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Networking als Chance. Es geht nur, wenn alle an ihrer Stelle mitmachen

Einleitung

Ein Interview mit Dr. Ralf Melzer, Direktor des Anti-Defamation Forum (ADF)

Was ist das Anti-Defamation Forum (ADF), und worum geht es bei der Arbeit des ADF?

Das Anti-Defamation Forum (ADF) wurde 1998 gegründet und lehnt sich mit seinem Namen an die Anti-Defamation League (ADL) an; eine Institution, die es u.a. in den USA seit längerem gibt. Wir sind aber eine eigenständige Organisation. Der Hintergrund von ADF und ADL ist die B'nai B'rith Organisation, die im 19. Jahrhundert ausgewanderte deutsche Juden gründeten, welche inDeutschland Freimaurerlogen angehört hatten. Der ADF-Trägerverein wurde von Berliner B'nai B'rith-Mitgliedern gegründet. Inhaltlich beschäftigen wir uns nicht nur mit Antisemitismus, sondernauch mit Fragen von Menschenrechten und Rassismus.

Wir begreifen Antisemitismus als Teil der Rassismusproblematik. Der Vorlauf für die Gründung des ADF war ein Jugendprojekt namens»Unite & Act«. Die B'nai B'rith Jugendorganisation öffnet sich in Form dieses Projektes, das es seit 1994 für interessierte Jugendliche zwischen 14 und 19 Jahren unterschiedlicher Herkunft und Religion gibt. Wir machen einmal im Jahr eine internationale Tagung mit 80 – 100 Personen, wo zum einen Vorträge und Diskussionen stattfinden, zum anderen die Teilnehmerinnen in Kulturworkshops auch selbst etwas erarbeiten. Dazu wird immer ein Jahresthema als Schwerpunkt gesetzt, zum Beispiel »Dialog der Religionen«, »Menschenrechte« u.a. Wir wollen in diesem Jahr das Thema »Erinnern« und die Frage, was eigentlich die Geschichte mit unserem Leben zu tun hat und warum man eben nicht den berühmten Schlussstrich ziehen sollte, unter verstärkter Berücksichtigung des Kulturbereichs fortsetzen. Daneben organisieren wir weitere Veranstaltungen, wie zum Beispiel eine jährliche Namenslesung zum jüdischen Holocaust-Gedenktag, wo die Namender 56.000 deportierten und ermordeten Berliner Juden vorgelesen werden. Das ist eine aktive Form des Gedenkens, die ursprünglich vom Jugendzentrum der jüdischen Gemeinde veranstaltet und von uns weitergeführt wird.

Ist »Unite & Act« eine internationale Kampagne oder auf Deutschland beschränkt?

Man kann schlecht sagen, »Unite &Act« sei ein deutsches Projekt, aber es existiert in dieser Form nur hier. Wir haben bei den Herbstcamps regelmäßig Gäste aus west- und osteuropäischen Staaten. Und es sind auch Jugendliche türkischer Herkunft dabei. »Unite & Act« ist ein offenes Projekt, d.h. alle können mitmachen. Unsere Konzeption richtet sich an Jugendliche, die ein Grundinteresse mitbringen und vielleicht schon in anderen Initiativen engagiert sind. Wir erreichen durchaus Jugendliche, die in ihrer Orientierung noch nicht festgelegt sind. Wenn es dann gelingt, Interesse an anderen Religionen und Kulturen zu wecken, zu vermitteln, dass man Unterschiede aushält, aber auch Gemeinsamkeiten findet im Dialog oder Trialog der Religionen, dann hat man was bewirkt. Wir arbeiten explizit nicht mit gefestigt rechten Jugendlichen. Das erfordert andere pädagogischeMethoden. Es muß darum gehen, Demokratie und Menschenrechte aktiv und offensiv zu vertreten als Alternative zu diesem dumpfen völkischen Konzept. Wir haben dann im Vorfeld der ADF-Gründung festgestellt, dass wir für die Problemkreise, mit denen wir uns im Rahmen von »Unite & Act« beschäftigen, eigentlich eine Institution brauchen, die sich im gesellschaftlich-politischen Bereich etabliert und auch wissenschaftliche Arbeitsmethoden heranzieht.

Damit kommen wir auch schon zum Schwerpunkt des ADF: Wir lehnen die totalitarismustheoretische Interpretation des »Dritten Reiches« und ihre Anwendung auf den Rechtsextremismus ab. Unser Schwerpunkt besteht darin, zu analysieren, welche Entwicklungen es in der Mitte der Gesellschaft gibt und welche wechselseitigen Einflüsse von dort zum Rechtsextremismus bestehen. Wir beschäftigen uns deshalb auch mit altem, was unter dem Begriff »Neue Rechte« subsumiert wird, vor allem mit der Grauzone zwischen dem konservativ-demokratischen Spektrum und der rechtsextremen Szene. In diesem Zusammenhang sind wir dabei, ein Dokumentationszentrum aufzubauen. Einer der Schwerpunkte soll die empirische Erfassung dieser Tendenzen sein. Wir werden unsere Ergebnisse auch anderen Institutionen und Multiplikatoren zur Verfügung stellen. ADF will einen Beitrag dazu leisten, vorhandene Initiativen stärker miteinander zu vernetzen. Es ist der gesellschaftliche Mainstream, der uns Sorgen macht.

Was ist Ihrer Meinung nach dieser besorgniserregende »gesellschaftliche Mainstream«?

Es gibt eine Tendenz - nicht nur, aber besonders stark, in den neuen Bundesländern - die sich nach unserer Analyse weit entfernt hat vom Verfassungsverständnis des Grundgesetzes: Dass die Gleichberechtigung und andere Grundrechte eben nicht völkisch definiert sind. Man kann hier eine Gleichzeitigkeit beobachten: Einerseits bricht immer mehr Fremdenfeindlichkeit auf, und andererseits besteht die gesellschaftliche Reaktion immer mehr aus Beschwichtigungsritualen und Verharmlosung. Wir haben es mit einer schleichenden Akzeptanz dieser Entwicklung zu tun.

Hinzu kommt eine allgemeine Grundstimmung, die sich in Ereignissen wie der »Walser-Rede« oder in bestimmten Reaktionen auf das Holocaust-Mahnmal äußert. Diese bilden eine breite gesellschaftliche Strömung ab, die sich nicht mit den Konsequenzen des Nationalsozialismus, insbesondere des Völkermordes an den Juden, für die heutige Gesellschaft beschäftigen möchte, sondern die sich, wie Walser, davon gestört fühlt. Es handelt sich um ganz zentrale Entwicklungen, die darüber mitentscheiden, wie  dieses Land in seinem Selbstverständnis in Zukunft verfasst sein wird. Wir denken daher, dass es nicht nur einer Organisation bedarf, die die Stimme erhebt und sich diesem Mainstream entgegenstellt.

Es handelt sich also nicht um ein ost-spezifisches Problem, sondern um ein gesamtgesellschaftliches?

In Teilen ist es schon ein ost-spezifisches Problem. Wenn wir über die neuen Bundesländer reden, haben wir es mit dem Phänomen zu tun, dass bestimmte völkische, national definierte Denkmuster konserviert wurden. Es ist ein offenes Geheimnis, dass der Internationalismus in der DDR eine Worthülse war. Die antislawischen Ressentiments waren größer als in Westdeutschland. Der existierende Antisemitismus wurde nie thematisiert, weil in der marxistischen Analyse der Nationalsozialismus als radikale Ausprägung der bürgerlichen Gesellschaft fehlinterpretiert wurde. Das rächt sich jetzt und stellt uns vor gesellschaftliche Herausforderungen, die nicht so einfach zu lösen sind. Nur wenn alle mitwirken, kann es Veränderungen geben. Den Rechten das Gefühl zu geben, im Grunde sei das mit den Ausländern schon ein Problem, ist eine große Gefahr.

Brauchte es nicht so etwas wie einen demokratischen Neuanfang, damit dieser Trend gebrochen wird?

Es gibt kein Patentrezept, vielleicht ist Dein Wort vom demokratischen Neuanfang tatsächlich richtig. Es geht nur, wenn alle an ihrer Stelle mitmachen. Das heißt, wenn Lehrer Toleranz undGleichheit ihren Schülern vermitteln, wenn das in den Familien und allen gesellschaftlichenInstitutionen getan wird. Wenn nicht nur die Polizei und die Gerichte - aber die auch - signalisieren,dass solche diskriminierenden Ausgrenzungsmuster nicht toleriert werden. Das sollte möglichst geschehen, bevor die Gewaltschwelle überschritten ist. Ich finde es grundsätzlich problematisch, die Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus auf das gewalttätige Spektrum zu reduzieren, weil das viel zu spät ansetzt. Wenn allerdings Politiker nach einer Friedhofsschändung oder einer rassistischen Hetzjagd wieder mal abwiegeln, dann ist das sicherlich kein hilfreiches Zeichen.

Wie wird denn von offizieller Seite auf Eure Kritik und Eure Initiativen reagiert?

Die Resonanz auf unsere Initiativen ist schwer messbar. Wir haben zum Beispiel im Vorfeld der Bundestagswahlen einen Aufruf unter dem Motto »Rassismus ist keine Geschmackssache« gestartet. Die Forderung war, darauf zu ver- Die Forderung war, darauf zu verzichten, auf Kosten von Minderheiten Wahlkampf zu machen. Dafür haben wir eine ganze Reihe von Unterstützerinnen gewinnen können. Andererseits gibt es Erfahrungen, die einen zweifeln lassen. So haben wir uns 1999 mit zwei Briefaktionen an sämtliche Bundestagsabgeordnete gewandt. Die Frage war:  »Was gedenken Sie persönlich als gewählter Vertreter gegen Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit zu unternehmen?« Wir wollten wissen, welches Gewicht die Abgeordneten dem Thema beimessen. Auf den ersten Brief gab es kaum, auf den zweiten Brief dann mehr Reaktionen. Ein paar engagierte Abgeordnete haben über parlamentarische Initiativen berichtet und eigene Publikationen beigelegt.

Dann gab es die große Mehrheit, die gar nicht reagiert hat und Reaktionen, die einem zu denken geben. Der ehemalige CDU-Kanzleramtsminister Bohl ließ telefonisch wissen, dass er grundsätzlich keine Fragen beantwortet - ein seltsames Demokratieverständnis. Uns ist auch aufgefallen, wie sehr sich die Totalitarismustheorie als Selbstverständlichkeit festgesetzt hat. Viele Abgeordnete hatten auf die Frage nach rechter Gewalt reflexartig geantwortet, man dürfe auch die linke Gewalt nicht vergessen - und das in einer Situation, wo rechte Gewalt bereits alltäglich geworden ist.

Was bedeutet das Stichwort »Networking« denn eigentlich in der Praxis für das ADF?

Wir haben beispielsweise mit dem Zentralrat der Sinti und Roma eine Initiative unterstützt, die sich gegen die Polizeipraxis in Bayern richtete, die Sinti und Roma grundsätzlich als Verdächtigebehandelt, ihre persönlichen Daten in einer Extra-Kartei speichert etc., womit gegen sämtliche Verfassungsgrundsätze verstoßen wird. Jüdische Organisationen haben sowohl in Deutschland als auch international dagegen Stellung bezogen. Wir wollen die Isolierung in der Arbeit einzelner Institutionen überwinden. Es ist ja bekannt, dass gerade die türkische Community in Deutschland auch starke eigene Strukturen hat, was einerseits verständlich ist, andererseits Isolationstendenzen fördert. Ähnliche Entwicklungen gibt es auch bei der jüdischen Gemeinde und anderen Minderheiten.

Wir versuchen, Mut zu machen, die Isolierung aufzubrechen. Das bedeutet nicht, die eigene Identität zu verleugnen und aufzuhören sich muslimisch, jüdisch, eher türkisch, eher deutsch oder irgendwie anders zu verstehen. Aber es geht darum, gemeinsam gegen intolerante Ideologienund Praktiken aufzustehen.

Gibt es auch Kontakte zu Antifa-Gruppen, und wie sieht es auf internationaler Ebene aus?

Kontakt mit Antifa-Gruppen gibt es auch, und wir sind daran interessiert, sie auszubauen. International arbeiten wir zum Beispiel mit Organisationen zusammen, die sich mit dem Problem von Revisionismus, Antisemitismus und Neonazismus im Internet beschäftigen, etwa einem kanadischen Internetprojekt namens Niskor (hebräisch: »Wir werden er innern«).

Momentan sieht es so aus, als wenn Antisemitismus in Deutschland immer mehr zu einem einigenden Moment zwischen Rechtsextremen und konservativen Kreisen wird.

Antisemitische Übergriffe sind Alltag und ein Anzeichen dafür, wie weit wir von einer Normalität entfernt sind. Dass keine jüdische Einrichtung ohne Polizeischutz auskommt, liegt nicht an den jüdischen Einrichtungen, sondern daran, dass Schutz notwendig ist. In Zeiten, in denen zum Beispiel viel über Entschädigungszahlungen diskutiert wird, nimmt das Bedrohungspotential zu. Heute gehen viel mehr antisemitische Zuschriften mit vollem Absender ein. Dass die Absender glauben, sich selbst nicht mehr verstecken zu müssen, stimmt mich noch nachdenklicher als die antisemitischen Aktivitäten. Es lässt Rückschlüsse darauf zu, wie die Leute das gesellschaftliche Klima einschätzen.

Vielen Dank für das Gespräch.