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Neonazi-Enklave Jamel

Lisa Krug
Einleitung

Weltoffen und nahezu friedfertig zeigt sich die kleine Neonazi-Enklave nur an zwei Tagen des Jahres: zum Festival „Jamel rockt den Förster“. Für den Rest des Jahres herrscht die rechte Hegemonie um den sich als „Dorfsheriff“ aufführenden Sven Krüger.

Bild: Pixelarchiv

Der Neonazi und "Dorfchef" Sven Krüger (links) in Jamel im Jahr 2019.

Systematische Vertreibung

Inmitten idyllisch, kleinstädtischer Ostprovinz mit Katzensprung zum Ostseestrand liegt das kleine Dorf Jamel. Gerade einmal zehn Häuser reihen sich entlang der einzigen Straße, die einmal rund um die Dorfwiese führt. Sackgassendörfer wie Jamel gibt es viele in Mecklenburg-Vorpommern. Allerdings muss man bei den meisten dieser Idyllen nicht damit rechnen, dass einem ein Haufen meist glatzköpfige, weiße Männer mit Drohgebärden empfangen, wenn man die Dorfgrenze überschreitet – allen voran der sich als „Dorfsheriff“ aufspielende Sven Krüger ("Obst"/"Obsti").

Bereits zu Krügers Jugend ging es brisant zu im Dorf: Schon Anfang der 1990er Jahre begann die Vertreibung einiger Anwohner*innen und der damit einhergehende Zuzug von Neonazi-Familien. Schlagzeilen machte eine Party zu Ostern 1992, bei der rund 120 Neonazis bei den Krügers Hitlers Geburtstag feierten. Im Rausch der Feier drohten sie Nachbarn, sie würden sie ausräuchern, spießten Hühner auf den Gartenzaun, griffen das Haus an und zerstörten Fenster, Türen sowie ein Auto. Der damalige Bürgermeister habe mit zwei Bekannten und einer Schrotflinte das Haus beschützt, um Schlimmeres zu verhindern. Das erste Haus brannte dann 1996, ein weiteres sieben Jahre später. Ein Teil der Familien zog weg, ein anderer kleinerer Teil arrangierte sich mit den neuen Nachbarn. Der Weg zum „nationalsozialistischen Musterdorf“ war geebnet.

Zivilgesellschaftliche Kräfte trauten sich schon lange nicht mehr dort hin, viel zu gefährlich scheint das Dorf. Um so unverständlicher scheint der Zuzug des Künstlerehepaars Lohmeyer 2004, die auf dem alten Forsthof ihren Lebensabend verbringen wollen. Sie wussten schlichtweg nicht, was im Dorf so los war. Als ihnen klar wurde, worauf sie sich wirklich eingelassen hatten, war es zu spät: Der alte Forsthof war gekauft. Seither sind sie die Neuen, die den Schikanen der Neonazis ausgesetzt sind. Die Einschüchterungsversuche reichen von Beschimpfungen, zerstochenen Reifen bis hin zu Mist auf der Hofeinfahrt oder einer toten Ratte im Briefkasten. Ein Höhepunkt war, als 2015 Unbekannte die Scheune auf dem Anwesen der Lohmeyers anzündeten. Nur mit Glück griffen die Flammen nicht auf das nahestehende Wohnhaus über. Ein Urlaubsgast des Ehepaares will kurz vor dem Brand eine unbekannte Person auf dem Grundstück bemerkt haben. Auch wenn die Polizei von Brandstiftung ausgeht und der Staatsschutz ermittelt, konnte bis heute kein Täter gefasst werden.

Die Dorfgemeinschaft

Im Laufe der Jahre hat sich eine feste kameradschaftsähnliche Struktur in Jamel festgesetzt: die „Dorfgemeinschaft Jamel“. Teil der Dorfgemeinschaft sind die in Jamel wohnenden Neonazis, unter ihnen Familie Krüger mit Sven Krüger als Familienoberhaupt. Ein eigenes Logo der Gruppe ziert mittlerweile Merchendise wie Pullover oder Aufkleber für die Autos. Die in sich geschlossene Struktur gestaltet den Alltag und die Events innerhalb des Dorfes.

Mehrfach im Jahr werden große Brauchtumsfeiern organisiert, zu der mehrere Hundert zum Teil einschlägig bekannte Neonazis ins Dorf pilgern. Unter ihnen sind Anhänger der Hammerskins, NPD, diverser Bruderschaften oder Kameradschaften. Tradition und Brauchtumspflege spielen eine große Rolle bei den Veranstaltungen. Zelebriert werden in der Regel drei große Events im Jahr: der Maitanz zur Walpurgisnacht mit traditionellem Maibaum aufstellen, die Sommersonnenwende mit Feuerzeremonie und das Lichterfest, um die dunkle Jahreszeit zu begrüßen. Anstatt zu RechtsRock grölend sieht man an diesem Tag die Anwesenden in konservativen Trachten wie Leinenhemden und Lederhose oder mit Flechtfrisuren und langen Röcken. Auf dem ersten Blick ähneln diese Brauchtumsfeiern, wie sie wohl vielerorts veranstaltet werden. Mit dem Unterschied, dass sich dann schon mal wie beim Lichterfest neben dem „ich gehe mit meiner Laterne“ auch immer mal wieder ein „Sie werden Männer, die ihr Reich erringen, die es schützen vor dem großen Feind. [...] Komm, komm, lockt ihr Schritt. Komm, Kamerad, wir ziehen mit“ geträllert wird, ein Lied im Jungvolk der „Hitler Jugend“.

Diese Events dienen nicht einzig der Selbstbespaßung, sondern sollen die deutschen Werte und Traditionen schon an die Kleinsten vermitteln. Früh werden die Kinder so in die Dorfgemeinschaften eingebunden und fest verankert.

Rückzug der Zivilgesellschaft

Völlig ungestört von Zivilgesellschaft und Polizei konnten die Neonazis bis in die 2010er ihre jährlichen Events veranstalten. Mit dem Start des Festivals der Lohmeyers „Jamel rockt den Förster“ 2007 begann eine stückweise Öffnung des Dorfes für Nicht-Neonazis. Doch es dauerte ein paar Jahre bis sich das antirassistische Festival zum Geheimtipps für Superstars aus deutscher Popkultur mauserte, wie wir es heute kennen. Zu gefährlich schien für Viele der Besuch im „Nazidorf“ – zurecht.

Vor allem in den Anfangsjahren kam es immer wieder zu Anfeindungen und Angriffen gegen Festivalbesucher*innen. Erste Journalist*innen und Fotograf*innen fingen zur selben Zeit an, die Brauchtumsfeiern zu besuchen und darüber zu berichten. Bedrohungsszenarien gehörten zum Standard, wenn man die Geschehnisse dokumentieren wollte. Mit dem daraus wachsendem Interesse der Öffentlichkeit sahen sich Ordnungsbehörden genötigt, ihre Einsatztaktik zu ändern und so wurden aus einem Streifenwagen zumindest ein Bereitschaftszug. Auch versuchten Ordnungsamt und Polizei der "Dorfgemeinschaft Jamel" durch entsprechende Auflagen, ihre Feiern so unangenehm wie möglich zu gestalten.

Schichtwechsel

Unterstützung bekamen die Lohmeyers vorwiegend von außen – einige zuständige Gemeindevertreter*innen pflegten hingegen einen sehr fragwürdigen Umgang mit den Neonazis. Vor allem beim damaligen Bürgermeister Uwe Wandel und die Gemeindevertreterin Simone Oldenburg (Die Linke), aktuell stellvertretende Ministerpräsidentin, fehlte es z.T. an Distanz. Zum 1. Mai 2017 pflanzten das Bündnis „Wir durchqueren Jamel“, bei dem Wandel und Oldenburg Mitorganisatoren waren, gemeinsam mit Teilen der Dorfgemeinschaft darunter Sven Krüger und Tino Streif, Obstbäume für mehr Demokratie. Auf Nachfragen, warum die Anwesenheit der Neonazis geduldet wurde und diese sogar mitmachen konnten, antwortete Oldenburg: „Wenn sie der Meinung sind, dass sie ihren Ort ebenfalls verschönern, dann können sie das tun“.

Bei den letzten Kommunalwahlen wurde Uwe Wandel als Bürgermeister abgelöst. Simone Oldenburg ist weiterhin in der Gemeindevertretung und 1. stellvertretende Bürgermeisterin. Sie versucht sich nun etwas stärker gegen die rechte Dorfgemeinschaft zu positionieren. Allerdings hat das Gremium ein neues Mitglied in den Reihen, was den Umgang mit den Jameler nicht unbedingt erleichtert: Sven Krüger. Gemeinsam mit Tino Streif und Steffen Meinecke gründete er die „Wählergemeinschaft Heimat“ und kandidierte zu den Kommunalwahlen 2019. Unter dem plattdeutschen Slogan „De Eikboom an de Waterkant“ (Die Eiche an der Küste) wollten sie sich verstärkt für die Belange der traditionellen Familie und Feuerwehr einsetzen. Mit Erfolg, denn Krüger schaffte es mit 281 Stimmen (6,7 Prozent) und damit zweitbestes Ergebnis hinter Oldenburg in die Gemeindevertretung.

Der mehrfach vorbestrafte Neonazi bestimmt dann mit diesem Sitz auch über Belange, die maßgeblichen Einfluss auf „Jamel rockt den Förster“ haben, wie etwa die Verpachtung von Gemeindeland. Da verwundert es nicht, dass vor allem in diesem Jahr einige Genehmigungen deutlich länger als sonst auf sich warten ließen.

Seit Pandemie-Beginn ist es zwangsläufig deutlich ruhiger geworden im Dorf. In den letzten Jahren fielen die großen Brauchtumsevents aus – öffentliche und private Veranstaltungen in der Größenordnung waren schlichtweg verboten. Wo früher auf derartige Regel gepfiffen wurde, hält sich der „Dorfsheriff“ mittlerweile dran – das gesteigerte Interesse der Ordnungsbehörde an dem Dorf scheint Wirkung zu zeigen.

Die kommenden Wochen und Monate werden zeigen, ob sich Jamel weiterhin verstärkt auf die eigene Scholle konzentriert, wie es aktuell generell im extrem rechten Lager Mecklenburg-Vorpommerns ist, oder ob sie wieder öffentlich wahrnehmbarer werden.