinsichtlich der Herrschaftsstruktur die Propagierung einer entsprechenden Theorie als dominierendes wissenschaftliches Orientierungsmodell rechtfertigen. Nach der hier vertretenen Auffassung müssen die vielfältigen Unterschiede zwischen beiden Herrschaftssystemen dazu führen, dass für beide je eigenständige Erklärungsansätze weiterentwickelt werden müssen, d.h. eine Faschismus- und eine Stalinismustheorie.

In der Frage nach der Dominanz im wissenschaftlichen Diskurs deutet sich gleichzeitig das Problem der politischen Instrumentalisierbarkeit beider Vorgehensweisen an. Zu beachten ist, dass die differenzierteren Ansätze der Totalitarismusforschung dieses Dilemma zur Kenntnis nehmen und ihren Ergebnissen keinen »Alleinvertretungsanspruch« beimessen. Die Erkenntnisse der Totalitarismustheorie zur Herrschaftsstruktur bedürfen nach solchen Einschätzungen der Ergänzung durch Forschungen zur Herrschaftsfunktion. In solchen Fällen wird die Totalitarismustheorie als eine von vielen möglichen Herangehensweisen beurteilt, die gleichberechtigt nebeneinander stehen.5

Liefert die Totalitarismustheorie wesentliche Erkenntnisse zum Verständnis der Herrschaftssysteme? Hierzu ist festzuhalten, dass das Totalitarismuskonzept hinsichtlich der Herrschaftsstruktur Aspekte hervorgehoben hat, die von anderen Theorien vernachlässigt wurden. Dazu zählt die Feststellung von Ähnlichkeiten in der Ausformung der Legitimationsideologien, z.B. das Motiv der Schaffung eines »neuen Menschen«, das manichäische Weltbild mit seinen Freund/Feind-Schemata und der historischen Determinismus. Dennoch leistet dieses Konzept nicht, was von einer Theorie zu erwarten ist, nämlich eine Erklärung der Entstehung von Herrschaftssystemen.

Es bleibt auf der Stufe der Beschreibung stehen. Insofern kann eher von einem Totalitarismusmodell gesprochen werden. Sobald die Fragen des Inhalts der Herrschaft oder der gesellschaftlichen Interessen einbezogen werden, muss das Totalitarismusmodell durch Elemente anderer Theorien ergänzt werden. Gleichzeitig führt die schablonenhafte Analyse von Herrschaftsstrukturen nicht selten dazu, dass Elemente der Herrschaftssysteme ignoriert werden, die durch das vorgegebene Modell nicht erfasst werden. Die Herangehensweise besteht in einer Übertragung ideologisch vorgeformter Konzepte auf eine passgerecht und entsprechend selektiv wahrgenommene Wirklichkeit und nicht in der Ableitung einer wissenschaftlichen Theorie aus den vorgefundenen Elementen der Herrschaftssysteme.

Greift man in diesem Zusammenhang auf das Sechs-Punkte-Schema von Friedrich / Brzezinski zurück, so zeigen sich hier deutliche Schwächen: Bei der Kriterienauswahl wird selbst ein solch fundamentales Phänomen wie der faschistische Angriffs- und Vernichtungskrieg nicht als Element der Herrschaftsstruktur erfasst. Ohne vom Totalitarismusmodell abzuweichen, stellt z.B. Wolfgang-Uwe Friedrich fest: »Zweifellos muss die auf Krieg und Vernichtung orientierte Aggressionspolitik als herausragendes Merkmal der NS-Diktatur betont werden. Nur ist dies im Gegensatz zum Herrschaftssystem nicht konstitutiv für den Totalitarismus.«6

Dabei ist diese Aggressionspolitik unbestreitbar Teil der Herrschaftsstruktur. Wenn ein solches Merkmal nicht einbezogen werden kann, weil dies dem Konzept der Theorie zuwiderläuft - obgleich die Frage nach dem Zweck der Aggressionspolitik dabei nicht einmal gestreift wird -, dann ist fraglich, was die Totalitarismustheorie zu leisten imstande ist. Die bei der Kritik am Faschismusmodell angeführte Vernachlässigung des Holocaust als zentrales Element des NS-Regimes wird von Vertretern der Totalitarismustheorie überhaupt nicht systematisch behandelt. Allenfalls in Arbeiten, die aus der ungeheuren Opferzahl kommunistischer Regime und des NS-Regimes eine Gleichartigkeit ableiten, so etwa in Teilen das »Schwarzbuch des Kommunismus«7 , kommt der Holocaust vor, ohne seine Genese in den Blick zu nehmen. Schließlich müssen die politischen und wissenschaftlichen Konsequenzen, die das Totalitarismusmodell nahelegt, in den Blick genommen werden.

Seine praktische Verwendung findet es in zwei Bereichen: einerseits in der Diskreditierung linker Politikentwürfe, andererseits in der Legitimation des parlamentarisch-demokratischen Systems westlicher Prägung, welches das Gegenmodell zum Totalitarismus abgibt. Diente die Totalitarismustheorie nach 1945 in der Bundesrepublik zur Legitimierung des aktuellen Feindbildes Sowjetunion, die, im Gegensatz zum Faschismus, als lebender Gegner betrachtet wurde, so spielt sie bis heute eine Rolle bei der Diskreditierung aller linken, systemoppositionellen Vorstellungen. Hier erscheint sie im Gewand der Extremismustheorie, die die »Extreme von rechts und links« fein säuberlich von der demokratischen Mitte des Verfassungsstaates separiert.8

Ein solcher Ansatz ignoriert die historische Tatsache, dass die Weimarer Republik durch die Eliten aus Politik und Wirtschaft an die Nazibewegung ausgeliefert wurde. Ein solcher Ansatz ist blind für die Tatsache, das die Ideologeme der extremen Rechten ihren Platz weit in der Mitte des gesellschaftlichen Raums haben.9

Faschismustheorie

Faschismus als Begriff leitet sich von der Selbstbezeichnung der italienischen »Fasci di combattimento« ab, dem von Mussolini organisierten Bund (fascio = Bund), der eine gewaltsame »Wiedergeburt der Nation« anstrebte. Als Bezeichnung eines ideologischen Herrschaftssystems wurde »Faschismus« zur Bezeichnung zahlreicher politischer Regime in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wissenschaftlich ist der Begriff bis heute umstritten: In Frage steht, ob die verschiedenen so bezeichneten Regime eine Schnittmenge in ideologischer Ausformung und politischer Praxis aufweisen, die es rechtfertigt, sie, bei allen Unterschieden, mit einem gemeinsamen Begriff zu kennzeichnen.10

War der Faschismusbegriff in der bürgerlichen Wissenschaft der Bundesrepublik schon immer umstritten, so gilt er verstärkt seit 1989/90 als ideologischer Kampfbegriff einer vermeintlich diskreditierten DDR-Historiographie. Neben dieser älteren Kritiklinie entwickelte sich eine linke Kritik am Faschismusbegriff, die in einer vergleichenden Faschismusforschung eine Nivellierung und Verharmlosung des vom NS-System in Gang gesetzten Völkermordes an den europäischen Juden sah, Die Shoah ist in dieser Sichtweise der ideologische und reale Kerngehalt des zwischen 1933 und 1945 in Deutschland herrschenden politischen Systems, alle Vergleiche mit anderen Systemen stellten eine Verharmlosung dar.

Diese Kritik am Faschismusbegriff gründet auf der tatsächlichen Nicht-Thematisierung der Vernichtung der europäischen Juden als exzeptionellen Akt des NS-Regimes durch zahlreiche Ausprägungen der Faschismusforschung in der Bundesrepublik und der DDR, Mit dieser berechtigten Kritik ist jedoch kein Vorschlag verbunden, wie das zwischen 1933 und 1945 in Deutschland herrschende Regime bezeichnet werden soll. Ebenso wenig ist die Behauptung unumstritten, Antisemitismus und Vernichtungspolitik seien von Anfang bis Ende der zentrale Kern des Regimes gewesen.

Mit der Bezeichnung »Nationalsozialismus« wird die Selbstetikettierung des Regimes übernommen und dessen behauptete Orientierung an einem nationalen »Sozialismus« für bare Münze genommen, Angesichts Ermordung zahlreicher Sozialisten und der expliziten Ablehnung des Marxismus verbietet sich eine solche Übernahme, Erkenntnisfördernder scheint ein Anknüpfen an differenzierte Formen der Faschismustheorie zu sein, die Faschismus als Ausdruck ideologischer, kultureller Strömungen sehen, die in einer bestimmten, krisenhaften Phase der kapitalistischen Entwicklung zur Macht gelangten und deren Funktion aus Sicht der jeweiligen Eliten u.a. darin bestand, die sozialistische Auflösung der Krisenerscheinungen zu verhindern.

Die einzelnen faschistischen Regime unterscheiden sich in ihrer konkreten Ausprägung stark, für die Begriffsbildung ist die Frage entscheidend, ob der kleinste gemeinsame Nenner ausreichend ist, um einen gemeinsamen Begriff zu verwenden. Karin Priester nennt »vier ineinandergreifende und sich bedingende Krisen«, die den historischen Faschismus hervorgebracht haben: »a) das Trauma des verlorenen Krieges (dies gilt auch für Italien; offiziell stand es zwar auf Seiten der alliierten Siegermächte; die nationalistische und frühfaschistische Propaganda verwob aber diverse Frustrationen und Enttäuschungen sehr rasch zum Mythos vom 'verstümmelten Sieg'); b) die ökonomische Krise bei gleichzeitiger Präsenz einer starken und gut organisierten, mehrheitlich reformistischen Arbeiterbewegung; c) die Krise der politischen Institutionen des parlamentarischen Parteienstaates; d) die ideologische Weltanschauungskrise des Bürgertums mit dem wachsenden Stellenwert von Lebensphilosophie, Vitalismus, Gewalt-, Männlichkeits- und Heldenverherrlichung bei einem traditionellen, aber keineswegs originellen Frauenbild,«11 Neben diesen historischen Voraussetzungen des Faschismus lässt sich der Begriff in weitere Dimensionen aufgliedern.

Karl Heinz Roth schlägt folgende Ebenen vor: »In jeder Untersuchung sollten wir darüber hinaus zwischen drei Reflexionsebenen unterscheiden: Erstens zwischen der faschistischen Ideologie als gouvernementalem Gebrauch von Massenerfahrung, Mentalitäten und Massenvorurteilen; zweitens zwischen der kontextabhängigen faschistischen Programmatik, aber auch programmatischen Entscheidungsvarianten; und drittens zwischen der zur Realität gewordenen politischen Sozialgeschichte, die wir anhand der Quellen rekonstruieren«.12

Stimmt man der Einschätzung zu, dass die Gemeinsamkeiten in der historischen Genese der Faschismen eine gemeinsame Kennzeichnung rechtfertigen, dann spricht nichts dagegen, die offensichtlichen Unterschiede zu benennen; für den deutschen Faschismus das ideologische Primat auf Antisemitismus und Rassismus, Die einst von Ernst Nolte vorgenommene Unterscheidung in »Normalfaschismus« und »Radikalfaschismus« kann nutzbar gemacht werden.13

Trefflich lässt sich über eine angemessene Definition des Faschismus streiten, die sich von schematischen Einengungen lösen muss und in der jüngeren, allerdings bislang schmalen Debatte, auch produktiv überwunden wurde.14 Hält man allerdings an der Ansicht fest, dass im wissenschaftlichen Bereich theoretische Begriffe nicht der Beliebigkeit oder der politischen Opportunität unterliegen, sondern eine Erkenntnisfunktion besitzen, so trägt der Faschismusbegriff zu diesem Erkenntnisgewinn deutlich mehr bei, als sein Pendant »Nationalsozialismus«.

Dr. Gerd Wiegel ist Politikwissenschaftler und Mitarbeiter bei MOBIT in Thüringen

  • 1Der folgende Abschnitt beruht auf der Darstellung in Robert Erlinghagen / Gerd Wiege!, Das Totalitarismuskonzept: Zum wissenschaftlichen Gebrauch einer politischen Theorie, in: Johannes Klotz (Hg.), Schlimmer als die Nazis J .Das Schwarzbuch des Kommunismus« und die neue Totalitarismusdebatte, Köln 1999, S. 156-187.
  • 2Die Abhängigkeit des Begriffs von politischen Konjunkturen verdeutlicht sich in der Tatsache, dass mit Beginn der Anti-Hitler-Koalition die SU keineswegs mehr als totalitär bezeichnet wurde, was sich dann ab 1945/46 wieder änderte.
  • 3Trotz der bis heute auf konservativer Seite andauernden Ablehnung des Faschismusbegriffs wurde und wird der Bewertung des .Nationalsozialismus« als Totalitarismus vehement zugestimmt, wiewohl Friedrich / Brezezinski .Faschismus« und Kommunismus miteinander verglichen. Der Grund liegt in der politisch willkommenen Implikation des Totalitarismusbegriffs, für die aus dem Nationalsozialismus gerne auch ein Faschismus werden darf.
  • 4Vgl Carl J. Friedrich, Totalitäre Diktatur, Stuttgart 1958
  • 5Dass ein bestimmter Zweck auch Gewalt als letztes Mittel »heiligen« kann, wird wohl auch von den Vertretern der Totalitarismustheorie z.B. bei der Bewertung der militärischen Niederschlagung der Nazi-Herrschaft nicht bestritten werden. Bei der Bewertung von Gewalt kommt es also gerade auf die Analyse des Verhältnisses zwischen Mittel und Zweck an.
  • 6Zu anderen, differenzierteren Ansätzen der Totalitarismustheorie vgl. Erlinghagen / Wiegel, Das Totalitarismuskonzept, a.a.O.
  • 7Wolfgang-Uwe Friednch, Denkblockaden: Das Totalitarismusmodell aus der Sicht der PDS, in: Rainer Eckert / Bernd Faulenbach (Hg.), Halbherziger Revisionismus: zum postkommunistischen Geschichtsbild, München 1996, S. 111139, hier S. 131. Friedrich sieht darin ein Argument, auch die DDR als totalitär etikettieren zu können, obwohl ihr eine solche Aggressionspolitik nicht unterstellt werden kann.
  • 8Das Dresdner Hannah-Arendt-Institut und die Politikwissenschaftler Uwe Backes und Eckhardt Jesse sind die führenden Vertreter dieses Ansatzes. Vgl. das von ihnen herausgegebene Jahrbuch Extremismus & Demokratie.
  • 9Vgl. hierzu Wilhelm Heitmeyer, Deutsche Zustände (bisher 3 Folgen), Frankfurt a.M. 2002-2004.
  • 10Vgl. zur Faschismustheorie generell Reinhard Kühnl, Faschismustheorien, Reinbek 1979; Richard Saage, Faschismustheorien, München 1976, Wolfgang Wippermann; Europäischer Faschismus im Vergleich 1922-1982, Frankfurt a.M.1983.
  • 11Karin Priester, Faschismus war mehr als Rassismus, in: Werner Loh / Wolfgang Wippermann, »Faschismus« - kontrovers, Stuttgart 2002, S. 125-130, hier S. 128 f. (Hervorhebung im Orig.) Hier auch weitere interessante Aufsätze zur Debatte um die Begriffe Faschismus und Totalitarismus.
  • 12Karl Heinz Roth, Faschismus oder Nationalsozialismus? Kontroversen im Spannungsfeld zwischen Geschichtspolitik, Gefühl und Wissenschaft, in: Sozial.Geschichte 2 (2004), S. 31-52, hier S. 32 f.
  • 13Vgl. Ernst Nolte, Der Faschismus in seiner Epoche, München 1990 (8. Auflage). Bei aller späteren Faschismusapologetik Noltes bleibt diese Arbeit weiterhin anregend.
  • 14Vgl. neben den genannten Arbeiten Sven Reichardt, Faschistische Kampfbünde. Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA, Köln, Weimar, Wien 2002.