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Stadt der Vielfalt?

Arbeitsgruppe Vielfalt beim Bildungskollektiv Biko

Im Jahr 2009 wurde Erfurt von der Bundesregierung die Auszeichnung zur »Stadt der Vielfalt« verliehen. Dass dieser Titel vielmehr ein schmückendes Beiwerk der auf Tourismus schielenden thüringischen Landeshauptstadt, denn gesellschaftliche Realität darstellt, wird hier anschaulich verdeutlicht.

Die auf Interviews von neonazistischer und rassistischer Gewalt Betroffener, Hintergrundberichten zivilgesellschaftlich und unabhängig antifaschistisch engagierter Gruppen sowie Analysen zur Situation in Erfurt aufbauende Broschüre, zeichnet das Bild einer Stadt, die tatsächlich ein hohes Maß an »Vielfältigkeit« zu bieten hat. Doch »vielfältig sind in Erfurt nur die Neonazis.« Wobei die Broschüre, und dies ist eine ihrer Stärken, nicht nur neonazistische Aktivitäten und Organisationsansätze zu beleuchten weiß, sondern alltäglichen Rassismus, Polizeigewalt und Repression sowie eine auf Konsum basierende Innenstadtverdrängung thematisiert.

Einleitend gibt die Broschüre Betroffenen von rassistischer Diskriminierung und neonazistischer Gewalt Raum ihre Alltagserfahrungen zu schildern. »Ich bin schwarz, bin keine Deutsche, keine Europäerin, also werde ich hier ohne Respekt behandelt. Das ist meine Perspektive: Ich bin nicht willkommen in Erfurt«, so das Fazit einer Interviewten. Diese Einschätzung beruht nicht alleine auf der Zunahme neonazistischer Angriffe in Erfurt, sondern vielmehr auf gemachte Erfahrungen mit der Polizei. Diese setzt nicht nur repressive Innenstadtverordnungen um (so ist es verboten, sich als Gruppe regelmäßig an den gleichen Orten zu treffen, um niemanden zu »stören«) sondern sie scheint in hohem Maße gegen linke, subkulturelle Menschen vorzugehen und zu Neonazis zum Teil fast freundschaftliche Beziehungen zu pflegen. Kein Wunder also, dass Polizeigewalt und -handeln ebenfalls einen großen Teil der Berichterstattung einnimmt. Angesichts dessen wirkt der (kurze) Beitrag der Beratungsstelle ezra zu »polizeilichem Fehlverhalten« im besten Falle naiv, schlechterdings verharmlosend, stellt damit aber auch eine Ausnahme dar.

Auch wenn eine Konsequenz aus der Auseinandersetzung mit diesen vielfältigen Problemlagen für linke Gruppen in Erfurt darin bestand, im Oktober 2012 eine Demonstration zu organisieren und auf diesem Wege eine öffentliche Debatte über die Verhältnisse anzuregen, scheint die Dokumentation des Aufrufs sowie diverser gehaltener Redebeiträge im Vergleich zum Rest der Publikation doch etwas arg raumeinnehmend.

Die hier zusammengestellten Texte sind aber nicht nur für Thüringer_innen von Interesse, sondern können als Beispiel für ähnliche Auseinandersetzungen in anderen Städten dienen, die (noch) nicht dokumentiert sind.

Arbeitsgruppe Vielfalt beim Bildungskollektiv Biko:
Stadt der Vielfalt? Rassismus, soziale Ausgrenzung und Nazigewalt in Erfurt
edition assemblage – Reihe Antifaschistische Politik [RAP]
Münster, 2013