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Querdenken

Wolfgang Benz

Im Zuge der Corona-Pandemie ist unter dem Begriff „Querdenken“ eine Szene entstanden, die sich zusammengefunden hat unter dem Deckmantel staatliche Maßnahmen der Pandemieeindämmung zu bekämpfen und für individuelle Freiheits- und gesellschaftliche Grundrechte einzustehen. Von Beginn an kamen hier unterschiedliche Akteur*innen zusammen und es entstand ein Netzwerk das Impfgegner*innen mit Neonazis und Reichsbürger-Szene, Antroposoph*innen mit AfD-Politiker*innen und Sektenmitglieder mit Verschwörungsgläubigen vereint hat. Wolfgang Benz attestiert diesem Milieu in seinen einleitenden Überlegungen das Bewusstsein, „die einzig richtige Weltsicht zu praktizieren“ und dieses zu verbinden mit einem Aktivismus der „ohne konkrete Ziele angetrieben“ sei. Wenn der zwar exzessiv zur Schau gestellte Egoismus der Pandemieleugner*innen und die manchmal skurril anmutenden Demonstrationsteilnehmenden zu solchen Aussagen verleiten mögen, ist die Bezeichnung der neonazistischen Organisation „Freie Sachsen“ als Sekte schlichtweg falsch und beide Sichtweisen erschweren vielmehr die fachliche Analyse und Beschreibung des Protestgeschehens.

Äußerst empfehlenswert hingegen sind besonders die Beiträge vom Recherchenetzwerk AS zum Einfluss fundamentalistischer Sekten sowie von Claudia Barth zur „Basisdemokratischen Partei Deutschland“ (dieBasis). Wird diese Partei zuvorderst mit dem Kampf gegen Pandemieschutzmaßnahmen assoziiert, legt Barth einen Schwerpunkt auf die spirituell-esoterischen und besonders antroposophischen Grundlagen. So stellt das gesellschaftspolitische Konzept Rudolf Steiners zur Umgestaltung des Staates – die „Soziale Dreigliederung“ – das Gliederungskonzept des Parteiprogramms dar. Mit dieser Dreigliederung war Steiner bestrebt, „einen dritten Weg zwischen kapitalistischer und sozialistischer Gesellschaftsordnung zu finden“, der auf seine spirituelle Lehre aufbaut und als Leitlinie im politischen Handeln der dieBasis Einzug gefunden hat. Darüber hinaus ist u.a. eine „menschen- und naturgemäße Gesellschaftsordnung“ zu einem „grundlegenden Prinzip“ der Partei erklärt wurden und zeige sich in der „Einheit von Natur, Kosmos und Mensch“. Diese Einheit werde durch die moderne Zivilisation jedoch unterbrochen. Ein ideologisierter Naturbezug findet sich entsprechend bereits im Logo. „Sie ersann dafür vier vertikale, parallele farbige Streifen, die für die ‚vier Säulen‘ stehen, auf denen die Partei ihre Grundsätze aufbaut (Freiheit, Machtbegrenzung, Achtsamkeit, Schwarmintelligenz). Der grüne Streifen symbolisiert die mit der Natur in eins gesetzte Freiheitsvorstellung: ‚Ganz natürlich sei Grün die Farbe der Freiheit: ‚Natur ist pure Freiheit.‘“

Zusammengehalten wird dieses Netzwerk von einem antidemokratischen Grundkonsens sowie immer neuen Verschwörungsnarrativen die zum einen der Erklärung gesellschaftlicher Krisen dienen, aber ebenso auch Motor sind um beständig Woche für Woche weiter auf der Straße zu protestieren. Entsprechend dynamisch entwickelt sich nicht nur das sichtbare Demonstrationsgeschehen sondern auch die gemeinsam geteilten Inhalte. Insofern können Publikationen zum Thema, die wie der von Wolfgang Benz herausgegebene Sammelband den Anspruch haben „Ursachen, Zusammenhänge und Ziele des ‚Querdenkens‘“ darstellen und erläutern zu wollen, nicht mehr als eine Momentaufnahme liefern.

Über weite Strecken bleibt die inhaltliche Betrachtung hier jedoch zusätzlich recht oberflächlich und eignet sich lediglich aufgrund einiger herausstechender Beiträge als Einstiegslektüre in das Thema.

Wolfgang Benz (Hrsg.)
Querdenken - Protestbewegung zwischen Demokratieverachtung, Hass und Aufruhr
Metropol Verlag
Berlin, 2021
ISBN: 978-3-86331-621-1
318 Seiten, 22 Euro