Skip to main content

Mare Nostrum

Aktiven der Forschungsgesellschaft Flucht und Migration Afrique Europe Interact Welcome to Europe und transact
Einleitung

Widerstand von unten zwingt Europa zur Rettung

Mit folgendem Text wollen wir einige Überlegungen zur italienischen Marineoperation Mare Nostrum und somit zur aktuellen Situation im zentralen Mittelmeer zur Debatte stellen. Es sollte immer wieder in Erinnerung gerufen werden, dass erst ab 1993 durch politische Entscheidungen all jene tödlichen Bedingungen erschaffen wurden, die von heute auf morgen wieder verschwinden könnten. Dass sich dies allein durch nachhaltigen Druck von unten durchsetzen lässt, ist zentraler Ausgangspunkt der folgenden sieben Thesen. 

Foto: UNHCR; A. Rodriguez/CC BY NC 2.0

1. Von den Zielen der Militarisierung...

Auf Anordnung der italienischen Regierung begann das italienische Militär Ende Oktober letzten Jahres mit der Operation „Mare Nostrum“. In Reaktion auf die „Tragödie“ vom 3. Oktober 2013 vor Lampedusa startete die Marine einen Großeinsatz, um Boatpeople frühzeitig auf See zu retten bzw. abzufangen. Eine ganze Flotte inklusive Aufklärung aus der Luft wurde bis nahe der libyschen Küste in Bewegung gesetzt, um eine lückenlose Überwachung zu gewährleisten.

Dieser neue Schritt der Militarisierung des Grenzregimes zielte auf Abschreckung durch vorverlagerte Präsenz, unter anderem indem Fluchthelfer noch auf See identifiziert und festgenommen werden sollten. Darüber hinaus wurden Flüchtlinge und MigrantInnen auf den Schiffen registriert, zur Abnahme der Fingerabdrücke gezwungen und nach Herkunftsländern „gescreent“. Menschen aus Eritrea, Somalia oder Syrien wurden aufgenommen und in Lagern untergebracht; NigerianerInnen erhielten eine Ausreiseaufforderung und landeten auf der Straße; tunesische und ägyptische MigrantInnen sahen sich verschärften Rückschiebungen ausgesetzt. Dass anfangs auf einem der Schiffe auch libysche Offiziere an Bord waren (vorgeblich „zur Beobachtung“), zeigt, dass Mare Nostrum von Anfang an unterschiedliche Zielsetzungen verfolgt hat.

2. ... zu den Realitäten der Rettung

Alle „Kooperationsbemühungen“ mit Libyen scheiterten, weil es die Machtkämpfe verunmöglichten, verlässliche Partner zu finden — mittlerweile gilt das Land als Failed State. Von einzelnen Ausnahmen abgesehen mussten alle Boatpeople nach Sizilien transportiert werden. Selbst in den Winter- und Frühjahrsmonaten hatten sich die Überfahrten fortgesetzt, seit März starten immer mehr Boote. Statistisch gesehen ist das laufende Jahr bereits Ende Juli ein Rekordjahr. Außerdem gab es im Verhältnis zu den Ankunftszahlen weniger Todesfälle im zentralen Mittelmeer — jedenfalls bis Mai 2014. Mare Nostrum sollte das Sterben reduzieren, um einer handfesten Legitimationskrise des Migrationsregimes vorzubeugen. Das sollte als zentraler und kaum zu überschätzender Erfolg der Entwicklung der letzten Monate gesehen werden.

3. Die Bewegung der Migration schleift die militarisierte Festung

Trotz aller Abschreckung durch kalkuliertes Sterben-Lassen, trotz systematischer Menschenrechtsverletzungen mittels Rückschie­bungen: es ist und war in erster Linie die Hartnäckigkeit der sozialen Bewegung der Migration, die dem unerbittlichen EU-Grenzregime diesen Erfolg abgerungen hat. Auch haben vor allem Gruppen syrischer und eritreischer Flüchtlinge in den letzten Monaten kollektiv die Abgabe der Fingerabdrücke verweigert. Sie kannten bereits die Gefahr, mit diesem Fingerabdruck an Italien als Land der Asylantragstellung gebunden zu bleiben und die damit verbundene drohende Obdachlosigkeit und mangelnden Perspektiven. Deshalb wurden sie durch Aufstandsbekämpfungseinheiten zu­nächst auf Lampedusa und später auf Sizilien zur Abgabe gezwungen. Dabei wurden dehydrierte und entkräftete Flüchtlinge wiederholt teils mit Elektroschockern, teils mit roher Gewalt (bis hin zu Knochenbrüchen) ruhiggestellt. Ergebnis dieser Auseinandersetzungen ist, dass Italien mittlerweile tausendfach auf biometrische Kontrollen und somit auf den „Fluch des Fingers“, d.h. Dublin III, verzichtet — was allerdings nicht darüber hinwegtäuschen sollte, dass sich die italienische Regierung auf diese Weise auch ihrer Verantwortlichkeit in der Flüchtlingsfrage zu entziehen und das übrige Europa unter Druck zu setzen versucht.

4. Nachwirkung der Aufstände in Nordafrika

Mit den Aufstandsbewegungen zunächst in Tunesien, dann in Ägypten und in Libyen sind 2011 kurz nacheinander drei sogenannte Wachhundregime der EU in Nordafrika weggebrochen. Vom arabischen Frühling ist heute allenfalls in Tunesien noch etwas zu spüren. Dennoch ist es der EU bislang nur teilweise gelungen, ihr Ziel einer vorverlagerten Migrationskontrolle neu zu verankern. Zwar funktioniert die Rückschiebung tunesischer und ägyptischer Harragas („Grenzverbrenner“) aus Italien längst wieder, zudem sind Flüchtlinge und MigrantInnen aus Subsahara-Afrika mit massiver Entrechtung in Tunesien konfrontiert, aber die Einbindung in eine umfassendere Externalisierungsstrategie, die insbesondere die subsaharische Migration ausbremsen soll, funktioniert weniger reibungslos, insbesondere im krisengeschüttelten Libyen.

5. Widerstand und kritische Öffentlichkeit in Europa

Ein dritter Faktor hat mit dem 3. Oktober 2013 maßgeblich an Gewicht gewonnen: Quer durch Europa und besonders in Deutschland war die mediale Berichterstattung kritischer denn je. Niemals in den letzten 20 Jahren wurde die EU-Migrationspolitik derart grundsätzlich in Frage gestellt. Bereits 2004 bis 2006 waren im Atlantik Tausende von MigrantInnen ertrunken, ohne dass es eine breitere Öffentlichkeit zur Kenntnis genommen hätte. Und auch in den letzten Jahren gab es einzelne „Bootstragödien“ mit noch mehr Toten als am 3. Oktober, ohne dass es zu einem vergleichbaren Aufschrei gekommen wäre. Tausendfache Proteste und Gedenkveranstaltungen zu den Opfern an den Außengrenzen, hundertfache Aktionen gegen Abschiebungen und nicht zuletzt die zunehmende Selbstorganisierung von Flüchtlingen — all dies hat dazu beigetragen, dass die Verantwortlichen für die Opfer des Grenzregimes unter massiven Druck geraten sind und dass Slogans wie „Refugees Welcome“ und „kein Mensch ist illegal“ mittle­r­weile auf neuem Niveau unterstützt werden.

6. Rückkehr zum Massensterben?

Während die internationale Presse regelmäßig über die Flüchtlinge berichtet, die durch Mare Nostrum gerettet werden, herrscht in den letzten zwei Monaten ein zensurähnliches Schweigen über die zunehmenden Schiffskatastrophen zwischen Libyen und Sizilien. Seit Mai 2014 gibt es kleine Meldungen darüber, dass sich die italienischen Militärschiffe immer wieder aus der See vor Libyen zurückziehen und immer größere Lücken lassen, die auch die italienische Küstenwache auf SOS-Anruf nicht mehr schließen kann. Einige Schiffskatastrophen haben sich daher trotz SOS-Alarm ereignet. Über 1000 neue Opfer sind die Konsequenz dieses Teilrückzuges, während in der italienischen Öffentlichkeit die zu hohen Kosten der Operation beklagt werden und die EU — allen voran die deutsche Regierung — alle Forderungen nach einer europaweiten Beteiligung strikt zurückweist. Überlegungen, dass Frontex das Rettungsprogramm übernehmen solle, erscheinen absurd: Die EU-Grenzschutzagentur hat weder die Ausstattung noch die Kapazitäten und noch weniger das Interesse. Frontex steht vielmehr für Flüchtlingsabwehr und Migrationskontrolle mit allen Mitteln.

7. Forderungen und Perspektiven

Retten mit allen Mitteln, im gesamten Mittelmeer und auch vor der libyschen Küste: das ist das dringende Gebot der Stunde! Denn das Leben im libyschen Transit wird für Flüchtlinge angesichts der Folter in den Lagern und dem Rassismus sowie den kriegerischen Auseinandersetzungen auf den Straßen immer unerträglicher. Selbst der UNHCR hat sich vollständig aus Libyen zurückgezogen. Auf das SOS der Boatpeople muss überall umgehend reagiert werden. Es müssen die ersten Ansätze selbstorganisierter Alarmnetzwerke mit Notruftelefonen weiterentwickelt werden, um sofortigen Druck auf die Verantwortlichen ausüben zu können, wenn die Rettung unterbleibt oder hinausgezögert wird. Und: Fähren für die Bedürftigen hatte der Papst angemahnt, humanitäre Korridore oder legale Einreisemöglichkeiten fordern verschiedene Menschenrechtsgruppen. Das sind sinnvolle Zwischenschritte, wenn sie nicht mit der Etablierung eines reformierten neuen Grenzregimes einhergehen, sondern mit einer grundsätzlichen Kritik an der EU-Migrationspolitik verbunden werden. Die Visaverfahren und das gesamte Instrumentarium der Ausgrenzung müssen fallen, um das universelle Recht auf Schutz und Bewe­gungsfreiheit durchzusetzen. Freiheit statt Frontex bleibt die zugespitzte richtige Parole, und der Weg zu dieser Freiheit muss mit dem verstärkten Aufbau von Strukturen der Selbstorganisierung und Unterstützung entlang der gesamten Route gebahnt werden.