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Mexiko: Ayotzinapa - wenn die Zeit keine Wunden heilt

Timo Dorsch
Einleitung

43 mexikanische Studenten sind seit über sechs Jahren verschwunden. Auch ein Strafverfahren in Deutschland brachte keine Klarheit über das Verbrechen von „Ayotzinapa“. Nun könnte die Verhaftung des früheren Verteidigungsministers neue Erkenntnisse bringen.

43. Demonstration der Eltern in Ayotzinapa am 28. April 2016. Die Eltern, Freunde und Verwandten der Verschwundenen leiden bis heute. Die Morde in Mexiko werden auch ermöglicht durch deutsche Waffenexporte.

Seit sechs Jahren ist das Schicksal von 43 mexikanischen Lehramtsstudenten ungewiss, die, aus marginalisierten, oftmals bäuerlichen und mehrheitlich indigenen Familien stammend, in der Nacht des 26. September 2014 entführt und ermordet wurden.

Ayotzinapa heißt der Ort ihrer Schule „Raúl Isidro Burgos“ im Bundesstaat Guerrero. Sie ist bekannt für ihren Aktivismus und hohen studentischen Organisierungsgrad. Am 26. September kaperten Studenten mehrere Reisebusse in der nahe gelegenen Kleinstadt Iguala, um mit diesen zu einer Gedenkveranstaltung an das Massaker an Studierenden vom 2. Oktober 1968 nach Mexiko-Stadt zu fahren. Das Kapern von Transportmitteln ist in Mexiko übliche Praxis einer linken außerparlamentarischen Politik, die über knappe Ressourcen verfügt. In dieser Nacht wurden zwei Studenten und drei Zivilist_innen von lokalen Polizisten erschossen. Ein dritter Student, Julio César Mondragón, wurde am nächsten Morgen verstümmelt und tot aufgefunden. 43 weitere Studenten wurden in Polizeifahrzeugen abtransportiert und einer bewaffneten Organisation mit dem Namen „Guerreros Unidos“ übergeben. Auch konnte bewiesen werden, dass das örtlich stationierte 27. Infanteriebataillon sowie Strukturen der Landes- und Bundespolizei auf unterschiedlichen Ebenen darin verwickelt waren.

In Guerrero wurden Regierungsgebäude in Brand gesteckt, da schon früh ersichtlich wurde, dass die mexikanischen Behörden die Aufklärung des Verbrechens nicht aktiv unterstützen würden. Von Anfang an wurde Zutritt zur örtlichen Militärgarnison gefordert, um die Soldat_innen zu befragen. Der damalige Verteidigungsminister General Salvador Cienfuegos Zepeda verweigerte jedoch seine Zustimmung dafür.

Es ist dem politischen Druck der Straße und dem internationalen Druck auf diplomatischer Ebene zu verdanken, dass Ermittlungen eingeleitet wurden. Auf Drängen der Eltern und der Interamerikanischen Menschenrechtskommission (CIDH) wurde eine fünfköpfige internationale Expertenkommission (GIEI) ins Leben gerufen, die durch ein Mandat der mexikanischen Regierung zu unabhängigen Untersuchungen ermächtigt wurde. Bis 2016 veröffentlichte die GIEI zwei Berichte, die über 1.000 Seiten umfassen. Sie gehören zu den detailliertesten Dokumenten, die das mexikanische System der Straffreiheit und Korruption bloßstellen.

Sie berichten, wie sich die mexikanischen Behörden verschiedener Strategien von Desinformation, manipulierten Beweisen und Tatorten sowie unter Folter erzwungenen Geständnissen bedienten, um eine eigene staatliche Version der Wahrheit zu entwerfen, nach der die Studenten auf einer Müllhalde nahe dem Dorf Cocula verbrannt worden sein sollen.

Im Mai 2020 wurde von der Regierung die Präsidentiel-le Kommission für Wahrheit und Zugang zu Gerechtigkeit im Fall Ayotzinapa (Co-VAJ-Ayotzinapa) ins Leben gerufen. Denn bis heute ist insbesondere die Verstri-ckung des Militärs nicht aufgeklärt. Unklar bleibt weiterhin, warum die letzte GPS-Ortung des Handys von Julio César López auf das Gelände des 27. Infanteriebataillons verweist. Zwar hatte die heute aufgelöste Generalstaatsanwaltschaft (PGR) einige der dort stationierten Soldaten befragt, doch stießen Mitglieder der CIDH erst nach erneuter Auswertung im Juni 2018 auf belastende Informationen, nach denen einige der Militärs in einem „Verwandtschaftsverhältnis ersten Grades mit führenden Mitgliedern des organisierten Verbrechens“ stehen, zu dem auch die „Guerreros Unidos“ zählen.

Mix aus Gewalt, Politik und Ökonomie

Wenngleich das Motiv für das Verbrechen noch nicht abschließend geklärt werden konnte, verdichten sich die Hinweise auf eine Drogenlieferung in die USA. Die GIEI und der Journalist José Reveles1 deckten auf, dass die Studenten mit fünf, anstatt mit vier Bussen gereist sind. Der fünfte Bus soll, ohne dass sie davon wussten, eine größere Menge Heroin enthalten haben, das nach Chicago transportiert werden sollte. Bekannt ist, dass über die Bergkette Sierra Madre beachtliche Mengen Drogen in die USA geschmuggelt werden.

Auch wenn der Gewaltexzess, dem die Studenten zum Opfer fielen, auf den ersten Blick als willkürlich erscheint, folgt er doch einer gezielten Logik: Staatliche und nichtstaatliche Akteure, Polizei und organisierte kriminelle Gruppen, legale und illegale Unternehmer nutzen die Gewalt als Mittel der Einschüchterung, die der Kontrolle eines bestimmten Territoriums sowie der dort lebenden Bevölkerung zur Durchsetzung ihrer ökonomischen Interessen dient.

Ohne es zu beabsichtigten, störten die Studenten vermutlich das Heroin-Geschäft. Die Gewalt, die sie deshalb erleiden mussten, konnte anfangs deshalb für die Täter ohne Konsequenzen bleiben, weil sie von denen geschützt wurden, die in der Region das Sagen haben: einer Verbindung von kriminellen und staatlichen Akteuren, welche die politischen und ökonomischen Abläufe in der Region bestimmen und mitunter hohe offizielle Posten bekleiden.

Mitte Oktober 2020 wurde der ehemalige Verteidigungsminister Cienfuegos in Los Angeles von der US-Drogenaufsichtsbehörde DEA festgenommen. Er soll mit dem sogenannten H-2 Kartell, Nachfolgestruktur der kriminellen Beltrán-Leyva-Organi-sation (BLO) aus dem Bundesstaat Guerrero, zusammenarbeiten. Laut Anklage wird ihm die Beteiligung am internationalen Drogenhandel vorgeworfen. Auch die „Guerreros Unidos“ gingen aus der BLO hervor. Ende November 2020 wurde der General nach Bestrebungen des mexikanischen Präsidenten Andrés Manuel López Obrador jedoch nach Mexiko überbracht, wo er nun auf freiem Fuß ist.

The German Connection

Eine Spur der Mitverantwortung im Fall „Ayotzinapa“ führt auch nach Deutschland. Ohne das Zutun deutscher Behörden wäre ein illegaler Waffenexport nach Mexiko nicht möglich gewesen. Waffen, von denen ein Teil in die Hände derjenigen Polizeieinheit fiel, die in Iguala auf die Studenten schoss und sie an die „Guerreros Unidos“ übergab.

Ein Vertrag der deutschen Firma "Heckler & Koch" (HK) mit einer Tochterfirma des mexikanischen Militärs machte möglich, dass zwischen 2006 und 2009 knapp 10.000 G-36 Sturmgewehre nach Mexiko exportiert wurden. Bei Rüstungsexporten müssen bestimmte Ausfuhrgenehmigungen der Bundesregierung befolgt werden. Allen voran die sogenannte Endverbleibserklärung, ein staatlicher Kontrollmechanismus, der das Empfängerland dazu verpflichtet, die Regelungen und Bestimmungen des Herkunftslandes zu befolgen. Dazu zählt auch, keine aus Deutschland importierten Rüstungsgüter in Regionen weiterzuverschicken, für die es keine Ausfuhrgenehmigung gibt.

In Mexiko fielen zu diesem Zeitpunkt die vier Bundesstaaten Chihuahua, Jalisco, Guerrero und Chiapas unter die Verbotsregelung. Doch zwei der vier Regionen tauchten in den Lieferverträgen als Bestimmungsort auf und ganze 4.767 G36-Sturmgewehre wurden dorthin geliefert. Der Gesamtwert dieser Ausfuhren: 4,1 Millionen Euro.

Es ist einem Whistleblower des Unternehmens sowie den Recherchen von Anwält_innen, Journalist_innen und Friedensaktivist_innen zu verdanken, dass einer der größten Waffenskandale der Bundesrepublik aufgedeckt und vor dem Stuttgarter Oberlandesgericht verhandelt werden konnte. Beim Prozessauftakt im Mai 2018 mussten sich lediglich sechs der ursprünglich 15 Angeklagten wegen Verstößen gegen das Kriegswaffenkontroll- und Außenwirtschaftsgesetz verantworten. Aufgrund der achtjährigen Verzögerung des Verfahrens trat eine Verjährungsfrist in Kraft, die die neun Beamt_innen des Bundesausfuhramts (BAFA) und des Bundesministeriums für Wirtschaft (BMWi) vor einer Anklage schützt.

In Mexiko nennt man solch einen behördlichen Akt gemeinhin „carpetazo“. Mit ihm wird eine staatlich garantierte Straflosigkeit assoziiert. Die Firma H&K wurde im Februar 2019 zu einer Strafe von 3,7 Millionen Euro verurteilt, zwei ehemalige Geschäftsführer hingegen freigesprochen. Der Vorsitzende Richter hielt in seinem Urteil fest, dass die Endverbleibserklärungen nicht Teil des Genehmigungsverfahrens für Waffenexporte sind. Damit vertritt das Gericht eine andere Rechtsauffassung als die Bundesregierung.

Doch ob Teil oder nicht, praktische Kontrollmöglichkeiten haben das BAFA und BMWi ohnehin nicht, da ihnen die Befugnisse fehlen, Geschäftsverträge einzusehen und im Empfängerland Untersuchungen durchzuführen. Und während in Deutschland noch über die Rechtslage gestritten wird, leiden die Eltern der Studenten noch immer an der Ungewissheit, was mit ihren Söhnen tatsächlich geschehen ist.

  • 1Er veröffentlichte das Buch „Échale la culpa a la heroina“ (Gib dem Heroin die Schuld).