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Neonazi Überfall in Fretterode: Drei Jahre ohne Konsequenzen

Kampagne "Tatort Fretterode" (Gastbeitrag)
Einleitung

Im April 2018 griffen die beiden Neonazis Gianluca Bruno und Nordulf Heise zwei Göttinger Journalisten an und verletzten sie schwer. Erst nach über drei Jahren begann ein Prozess deswegen. Die Angeklagten waren weiterhin aktiv, einer von ihnen inzwischen in der Schweiz.

Am Tatort des Neonazi-Überfalls von Antifaschist*innen aufgestellte Banner.

Als zwei Journalisten Fotos vom Anwesen des stellvertretenden Bundesvorsitzenden der NPD Thorsten Heise machen, werden sie von mehreren Neonazis auf dem Gelände entdeckt. Es kommt zu einer Verfolgungsjagd: Die Journalisten werden von zwei Neonazis zunächst zu Fuß, dann mit dem Auto verfolgt. Noch während der Fahrt gelingt es einem Journalisten, sowohl die Angreifer als auch deren Wagen zu fotografieren.

Im benachbarten Hohengandern kommt das Auto der Journalisten von der Fahrbahn ab. Die beiden Neonazis gehen sofort zum Angriff über. Einer der Täter zersticht alle Reifen, schlägt dann die Seitenscheiben des Autos ein und sprüht Reizgas ins Innere. Der zweite Täter geht mit einem Baseballschläger auf einen der Journalisten los. Später schlägt er ihm mit einem unterarmlangen Schraubenschlüssel auf den Kopf. Der Journalist erleidet dabei eine Schädelfraktur. Währenddessen versucht der andere Angreifer an die Kamera im Auto zu gelangen. Dabei sticht er mit einem Messer auf den noch im Auto sitzenden Journalisten ein und fügt ihm eine Stichwunde im Bein zu. Als er die Kamera und die dazugehörige Tasche erbeuten kann, war die dazugehöre SD-Karte schon entnommen. Im Anschluss flüchten die beiden Täter im Auto zurück nach Fretterode.

Ermittlungen durch öffentlichen Druck

Die Ermittlungen der Eichfelder Polizei gegen die beiden Neonazis begannen schwerfällig. Die Polizei ging zunächst von einem sog. „Rechts-Links-Konflikt“ aus und ermittelte zeitweise auch gegen die Opfer. Die Fehleinschätzung der Lage durch die Polizei zeigte sich bereits bei der Hausdurchsuchung, die wenige Stunden nach der Tat stattfand. Die Täter, die zurück auf das Anwesen der Familie Heise geflüchtet waren, hatten das Auto auf dem Gelände abgestellt und sich ins Haus begeben. Noch während der laufenden Durchsuchung, die lediglich von zwei Polizeibeamten durchgeführt wurde, konnten Neonazis mehrfach Gegenstände und Kleidungsstücke aus dem Tatfahrzeug entfernen.

Ein Journalist, der währenddessen Bilder machte, wurde von mehreren Neonazis vor Ort angegangen. Die anwesenden Polizisten versuchten ihn zu nötigen, seine Aufnahmen zu löschen, was nur durch das Einschalten eines Anwalts verhindert werden konnte. Eine eilig herbeigerufene Hundertschaft der Bereitschaftspolizei war lediglich zum Schutz des Anwesens der Familie Heise abgestellt, um vermutete Racheaktionen der „Antifa“ zu verhindern.

Erst nach einer Woche veröffentlichte die Polizei einen Öffentlichkeitsaufruf an Zeug_innen der Tat und sprach dabei von einem Raubüberfall. Nachdem die Anwälte der Opfer öffentlich Kritik an den Ermittlungen der Polizei übten, übernahm das Landeskriminalamt Erfurt die Ermittlungsarbeit. Am Tag nach der Tat stellten die beiden Journalisten die bei der Verfolgung aufgenommenen Bilder den Ermittlungsbehörden zur Verfügung. Erste Reaktion der Staatsanwaltschaft war es, deren Authentizität öffentlich anzuzweifeln und damit die Integrität der Opfer in Frage zu stellen. Schlussendlich wurde mithilfe der Bilder dennoch Nordulf Heise identifiziert und in die Ermittlungen miteinbezogen. Nach Fertigung der Anklageschrift dauerte es noch über ein Jahr bis zur Anklageerhebung. Den in den Januar 2021 verschleppten Prozessbeginn verhinderte die zweite Corona-Welle.

Der „Ziehsohn“ und der Sohn

Die Täter sind keine Unbekannten. Gianluca Bruno, der ursprünglich aus einer Northeimer Jugendclique seinen Weg in das Umfeld der „Kameradschaft Northeim“ fand, gilt seit einigen Jahren als einer der Nachwuchskader im Umfeld von Thorsten Heise. Zu den Kommunalwahlen 2016 trat er erstmals für die NPD als Kandidat in Northeim an. Später wurde er Mitglied im NPD-Landesverband und Teil des Vorstands. Immer begleitet und protegiert von Thorsten Heise, der versuchte, über Bruno seinen Einfluss in der niedersächsischen NPD zu stärken. Zur Zeit des Angriffs im April 2019 war Bruno stellvertretender NPD-Landesvorsitzender in Niedersachsen.

Auch wenn sich beide Täter auf denselben Veranstaltungen und im selben Umfeld bewegten, betätigten sie sich oft in verschiedenen Funktionen. Anders als Bruno übernimmt Nordulf Heise keine wahrnehmbaren Posten und hat auch keine Mandate inne. Während Bruno bei öffentlichen Veranstaltungen oder in der NPD oft eine Funktionsrolle wahrnimmt und als Anmelder und Redner fungiert, tritt Nordulf Heise eher aktionistisch in Erscheinung. Seit 2015 nimmt er regelmäßig an Aufmärschen im Umfeld der "Kameradschaft Northeim" teil. Vorher hatte er NPD-Veranstaltungen nur in Begleitung seiner Mutter Nadine Heise besucht. Mehrfach bewegte er sich zusammen mit jüngeren Neonazis aus Südniedersachsen und Hessen vermummt im Umfeld von Veranstaltungen des „Freundeskreis Thüringen/Niedersachsen“ (FKTN) und suchte die Konfrontation mit Antifaschist_innen.

Seit April 2018 veranstaltet Thorsten Heise das „Schild & Schwert“-Festival im sächsischen Ostritz. Bruno und Nordulf Heise übernahmen dabei exponierte Rollen innerhalb des Ordnerdienstes der „Arischen Bruderschaft“.

Die internationalen Netzwerke des Vaters

Während Gianluca Bruno nach dem Angriff in Fretterode blieb, zog Nordulf Heise wenige Wochen später in die Schweiz. Im Schweizer Visp im Oberwallis wurde er von Silvan Gex-Collet aufgenommen, einem engen Freund der Familie Heise. Im Juli 2018 verbrachten die Familie Heise, Gex-Collet und Bruno einen knappen Monat in einem gemeinsamen Griechenland-Urlaub. Danach begann Nordulf Heise eine Ausbildung bei der Firma für Gebäudetechnik „Ewald Gattlen GmbH“, in der zu diesem Zeitpunkt auch Silvan Gex-Collet arbeitete. Gex-Collet gilt als ein Verantwortlicher für die Oberwalliser Sektion von "Blood&Honour" (B&H). Er betreibt im Wallis das B&H/C18 nahe Tattoo Studio „Nordic Thunder“ sowie einen Textilshop. Thorsten Heise trat mehrfach bei Veranstaltungen als Redner der Walliser B&H- Sektion auf.

Seit dem Umzug Nordulfs besuchten neben der Familie Heise auch andere deutsche Neonazis das Wallis. Nordulf Heise bewegt sich im Wallis im Umfeld von B&H und den Hooligans der FC Sion, den "Street Society Oberwallis" sowie der Gruppe „Swastiklan Wallis“. Im Mai 2019 besuchte er zusammen mit Mitgliedern der Hooligan-Gruppe den Eichsfeldtag im Thüringischen Leinefelde.

Presse als Hauptfeind markiert

Der Angriff im April 2018 kam nicht aus dem luftleeren Raum. Er bettet sich ein in eine Kampagne mit hetzerischen Redebeiträgen von Thorsten Heise, die Journalist_innen als Hauptfeinde markierten. So erklärte T. Heise in einem Vortrag anlässlich einer NPD-Wahlkampfveranstaltung in Karlshöfen im Februar 2018: „Dieser typische BRD-Politiker, da habe ich noch gedacht, das ist also wirklich unser, unser Feindbild. [...] So weiß ich doch heute aber, glaub ich, ganz genau, dass auch eins unserer Hauptfeindbilder diese Journaille sein muss.“. In seinem Vortrag nennt Heise auch die Namen von Journalist_innen. Seinem Redebeitrag hörten auch Ginanluca Bruno und Nordulf Heise zu, bevor sie nur wenige Wochen später seine Worte in die Tat umsetzten. In den folgenden Monaten nennt Thorsten Heise in seinen Reden Journalist_innen immer wieder namentlich und bläst, mal mehr mal weniger verklausuliert, zum Angriff auf diese.

Warten auf den Prozess

Anfang September 2021 begann mehr als drei Jahre nach der Tat der Prozess vor dem Landgericht in Mühlhausen. Obwohl davon ausgegangen werden kann, dass die Verletzungen mit den verwendeten Waffen auch hätten tödlich ausgehen können, wurden die Täter nur wegen schweren Raubs und gemeinschaftlicher Körperverletzung angeklagt. Die Nebenklage hatte eine Anklage wegen versuchten Totschlags gefordert. Wie bei den Prozessen nach den Neonaziüberfällen von Connewitz und Ballstädt ist auch hier zu befürchten, dass die lange Verfahrensdauer am Ende zu milden Strafen für die Angeklagten führen wird. Am Ende wird auch der Druck außerhalb des Gerichtssaals darüber entscheiden, ob dem Angriff der Neonazis Konsequenzen folgen.

Informationen zur Kampagne „Tatort Fretterode“ und den anstehenden Aktionen und Entwicklungen rund um den Prozess gegen die beiden Neonazis findet ihr auf der Homepage www.tatort-fretterode.de