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Rassismus in nationalsozialistischer Tradition

Christoph Schulze

Eine Biografie über den Neonazi Jürgen Rieger erklärt sich möglicherweise denjenigen nicht auf Anhieb, die mit dem Namen nichts anfangen können. Der 2009 mit 63 Jahren in Berlin gestorbene Neonazi war einerseits ein Sonderling, prägte aber auf unterschiedlichen Ebenen jahrelang die bundesdeutsche Neonaziszene und war mit führenden Protagonisten bestens vernetzt.

Er fungierte als Ideologieproduzent, entwickelte die nationalsozialistischen Rassevorstellungen weiter und wirkte als Brückenbauer zwischen verschiedenen Kreisen der extremen Rechten. Zudem vertrat er als Szeneanwalt regelmäßig diverse Neonazis und Holocaustleugner vor Gericht und war in den 2000er Jahren Anmelder und Mitorganisator der „Rudolf Heß Gedenkmärsche“ in Wunsiedel.

Er versuchte für die Szene Immobilien zu erwerben und der von ihm geführte völkisch-rassistische Verein „Artgemeinschaft“ wurde „funktional zu einer prägenden Milieuorganisation des militanten Neonazismus“. So waren der im Lübcke-Mord angeklagte Stefan Ernst und mehrere Protagonisten des NSU-Unterstützungsnetzwerkes Mitglieder im Verein oder nahmen an Veranstaltungen der „Artgemeinschaft“ teil, darunter auch Beate Zschäpe selbst.

Zuletzt war Rieger stellvertretender Bundesvorsitzender der NPD, wobei er die Partei jahrelang als zu gemäßigt kritisierte und in ihr als Repräsentant des traditionalistisch-nationalsozialistischen Flügels fungierte.

Rieger stand zudem im Austausch mit wichtigen Protagonisten der „Neuen Rechten“. Seine Warnungen vor einem „Volkstod“ durch einen „Bevölkerungsaustausch“ sowie die Nutzung „von Migration als Kampagnenthema“ finden sich bis heute in deren politischen Agenda: Riegers „Rassismus bildet eine Brücke zu neueren neonazistischen Dogmen, zu den rassistischen bevölkerungspolitischen Schriften eines Thilo Sarrazin bis zu den Parolen der Identitären Bewegung“, so Schulze. Rieger war also nicht nur seit Jahrzehnten Teil des bundesdeutschen Neonazismus, sondern prägte die extreme Rechte an einigen Stellen selbst mit.

Darüber hinaus oder gerade deswegen lassen sich anhand seiner Vita Entwicklungen und Geschichte der bundesdeutschen extremen Rechten nachzeichnen und auch veranschaulichen, wie Protagonisten des historischen Nationalsozialismus im Nachkriegsdeutschland weiter agierten und Anhänger ihrer Ideen keineswegs verschwanden. Dies ist ein Aspekt, den Autor Christoph Schulze mit seinem Buch bewusst mitdenkt: „Jürgen Rieger eignet sich als Exempel, um diese Kontinuität des Rechtsextremismus in der Bundesrepublik nachzuzeichnen. Seine Biografie berührt allgemeine Tendenzen, die in der Lagerbildung, bei den politischen Reproduktionstechniken und bei der direkten politischen Einflussnahme des Rechtsextremismus anzutreffen sind. Mehr noch agierte Rieger als Protagonist mehrerer konkreter, für den Rechtsextremismus wichtiger Organisationen.“Konkret gliedert Schulze seine Rieger-Biografie in zehn Kapitel, die die verschiedenen Aspekte seines Wirkens eingehender beleuchten.

Es steigt mit einer knappen Schilderung Riegers Lebensstationen und seiner Politisierung ein, untersucht dann in den Kapiteln „Rassismus in nationalsozialistischer Tradition“ und „Rassen-Religion und Antisemitismus“ seine Aktivitäten in der Weiterentwicklung der nationalsozialistischen Rassenlehre, die für das neonazistische Milieu prägend wurden. Die Folgekapitel widmen sich Einzelaspekten der Aktivitäten Riegers, die unter selbsterklärenden Überschriften „Rechtsanwalt“, „Gewalt- und Straftäter“, „Bewegungsförderer“, „Organisator und Mittler“ sowie „Engagement für die NPD“ stehen. Den Abschluss bildet das Kapitel „Nachleben“, in dem Schulz resümiert: „Das Vermächtnis Riegers wirkt also fort. Sein Leben widmete er der Stabilisierung und Stärkung eines militanten, rassistisch-antisemitischen Rechtsextremismus in der Tradition des Nationalsozialismus. Die Gefahren, die von diesem Lager ausgehen, sind nicht gebannt.

Die Rieger-Biografie von Christoph Schulze ist eine angenehm zu lesende, zeitgeschichtliche Untersuchung eines wichtigen Akteurs des deutschen Neonazismus, der als „Brückenbauer zwischen den Generationen“ mit anderen dafür sorgte, „dass die NS-Ideologie an jüngere Rechtsextreme weitergegeben wurde. (...) Trotz seiner unverbrüchlichen Treue zur NS-Ideologie war Jürgen Rieger daran interessiert, an programmatischen und begrifflichen Innovationen mitzuwirken“.

Zum Verständnis und auch zur Bekämpfung der aktuellen extremen Rechten ist das Wissen um ihre Entstehung und Entwicklung von wichtiger Bedeutung. Mit seiner Publikation leistet Schulze einen gewinnbringenden Teil dazu bei.

Christoph Schulze

"Rassismus in nationalsozialsitischer Tradition - Der Neonazi Jürgen Rieger (1946–2009)"

ISBN 978-3-86331-544-3

144 Seiten, 16,00 €

Metropol Verlag, Berlin, 2020