Skip to main content

Plötzlich waren wir die Gejagten

Einleitung

Am 17. November 1989 wurde die damals 24jährige Conny Weßmann in Göttingen nach einer antifaschistischen Aktion von Polizisten in den Tod getrieben. Sabine, eine Freundin von Conny, beschreibt die damalige politische Situation und den Umgang mit Connys Tod. Für viele AntifaschistInnen waren die Ereignisse von damals mehr als ein Schock. Eine Erinnerung daran, welche Konsequenzen eine alltägliche Praxis – Neonazis auf der Strasse entgegen zu  treten – haben kann und dass die Staatsgewalt dabei nie auf unserer Seite steht.

AIB: Wie würdest Du die Zeit um Connys Tod politisch beschreiben?

Sabine: Wir als Gruppe waren ein sehr starker sozialer und politischer Zusammenhang. Nach Connys Tod wurde aber auch deutlich, dass wir als Gruppe oder Szenezusammenhang innerhalb der Gesellschaft ziemlich isoliert waren. Obwohl es in Göttingen viele aufgeschlossene Leute aus bürgerlichen Kreisen gab und auch immer wieder an verschiedenen Punkten Bündnisse geschlossen wurden.

AIB: War das eine Zeit, in der Neonazis auch Euer Lebensgefühl bestimmt haben?

Sabine: Für mich sehr. Der ganze Sommer 1989 war dadurch bestimmt, dass es von den Neonazis das Bestreben gab, sich in der Innenstadt festzusetzen, und wir kontinuierlich dagegen gearbeitet haben. Die Neonazis sind irgendwo aufgetaucht, und es gab immer Antifas, die intervenierten. Das heisst, der Innenstadtbereich blieb eigentlich nazifrei. Unsere Motivation, antifaschistische Arbeit zu machen, hatte mehrere Grundlagen: Zum einen die direkte Betroffenheit als Linke, weil wir von Neonazis angegriffen und bedroht wurden. Das Haus, in dem ich gewohnt habe, wurde des öfteren angegriffen. Zum anderen gab es permanent Angriffe gegen MigrantInnen und Flüchtlinge.

Oberhalb der Stadt war die Zietenkaserne als Flüchtlingsunterkunft eingerichtet worden, die isoliert am Waldrand liegt. Da sind am Wochenende gerne Hools und Neonazis hoch gefahren und haben die Menschen terrorisiert. Im Prinzip würde ich sagen, dass viel von unserem Widerstand darin bestand, möglichst viele Leute schnell zusammenzubringen. Die Konfrontation wurde meistens darüber aufgelöst, dass wir viele und die Neonazis wenige waren. Sie waren diejenigen, die dann geflüchtet sind. Konkret sah es so aus, dass wir an jedem Wochenende von Freitag abends an in Alarmbereitschaft waren. Wir hingen zusammen rum, haben zusammen gekocht, auf Anrufe gewartet und dann sind wir los gezogen. Wenn eine Abendaktion abgeschlossen war, haben wir auch oft spät noch zusammen gefeiert. Der Sommer 1989 war in jedem Fall total anstrengend.

AIB: Wie kam es zu der Situation, in der Conny getötet wurde?

Der 17. November war eben einer dieser Freitagabende an einem Wochenende, an dem wir wieder in Alarmbereitschaft gewesen waren und uns mit relativ vielen Leuten bei uns im Haus getroffen hatten. Irgendwann klingelte das Telefon mit der Nachricht, dass es in der Innenstadt eine Auseinandersetzung zwischen Linken und Neonazis gäbe. Diese Information kam nach der Auseinandersetzung. Wir haben nicht richtig realisiert, dass die Auseinandersetzung eigentlich schon vorbei war bzw. zumindestens die Nazis da nicht mehr waren.

Als wir ankamen, war da aber schon niemand mehr – außer den Zivilpolizisten des Göttinger Zivilen Streifen Kommandos (ZSK). Die haben sich an unsere Fersen gehangen, wohl wissend, dass wir weder die Neonazis waren noch diejenigen, die vorher in die Auseinandersetzung verwickelt waren. Dafür kannten uns die ZSKler zu gut. Sie sind dann durch die Innenstadt hinter uns hergefahren. Unser Plan war daher, uns auf dem Gelände der Uni zu verstreuen. Die Situation hat sich relativ schnell umgekehrt: Von einer Situation, in der wir agiert haben und den Neonazis entgegentreten wollten, wurden wir dann plötzlich zu den Gejagten.

Man muss sich einen dunklen, nassen Novemberabend mit schlechter Sicht vorstellen. Hinter uns tauchten plötzlich Zivilpolizisten auf, die mit erhobenen Knüppeln auf uns zuliefen. Wir kamen an eine Straßenkreuzung, wo ein Streifenwagen im Weg stand, an dem man eigentlich locker vorbei konnte. Wir stockten kurz reflexmäßig. Ich sah dann aus dem Augenwinkel diesen Zivilpolizisten mit seinem Knüppel, und ich sah, wie Conny lossprang. Um auszuweichen, ist sie auf die Straße gelaufen. Im gleichen Moment sah ich ein Auto kommen. Conny sprang direkt vor das Auto. Sie war sofort tot.

Meine nächste Erinnerung ist, dass Polizisten den Notarzt riefen. Aber einer von uns hatte schon vorher den Tod festgestellt. Direkt an Connys Kopf stand ein Polizist mit seinem Hund, damit man nicht zu ihr hingehen sollte. Die Situation kippte, als der Einsatzleiter kam und unsere Personalien aufnehmen wollte. Da war klar, entweder die Polizisten verziehen sich und lassen uns in Ruhe, oder es passiert etwas. Wir sind dann von da aus ins Jugendzentrum Juzi, wo plötzlich viele Leute waren, auch aus dem bürgerlichen Spektrum. Von da aus sind ganz viele Leute wieder zur Unfallstelle gegangen und haben dort ein Feuer gemacht. Wir waren dann einfach drei Tage auf der Straße und haben sie abgesperrt.

AIB: Was ist nach Connys Tod politisch passiert?

Sabine: Es gab in der Zeit viele Aktionen auf sehr verschiedenen Ebenen: Einerseits stand die sehr persönliche Betroffenheit im Raum: Conny war eine Freundin, zu der es viele emotionale Verbindungen gab. Das war ein ganz sensibler Punkt für uns, weil es von anderen natürlich auch das Bedürfnis gab, das Politikum ihres Todes darzustellen. Was ja auch total wichtig war. In dem Zusammenhang gab es aber auch die Frage: Wo wird jemand heroisiert, wo wird eine von uns zur Märtyrerin? Ich wusste einfach, dass es extrem zufällig war, dass es Conny war – es hätte jede von uns sein können.

Mir selbst war immer sehr wichtig, klar zu machen, dass Conny keine spezielle Kämpferin gewesen ist. Conny war eine ganz normale Person, die sich dagegen einsetzen wollte, dass Neonazis Flüchtlinge oder andere auf der Straße jagen. Conny war wie viele andere; eine Frau mit dem Wunsch, aktiv in die politische und gesellschaftliche Situation einzugreifen.
Andererseits gab es die Antifa-Politebene, wo es darum ging aufzuzeigen, dass sich schon seit einigen Jahren von Rechts eine Kraft formierte, gegen die wir anzugehen versuchten. Heute sind Aufrufe zur Zivilcourage Bestandteil jeder Sonntagsrede. Wir waren damals damit die Exoten und sind mit der Aufforderung, gegen Rechts einzugreifen, in der Stadt auf wirklich breite Ablehnung gestoßen.

Die Bevölkerung hat sich geteilt in diejenigen, die Auseinandersetzung mit Neonazis auf die Schiene »randalierende Jugendbanden« geschoben haben. Andererseits gab es auch die Gründung der Initiative »Bürger gegen Rechtsradikalismus und Gewalt«, von denen hat ein Teil richtig aufgeschlossen mit uns zusammengearbeitet; aufgrund des Schocks, dass jemand tatsächlich bei einer antifaschistischen Aktion durch Staatsgewalt ums Leben kommt und hervorgerufen aus dem Bedürfnis, etwas gegen Rechtsextremismus zu machen. In Connys Tod haben sich zwei Bereiche getroffen, die sonst zwar gerne als Parole zusammengebracht werden: Aber hier hat sich spürbar gezeigt, wie dicht beide zusammenliegen.

AIB: Es gab dann über Jahre die Demo am Todestag von Conny. Hältst Du das für eine angemessene Form der Erinnerung und des Gedenkens?

Sabine: Das hat sich im Lauf der Jahre einfach verändert. In den ersten Jahren war die Demo ganz wichtig – und auch, dass viele Menschen kamen. Für mich hat es dann mit der Demo überhaupt nicht mehr gestimmt, als die szeneinternen Auseinandersetzungen um die Organisierungsfrage innerhalb der Antifabewegung hochkochten. Plötzlich standen eigentlich die politischen Konflikte um die Organisierung der Demo im Vordergrund und nicht mehr, dass wir uns treffen, um wirklich an den Tag von Connys Tod zu denken. Schließlich ging es lange Jahre auch darum, das Ganze zu verarbeiten und irgendeine Form von Umgang damit zu finden.

Ein anderer wichtiger Punkt war die Mahnwache. Es kamen eigentlich zwei Aspekte zusammen: Eine Aktion zu machen, die nach Außen ein Zeichen setzt, was in dem Fall immer noch die Demo war. Das andere ist tatsächlich auch, sich intern zu treffen und sich Raum zu nehmen, um sich zu vergegenwärtigen, was da eigentlich passiert ist. Das war insgesamt sehr schwierig. Es gab ein gutes soziales Netz, wo viele einzelne aufgefangen wurden. Aber in der Trauerarbeit haben wir uns eher schwer getan. Die lief vereinzelt, und ich denke, es ist eher ein allgemeines gesellschaftliches Phänomen, dass eine gemeinsame Trauer wirklich kein Teil unserer Kultur ist. Wie macht man das? Wie kann man zusammen traurig sein und trotzdem auch eine Handlungsfähigkeit behalten und sich nicht in Depression und Trauer vergraben, sondern darin aktiv bleiben? Beides zu kombinieren ist schwierig, und für uns war damals die Demo dafür eine Ausdrucksform.

Ganz viele von denen, die dicht um Conny rum gewesen waren, sind lange Jahre immer zu der Demo nach Göttingen gekommen. Das änderte sich, als klar war, dass so ein politisches Signal nach außen von dem Punkt aus überhaupt nicht mehr die Relevanz und Brisanz hat wie damals. Weil sich so viele andere Morde, Tode und politische Verschärfungen darüber gelegt haben. Für uns war der Tod von Conny die erste direkte Konfrontation mit Tod und eine Konsequenz von einer Form von Widerstand. Irgendwann war klar, das ist jetzt wirklich auch ein Stück weit unsere Geschichte, aber die ist inzwischen gar nicht mehr so bundesweit von Interesse.

AIB: Hat sich Deine politische Praxis dadurch verändert?

Sabine: Das kann man wohl sagen; in der ersten Zeit danach war sie ziemlich durch Angst und das Bewusstsein von Tod geprägt. Ich wollte nicht, dass irgend jemand stirbt bei Aktionen, bei denen ich dabei bin. Ich hatte auch Angst, dass Nazis dabei ums Leben kommen. Bei jeder Aktion, die wir gemacht haben, haben wir vorher ganz viel über Sicherheit und Sicherung diskutiert. Wir sind in den Jahren danach schon weiter an Antifaarbeit dran geblieben. Ich finde auch nach wie vor, dass es total richtig und wichtig war, was wir da gemacht haben. Ich denke aber, dass sie heute natürlich eine andere Form annehmen muss. In den letzten dreizehn Jahren hat sich die politische Situation so verändert, dass eine Antifabewegung mit einem anderen Ausdruck und einer anderen Organisationsform auftreten muss. Und ich bin nachdenklicher und vorsichtiger geworden bei Aktionen. Da spielt eine persönliche Traumatisierung eine große Rolle. Das andere ist aber auch ein Bewußtsein für das Ausmaß dessen, was wir selbst tun können, und wieviel Einfluß andere darauf nehmen.

AIB: Danke für das Gespräch.