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Neonazis morden in Gera.

Einleitung

Im thüringischen Gera wurde Oleg V., ein 27jähriger »Russlanddeutscher«, in der Nacht zum 21. Januar 2004 von vier jungen Neonazis aus Gera und Umgebung brutal ermordet. Die Täter Christopher H, Enrico W., Danny B. und Martin F. schlugen ihrem Opfer von hinten eine Bierflasche gegen den Kopf und traten dann mit ihren Stiefeln zu, rammten ein Messer in den wehrlosen Körper und zertrümmerten mit einem Hammer das Gesicht. Die 14–19jährigen sind nach mehreren Zeugenaus­sagen eindeutig der rechten Szene zuzuordnen.

Bild: attenzione-photo.com

Der regionale NPD - Funktionär Gordon Richter als Redner bei einer NPD Veranstaltung im Juni 2003 in Gera.

Noch am gleichen Tag verhaftete die Polizei die vier Tatver­dächtigen, sie alle legten ein Ge­ständ­nis ab. Bis auf einen 14jährigen sind alle vier wegen Körperverletzung, Raub, Vandalismus und Einbrüchen vorbestraft. Laut Aussagen der Täter kannten sie das Opfer flüchtig und tranken zusammen Bier. Dann sei es zum Streit gekommen und die vier hätten den Entschluss gefasst, Oleg umzubringen. Die Angehörigen und Freunde des Opfers wollen aus Angst vor Racheaktionen der rechten Szene keine belastenden Aussagen machen, die Ermittlungen der Staatsanwalt­schaft werden noch zwei bis drei Monate in Anspruch nehmen.

Die Polizei verkündete bereits einen Tag nach der Tat, dass ein politisches Mordmotiv ausgeschlossen wird. An­ge­sichts der Tatsache, dass selbst Oberstaatsanwalt Ralf Mohrmann nur wenige Tage danach ein rassistisches Motiv nicht mehr kategorisch ausschloss und die Polizei bis zum heutigen Zeitpunkt keinerlei Hinweise auf ein anderes Tatmotiv vorgelegt hat, ist es offensichtlich, dass die Ange­legenheit ausgesessen und eine antifaschistische Gegenöffentlichkeit klein gehalten werden soll.

In Erfurt, Dessau und Pirna fanden anlässlich der bestialischen Gewalttat Spontandemonstrationen statt. Der Neonazimord war auch Thema einer Demonstration gegen rechte und rassistische Gewalt am 31. Januar in Weimar. Am 1. Februar 2004 folgten dem Aufruf der Antifaschistischen Aktion Gera [AAG] rund 250 Antifa­schis­tInnen und demonstrierten unter dem Motto »Nazi-Terror stoppen! Wandelt Wut und Trauer in Widerstand!« durch die Geraer Innen­stadt und den Stadtteil Bieblach-Ost. Die AAG organisierte vier Kundge­bungen in der Geraer Innenstadt, verschiedene Gewerkschaften, Parteien, Initiativen und Organisationen entschlossen sich dazu, sich nicht mit verkürzten Polizeiaussagen und den vermeintlich objektiven Berichten der Lokalpresse zufrieden zu geben und die skandalösen Zustände der zweitgrößten Stadt Thüringens endlich in einer größeren Öffentlichkeit zu thematisieren. Die rechte Gewalt nimmt dort nämlich seit dem Jahreswechsel wieder rapide zu.

Zunehmender Neonaziterror

Am 2. Februar 2004 wurde ein geistig behinderter Jugendlicher in einem Baumarkt durch Messerstiche so schwer verletzt, dass er im Kranken­haus ins Koma fiel. Die Hintergründe der Tat sind noch nicht völlig geklärt, ein rechtes Tatmotiv ist jedoch denkbar. So soll das Opfer in einer Wach­phase gesagt haben, dass es sich bei den Tätern um Neonazis handelte. Die Staatsanwaltschaft soll die Ermitt­lungen bereits eingestellt haben, da der Betroffene aufgrund des traumatischen Erlebnisses nichts mehr sagt.

Am 5. Februar 2004 griffen drei Deutsche einen 18jährigen Armenier an. Bei der Schlägerei geriet einer der Angreifer unter die Straßenbahn und verstarb noch am Unfallort. Der 21jährige Marcel W. war Obergefreiter der Bundeswehr und bereits wegen Hausfriedensbruchs, Körperver­let­zung und Sachbeschädigung vorbestraft. Der leitende Oberstaatsanwalt Raimund Sauter und der Polizei­direk­tor Lothar Kissel mussten einräumen, dass die drei Deutschen den Armenier zuvor in ausländerfeindlicher Weise beschimpft hätten. Am folgenden Tag legte eine Gruppe von rund 25 rechten Jugendlichen Blumen und einen Kranz am Unfallort nieder. Sie führten ein Transparent mit dem Schrift­zug »Marcel wir trauern um Dich. Kriminelle Ausländer raus! Elster­front!« mit sich. Die Polizei war nach Angaben des Geraer »Bündnis gegen Rechts« über die Mahnwache informiert, hielt es aber offenkundig nicht für notwendig, dort zu erscheinen, da es sich nicht um »erkennbar rechtsextreme Jugendliche« gehandelt hätte.

Auf einer Mahnwache am 4. Februar 2004 provozierten mehrere Neonazis am Rande der Kundgebung, darunter bekannte Neonazikader wie Denis Scho­ner und Jens Fröhlich. Sie trugen Aufnäher mit Schriftzügen wie »Els­ter­­front Gera« und »Eugenik«. Jens Fröhlich, der sich vor die Kundge­bungs­teilnehmerInnen stellte, Por­trait­­aufnahmen schoss und im Beisein von Ordnungsamt und Polizeikräften Parolen wie »Heil Blood & Honour« skandierte, ist Sänger der Geraer Nazi­band »Eugenik« sowie lokalen AntifaschistInnen für Anti-Antifa-Recherchen und mehrere An­griffe auf Linke bekannt.

Zu einem weiteren Zwischenfall kam es, als ein Neonazi direkt an den KundgebungsteilnehmerInnen vorbeilief und die Worte »White Power« und »Sieg Heil, ihr Schweine« gröhlte und dabei den Arm zum Hitlergruß erhob. Die Polizei reagierte erst nach mehrfacher Aufforderung der Antifa­schis­tInnen.

Am 12. Februar 2004 fand eine Kundgebung von Bündnis 90/Die Grünen unter dem Motto »Saufen, Prügeln, Töten – rechte Unkultur und ihre Anhänger« in Gera statt. Mike Huster, ein Mitglied der Geraer Stadtratsfraktion der PDS, habe das Motto der Kundgebung nicht geteilt, wie er gegenüber der Jungle World mitteilte. »Das ist eine Zuspitzung, die eine weitere Konfrontation fördert. Die Rechten haben ihre Schwer­punkte, ich wehre mich aber gegen eine Reduzierung der Stadt Gera auf ein Nazinest. Polizeidirektor und Bürgermeister haben sich deppert geäußert.« Dieser Aussage hält die AAG in einem Interview mit der Wochenzeitung entgegen: »Der Vor­wurf Husters, Linke hätten Schuld am Hochschaukeln der Situation, ist eine widerliche Täter-Opfer-Verdrehung, wie sie Polizeidirektor Kissel und Oberbürgermeister Rauch schon praktiziert haben. Vielmehr folgt Huster einer auch für lokale PDS-Poli­tiker­In­nen gängigen Standortlogik, die uns angesichts der tödlichen Konsequenz einer menschenverachtenden Ideo­logie zutiefst empört. Gera ist leider doch ein elendes Nazinest mit bundesweiter Relevanz.«

Der Chefredakteur der Ostthüringer Zeitung, Uwe Müller, befürchtete in einem Interview mit Polizeidirektor Lothar Kissel, dass die AAG dem Mord einen »politischen Stempel aufdrük­ken« würde. Kissel stimmte ein: »Die unbewiesenen Behauptungen der links­autonomen Gruppen sind in hohem Maße geeignet, unserer Re­gion den Stempel politischer Gewalt­tätigkeit aufzudrücken und werden in keiner Weise der Realität gerecht.« Er rief daher dazu auf, der Demons­tra­tion am 1. Februar 2004 fernzubleiben. »Solchen antidemokratischen Es­­­ka­paden darf nicht länger tatenlos zugesehen werden«, reagierte ein Sprecher des »Bündnis Gegen Rechts«. Derzeit prüfen die Anmelder der Demonstration rechtliche Schritte gegen den Polizeidirektor. Staatliche Repression und Schikanen durch die städtischen Behörden scheinen ein immer größeres Ausmaß anzunehmen, je mehr sich die »Nestbe­schmut­zer« in das politische Alltagsleben ein­­mischen. Mitte Februar erhielt das Autonome Zentrum eine Verwarnung, da durch das Objekt die öffentliche Sicherheit und Ordnung und somit das »Ansehen der Vermieterin« gefähr­det sei.

Das thüringische Gera liegt in einem "braunen Landkreis" und ist seit der Wende einer der beliebtesten Rückzugspunkte für Neonazis. Es herrscht dort ein rassistisches Klima, welches sich nach der Wiederver­eini­gung quer durch die Gesellschaft gefestigt hat. Über Jahre hinweg wurde dem Aufbau rechter Strukturen wenig entgegengesetzt und Neonazis dominieren heute große Teile der Ju­gend­kultur. Es gibt vermutlich wenig Städte in den neuen Bundesländern, in der die Bandbreite rechter Organisa­tionen und Aktivitäten so umfangreich ist wie in der thüringischen Großstadt.

In Gera gibt es vier rechte Geschäfte und fünf Versandhäuser/Musik­­­­­­ver­­triebe, mehrere Neonazikneipen, neun Neonazibands und zwei »nationale Lie­der­macher«. NPD/JN, Kamerad­schaf­ten, rechte Geschäfte, Ver­sand­­häuser, Kneipen und Musik­struk­­turen konnten sich spätestens seit Mitte der Neun­ziger Jahre ungestört ausbreiten. Die lokale Neonaziszene verfügt über eine solide Infrastruktur und Finanz­quellen.

So ist es auch nicht verwunderlich, dass die NPD-Zeitung »Deutsche Stim­me« im letzten Jahr ihr Presse­fest nach Meerane, einen kleinen sächsischen Ort direkt neben der Grenzstadt Gera, verlegte. Mehr als 3.500 Nazis aus dem gesamten Bundesgebiet trafen sich dort zur bundesweit größten Neonaziveranstal­tung des Jahres. Die NPD erzielt in Gera schon immer einen der höchsten Stim­men­­anteile im Land. Auf dem Landes­parteitag am 7. De­zem­ber 2003 kamen sechs von fünfzehn Delegierten für die Landesliste der NPD aus der Region Gera.

Die jahrelange Zusammenarbeit zwischen der NPD und dem militanten »Thüringer Heimatschutz« sorgte für eine enge Anbindung des militanten Neonazi-Spektrums an die NPD. So kandidierten auf der letzten Landesliste führende Aktivis­ten des Thüringer Heimatschutzes, darunter die beiden Neonazikader Jan Stöckel und Jörg Krautheim aus Gera. Jan Stöckel galt früher als einer der Anführer der "Kameradschaft Gera" bevor er in der Thüringer NPD als Beisitzer im Landesvorstand und als "Jugendbeauftragter" tätig wurde. Neben militanten Neonazis der »Kameradschaft Gera« und »Elster­front Gera« sollen rechte Skinheads bei privaten Security-Firmen angestellt sein und teilweise gute Bezie­hungen ins Rotlichtmilieu pflegen. Bestimmte Kneipen gelten dabei als Umschlag­platz für Infos, Geld und Propaganda­material. Manche Firmen stellen bevor­zugt oder ausschließlich rechte Pauschalkräfte ein.

Konzerte mit eindeutig bekennenden Neonazibands, die oftmals direkt aus Gera kommen, finden verstärkt in der Region Gera statt und werden sogar mitten in der Innenstadt abgehalten (wie das NPD-Open Air im Juni 2003 oder das Neonazikonzert Ende letzten Jahres im Südbahnhof).

Die Neonazibands in Gera verfügen über bundesweite Kontakte, insbesondere innerhalb des ehemaligen »Blood & Honour«-Netzwerkes. Das LKA durchsuchte am 25. November 2003 zeitgleich bei über zwanzig Neonazis in Thüringen, Sachsen-Anhalt und Nieder­­sachsen mehrere Wohnungen und Geschäfte. Anlass war die Ver­brei­tung des verbotenen Samplers »Blood & Honour – trotz Verbot nicht tot«. Laut Recherchen der TAZ sei dieser von den Geraer Neonazibands »Euge­nik« und »Totenburg« eingespielt wor­den. Da die genannten Bands die verbotene »Blood & Honour«-Struk­turen weiter nutzen, wird nicht nur wegen Propaganda­delikten, sondern auch wegen Ver­stoßes gegen das Vereinsgesetz ermittelt.

Die Geraer Neonazikader Gordon Richter und Andre Berghold, beide auch im Landesvorstand der NPD Thüringen, meldeten Ende letzten Jahres zwei Neonazikonzerte in Bergisdorf (Sachsen-Anhalt) an. Allein bei der letzten Veranstaltung sollten unter dem schein­­­heiligen Motto »Die Lage der NPD im Wahljahr 2004« die Rechts­rock-Bands »Eugenik«, »Blutstahl«, »Sachsonia«, »Thor«, »Jungsturm«, »Act of Violence«, »Frontalkraft«, »Sleip­nir« und »DNA« sowie die Redner Frank Schwerdt (Landes­vor­sitzender Thüringen, Bundesge­schäfts­­führer NPD) und Ralf Ollert (Landes­vorsitzender Bayern, Stadtrat für BI Ausländerstopp Nürnberg) auftreten. Die auch im Kreisvorstand der Geraer NPD vertretenen Neonazikader Richter und Berghold waren ebenfalls für das Geraer NPD-Open Air im Juni letzten Jahres verantwortlich.

Im Zusammenhang mit dem Neonazikonzert unter dem Motto »Rock gegen Krieg« wurde im letzten Jahr mitten in der Innenstadt eine Frau mit einer Bierflasche bedroht und ein Jugendlicher von zwei Neonazis angegriffen. Die Ostthüringer Zeitung wusste in einer Berichterstattung über die NPD-Veranstaltung mitzuteilen, dass Gera nicht braun sei und auch der Osten nicht. Die »Ursachen brauner geistiger Umnachtung« lägen in der »Pers­pektivlosigkeit unter vielen jungen Leuten« und dem »fehlenden Mumm, in den Westen zu gehen«.

Auf den Punkt brachte es da wohl eher ein Beitrag der ARD-Sendung »Polylux«, der die »einst blühende Metropole« bezeichnend als »Endsta­tion Gera« benannte.

Weitere Informationen unter:
http://aag.antifa.net