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Neonazigewalt in Finnland

Varis Network (Finnland)
Einleitung

Der Anstieg extrem rechter Aktivitäten auf den Straßen Finnlands hat nach Jahrzehnten zum ersten politischen Mord geführt. Jimi Karttunen, ein Passant, der während einer Flugblattaktion der militanten Neonazis von „Suomen Vastarintaliike“ (SVL) — der „Finnischen Widerstandsbewegung“ — stehen blieb, um zu protestieren, wurde angegriffen. Einer der einschlägig bekannten und gewalttätigen Aktivisten nahm zehn Meter Anlauf und trat Jimi gegen die Brust, wodurch er stürzte und sein Kopf auf den Boden schlug. Eine Woche später starb er auf Grund seiner schweren Kopfverletzungen.

Jesse Eppu Oskari Torniainen, im Jahr 1990 geboren, steht im Verdacht des schweren Totschlags an Jimi Joonas Karttunen. Er stand bereits wegen verschiendener Gewaltdelikte vor Gericht und wurde unter anderem wegen einer Messerattacke auf einen Migranten verurteilt. Jesse Eppu Oskari Torniainen gilt als einer der führenden Aktivisten der „Finnsichen Widerstandswegebung“, der er seit Jahren angehört. Für den Neonaziaktivisten organisierten namhafte Neonazibands im Oktober 2016 ein Solidaritätskonzert .

Der Tod von Jimi Karttunen

Der wegen der Tötung von Jimi angeklagte Neonazi Jesse Eppu Oskari Torniainen hatte bereits 2014 bei einem ähnlichen Vorfall in Vantaa einen Passanten angegriffen. Dass Neonazis einen politischen Gegner am helllichten Tag auf dem zentralsten Platz des Landes, dem Bahnhofsviertel der Hauptstadt, töten konnten, hat die finnische Gesellschaft tief erschüttert. Eine Woche nach dem Mord haben beinahe 15.000 Menschen gegen Neonazigewalt demonstriert. Jedoch hat diese breite Entrüstung nicht zu einem entschlossenen antifaschistischen Widerstand geführt, der in der Lage wäre, Neonazis an Aufmärschen oder weiteren Angriffen zu hindern. Für die Antifaschist_innen, die das Anwachsen der extrem rechten Aktivitäten in den letzten Jahren beobachtet haben und ihnen entgegengetreten sind, erschien dieser tragische Tod als eine Frage der Zeit. Die SVL ist der in 2008 gegründete finnische Ableger der schwedischen „Nordiska Motståndsrörelsen“ (NMR), der „Nordischen Widerstandbewegung“.

Die NMR ist eine in den skandinavischen Ländern aktive militante Neonaziorganisation, die nach den organisatorischen Grundsätzen der rumänischen faschistischen Zwischenkriegsbewegung „Eiserne Garde“ und einer dogmatischen Auslegung der nationalsozialistischen Ideologie aufgebaut wurde. Ihr politisches Ziel ist eine neue „Kalmar Union“, eine Art panskandinavischer Nazistaat. Der Gründer des finnischen Ablegers der NMR, Henrik Holappa, der die Neonaziszene mittlerweile verlassen hat, schreibt in seinen Memoiren Anfang des Jahres: „Hitlers Deutschland entsprach genau meiner Vision einer utopischen Gesellschaft. Die Ideologie benötigte keine Ergänzungen oder Streichungen, und in meiner utopischen Gesellschaft würde der Nationalsozialismus des Dritten Reichs genau wie dieser praktiziert.“

Antisemitismus, Antikommunismus, An­ti­feminismus und rassenbiologischer ethnischer Nationalismus sind die politische Grundlage der NMR. Dieser erlangte schon 2010 landesweites Aufsehen, als sie die Gay-Pride-Parade in Helsinki mit Pfefferspray angriff und über 80 Personen verletzte. Als die rechten Populisten der Partei Perussuomalaiset („Wahre Finnen“) für die Parlamentswahlen die Aufmerksamkeit auf sich zogen, warf ihnen die „Finnische Widerstandsbewegung“ vor, zu moderat zu sein und rief ihre Anhänger dazu auf, die Straße zu übernehmen. Dies führte zu einer Hochphase rechter Übergriffe auf LGBT-Organisationen, Migranten_innen und politische Gegner_innen, die erst durch organisierten antifaschistischen Widerstand aufhörten.

Zu diesem Zeitpunkt wurde das antifaschistische Varis-Netzwerk gegründet. Über Jahre hatte sich der Neonazismus insbesondere im Untergrund organisiert. Details zu Auftritten und anderen Aktivitäten waren nur über direkten Kontakt zu den Organisatoren zu bekommen. Wegen der antifaschistischen Arbeit und der organisatorischen Schwäche neonazistischer Kreise war es für diese praktisch unmöglich, sich an einem öffentlich bekanntgegebenen Ort zu treffen. Ende 2014 gewannen sie an Boden. Am 6. Dezember 2014, dem finnischen Unabhängigkeitstag, organisierte eine außergewöhnlich breite, extrem rechte Koalition einen Fackelzug durch Helsinki, mit ungefähr 200 Beteiligten. Dabei konnten sie weite Strecken ohne Widerstand zurücklegen, weil die radikale Linke auf der anderen Seite der Innenstadt beim Amtssitz des Präsidenten gegen Klassenunterdrückung demonstrierte. Bis heute dient der Fackelzug zum Unabhängigkeitstag dazu, das rechte Spektrum zu einen.

Zu den Organisatoren zählen unter anderem die SVL, wie auch die „Suomen Sisu“, eine landesweite Neonaziorganisation, die 1998 aus den tendenziell intellektuelleren Teilen der rechten Skinheadbewegung entstanden ist. Diese versucht die Grenzen der extrem rechten Subkultur zu überwinden, indem sie die Strategien der französischen „Nouvelle Droite“ kopiert. Im Moment hat „Suomen Sisu“ („Finnische Tapferkeit“)  eine starke Position innerhalb der Partei „Wahre Finnen“, was ihnen ermöglicht, Sitze in Stadträten, Parlamenten und anderen Regierungsorganen zu besetzen. Es waren diese strategischen Leitlinien des gegenwärtigen Neonazismus, auf denen der Aufmarsch am Unabhängigkeitstag beruhte: Explizite Nazisymbolik machte einer integrativeren natio­nalistischen Rhetorik Platz, wobei die Beteiligung der SVL geheim bleiben sollte.

Der Durchbruch der Neonazis erfolgte jedoch erst am Ende des Sommers 2015. Eine nationalistische und einwanderungsfeindliche Gruppe begann unter dem Motto „Schließt die Grenzen!“ landesweite Demonstrationen zu organisieren. Fast überall fanden antifaschistische Gegenproteste statt, die meist ebenso viele Menschen mobilisieren konnten. Großaufgebote der Polizei in Verbindung mit mangelnder Erfahrung im Straßenkampf hielten die Antifaschist_innen davon ab, die Demonstrationen zu verhindern. Die bisher relativ geringe Repression gegen Antifaschist_innen in Finnland stieg dennoch: Die Polizei begann Leute einzuschüchtern, die an den Protesten teilgenommen hatten, während in den Medien der Extremismusdiskurs befeuert wurde. Die Teilnehmendenzahlen nahmen auf beiden Seiten schließlich wieder ab.

Die „Schließt die Grenzen!“-Bewegung, eine kleinere PEGIDA-orientierte Bewegung, brach letztendlich wegen interner Machtkämpfe und der geringen Erfahrung in politischen Organisationsprozessen zusammen. Es gelang der Bewegung auch nicht, dass im weit verbreiteten Nationalismus und in der rassistischen und autoritären Gesinnung der derzeitigen finnischen Gesellschaft enthaltene Potential abzuschöpfen. Ihre aggressiven Kampagnen ermöglichten jedoch anderen extrem rechten Gruppen auf die Straße zu gehen. Antifaschist_innen hatten nicht die Mittel, um gegen jede Kundgebung dieser neuen Welle extrem rechter Aktivitäten zu mobilisieren.

In Folge der „Schließt die Grenzen!“-Bewegung entstand in Lappland eine Bürgerwehr namens „Soldiers of Odin“ (S.O.O.), deren Kernmitglieder und Gründer aus rechten (Ex-)Skinheads und kompromisslosen Nationalisten bestehen. Ihr Anführer ist Unterstützer der SVL. Grundsätzlich behauptete S.O.O., die Sicherheit auf den Straßen herzustellen und bedrohte vermeintlich „kriminelle“ Migrant_innen und Linke. Aufgrund antifaschistischer Reaktionen wie der „Loldiers of Odin“-Clownsarmee oder die Verwüstung ihres Clubhauses fokussierte sich der Hass der S.O.O. zunehmend auf „die Roten“. In Kombination mit Medienberichten über die Strafregister ihrer Anführer und Mitglieder, die zahlreiche Frauenmisshandlungen und rassistische Übergriffe aufdeckten, wurde das öffentliche Bild der „gesetzestreuen Bürgerwehr“ zerstört. Die „Soldiers of Odin“ hatten seit Beginn interne Auseinandersetzungen und konnten sich nicht zu einer ernsthaften physischen Bedrohung entwickeln. Zwar werden die S.O.O. im Moment schwächer, führen aber dennoch ihre  Straßenpatrouillen in einigen finnischen Städten durch, die aus etwa 4 bis 6 Personen bestehen. Obwohl diese neuen nationalistischen und rassistischen Bewegungen wie „Schließt die Grenzen!“ und S.O.O. schnell zusammengebrochen sind, wäre es ein Fehler anzunehmen, dass der Aufstieg der Neonazis in Finnland beendet ist. Es ist davon auszugehen, dass sich neue nationalistische Kreise finden, die sich organisierten Gruppen wie der „Finnischen Widerstandsbewegung“ und der „Suomen Sisu“ anschließen. Der Aufmarsch am Unabhängigkeitstag und andere Etablierungsversuche neonazistischer Traditionen werden neben der Intensivierung des alltäglichen Widerstands gegen alle reaktionären Kräfte sicherlich Mobilisierungspunkte für Antifaschist_innen werden.

Neonazi verurteilt, Organisation könnte verboten werden

Zum Jahreswechsel 2016/2017 wurde der Neonazi-Aktivist Jesse Eppu Torniainen zu zwei Jahren Haft verurteilt. Ihm konnte der tödliche Angriff auf Jimi Karttunen anhand von Videomaterial nachgewiesen werden. Dieses entstammte den Überwachungskameras des Platzes, an dem Torniainen mit fünf Meter Anlauf den tödlichen Sprung auf den Brustkorb des Opfers ausführte.

Torniainen wurde vom Amtsgericht Helsinki wegen schwerer Körperverletzung verurteilt. Die Anklage wegen versuchten Totschlags wurde fallen gelassen. Die Staatsanwaltschaft hatte für beide Anklagepunkte fünfeinhalb bis sechs Jahre Haft gefordert und geht nun in die nächste Instanz. Eine Urteil wird noch für dieses Jahr erwartet.

Die Staatsanwaltschaft beharrte darauf, dass Karttunen aufgrund eines Gehirnschadens starb, der durch den Stoß herbeigeführt wurde. Forensische Untersuchungen konnten dies ebenfalls bestätigen. Im Gegensatz zu dieser Darstellung urteilte das Amtsgericht Helsinki, dass eine kausale Verkettung zwischen dem Angriff und dem Tod nicht erkennbar sei. Laut Gericht konnte nicht erwiesen werden, ob nicht Karttunens Verweigerung von Medikamenten und Missbrauch dieser während seiner Behandlung im Krankenhaus einen Effekt auf seinen Tod hatte. Aufgrund dessen ließ das Gericht die Anklage des versuchten Totschlags fallen. Torniainens hartes Urteil wegen schwerer Körperverletzung begründet sich auf sein Vorstrafenregister, welches neben Schmuggel und Straftaten im Zusammenhang mit Waffen, auch einen gemeinschaftlich begangenen Angriff auf einen Migranten – dieser wurde mit einem Messer im Bereich des Rückens verletzt - beinhaltet. Des weiteren merkte das Gericht an, dass die Attacke während einer Aktion einer neonazistischen Organisation stattfand und dabei als Teil einer defensiven Handlung angesehen werden kann.

Jedoch stellte das Amtsgericht in Helsinki fest, dass es sich dabei nicht um eine rassistisch motivierte Straftat gehandelt habe. Laut Staatsanwaltschaft geschah die Attacke allerdings aus dem Motiv, dass Karttunen die rassistische Ideologie der Neonazis in Frage stellte. Das Gericht urteilte jedoch, dass ein rassistisches Motiv nur im Falle dessen zutreffe, wenn das Opfer einer staatlich anerkannten ethnischen Gemeinschaft angehöre. Die Gültigkeit eines rassistischen Motivs könnte somit in der nächst höheren Instanz zum Präzedenzfall für etwaige Straftaten werden, die sich nicht gegen ethnische Minderheiten richten, aber durch neonazistische Ideologie motiviert sind.

Eine andere, vielleicht viel weiter reichende Konsequenz der Attacke ist ein geplantes Verbot der „Nordischen Widerstandsbewegung“ („Nordiska Motståndsrörelsen“, kurz NMR). Forderungen nach einer Kriminalisierung, vor allem in Bezug auf die NMR als kriminelle Vereinigung, wurden bereits in der Vergangenheit laut, nachdem es immer wieder im Rahmen ihrer Aktivitäten zu Angriffen auf den politischen Gegner gekommen war. Nun, zu Beginn des Jahres 2017, strebt die landesweite Polizeibehörde eine gerichtliche Verfügung an, welche die Neonazi-Organisation verbieten soll. Dies wurde einen Tag nach Torniainens Verurteilung bekannt.

Damit wäre die NMR die erste verbotene politische Organisation seit den 1970er Jahren. Ein Präzedenzfall, der die Repression gegen „extremistische Bewegungen“ intensivieren könnte, eingeschlossen Antifaschist_Innen.