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Theorie-Debatte zu „Ultranationalismus“ und „Neofaschismus“

Mathias Wörsching (faschismustheorie.de)

In diesem wenige Dutzend Seiten langen wissenschaftlichen Text von September 2021 behandelt der Politologe und Journalist Felix Korsch zwei Hauptthemen: Erstens das Verhältnis von Nationalismus und Faschismus und zweitens die Frage, ob es in Europa heute einen neuartigen Faschismus, einen „Neofaschismus“, gibt und was diesen kennzeichnet.

Wie F. Korsch belegt, fassen viele seit den 1960er Jahren entstandene Theorien den Faschismus als radikale und besonders aggressive Form von Nationalismus auf. Aber die Abgrenzung des Faschismus innerhalb des nationalistischen Spektrums bleibt unscharf. Was als typisch faschistisch beschrieben wurde, lässt sich Korsch zufolge in der gesamten Geschichte des Nationalismus und auch außerhalb faschis­tischer Strömungen finden. Dabei setzt sich Korsch vor allem kritisch mit der vielbeachteten Faschismusdefinition des britischen Gelehrten Roger Griffin von 1993 auseinander. Dieser hatte den Faschismus in ideologischer Hinsicht als „populistischen“ (anti-elitären, klassenübergreifenden) Ultranationalismus mit dem zentralen Mythos einer „Palingenese“ (Wieder- oder Neugeburt) der Nation bestimmt.

Korsch plädiert für eine Hinwendung zur Nationalismusforschung und stimmt dem Potsdamer Wissenschafler Gideon Botsch zu: Man solle statt von „Rechtsradikalismus“ und „Rechtsextremismus“ besser von „radi­kalem Nationalismus“ sprechen und schreiben (S. 45).

Dennoch sind Faschismusforschung und Faschismustheorien, international heute üblicherweise fascist studies genannt, laut Korsch geeignet, um Kern­elemente des Faschismus in der Gegenwart aufzufinden und ernstzunehmen, und zwar ohne „vorschnelle Identifizierungen“ und „schiefe Analogien“, stattdessen mit gründlichem Nachdenken (S. 3/4). Unter Berufung auf zahlreiche Analysen Anderer hält Korsch zunächst fest, dass sich die heutige gesellschaftliche Lage in Europa grundlegend von derjenigen des historischen Faschismus nach 1918 unterscheidet. Der Neofaschismus müsse sich an zahlreiche für ihn ungünstige Umstände anpassen; er könne kein „full scale neofascism“ (S. 32) sein. Korsch macht auf drei wesentliche Merkmale aufmerksam.

Erstens: Die Organisationsstrukturen haben sich verändert. Statt der früheren Massenorganisationen herrschen heute einerseits kleinere, fest geschlossene „Splittergruppen“ (groupuscules, insular groups), andererseits wenig formalisierte Netzwerke vor. Diese können gelegentlich enormen Einfluss in der extremen Rechten gewinnen. Korsch nennt als Beispiele die Personenkreise um Bachmann (PEGIDA) und Höcke (AfD).

Zweitens: Ausgehend von der 1996 vorgelegten „Euronationalismus“-These des Historikers Walter Laqueur beschreibt Korsch eine ideologische Verschiebung im Neofaschismus zu ethnopluralistischen, teilweise regionalistischen Europa-Konzepten („Europa der Nationen und Regionen“, „Festung Europa“).

Drittens: Beide Entwicklungstendenzen, die organisatorische und die ideologische, sind bei der „Neuen Rechten“ besonders ausgeprägt. Deren rechtsintellektuelle Netzwerke, die seit den 1960er Jahren an der Reformulierung und Rehabilitierung des Faschismus arbeiten, und die von diesen am stärksten beeinflussten Teile der extremen Rechten, etwa die „Identitären“, wären also die vorrangigen Träger des Neofaschismus.

Korsch hat seinen Text gespickt mit Zitaten aus der Fachliteratur, was für Menschen mit Vorkenntnissen erhellend, für solche ohne jedoch erschwerend wirken kann. Außerdem ist der Schreibstil nicht unbedingt auf einfache Lesbarkeit angelegt. Aber beides ändert nichts daran, dass es sich um einen anregenden und gehaltvollen Beitrag zu einer aktuellen Fachdebatte handelt.

Korsch, Felix
Im Kern faschistisch. Annäherung an einen umstrittenen Begriff.
Reihe „Luxemburg-Beiträge“
erschienen September 2021

Download unter:
www.rosalux.de/fileadmin/images/publikationen/luxemburg_beitraege/lux_beitr_4_Im_Kern_faschistisch_web.pdf