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Kriminalisierung der Seenotrettung

Autor*innenkollektiv Loud and Clear
Einleitung

Das Rettungsschiff "Iuventa" liegt nun seit über 16 Monaten festgesetzt in Trapani, Sizilien. Es wurde am 2. August 2017 von den italienischen Behörden beschlagnahmt, nachdem die Crews der "Iuventa" über 14.000 Menschen aus Seenot gerettet hatten (siehe AIB Nr. 116). Dies war der Auftakt einer von den Ermittlungsbehörden lancierten Hetzkampagne in den italienischen Medien gegen alle in der Seenot­rettung aktiven NGOs, die schließlich darin gipfelte, dass im Spätsommer und Herbst 2018 zeitweise kein einziges Rettungsschiff im zentralen Mittelmeer aktiv sein konnte. Die Folge war ein drastischer Anstieg der Todesrate auf dieser Fluchtroute. Lag sie 2017 bei ca. 2,5 Prozent, stieg sie in diesem Jahr teilweise auf bis zu 20 Prozent an. Das heißt: Jede*r fünfte Flüchtende starb bei dem Versuch Europa zu erreichen. Das Mittelmeer ist nach wie vor die tödlichste Grenze der Welt. Die Stimmung gegenüber den NGOs ist in Teilen der Gesellschaft extrem feindselig geworden.

Dabei war die öffentliche Meinung zu Beginn der privaten Seenotrettungen durch­aus wohlwollend. Als Sea Watch im Jahr 2015 mit den Rettungseinsätzen begann und im Folgejahr viele weitere Schiffe dazu kamen, wurde darüber zunächst positiv berichtet. Kritik in den rechten Medien gab es zwar von Anfang an, aber erst Ende 2016, Anfang 2017 fanden die kritischen Stimmen einen Weg in die breitere Öffentlichkeit. Interessant dabei ist zu betrachten, woher diese kamen und wie der öffentliche Diskurs schließlich kippte.

Die ersten Berichte über eine angebliche Zusammenarbeit von NGOs mit Schleppern wurden Ende 2016 von der niederländischen Gefira Foundation und dem Newropeans Magazine verbreitet.1  Beide stehen ideologisch den Identitären nahe. Sie behaupteten, NGOs würden in großem Umfang Flüchtende nach Europa schmuggeln. Die angeblichen Beweise: Screenshots von der Schiffstracking-Webseite Marinetraffic, die falsch beschriftet und teilweise gefälscht waren. Die Artikel erschienen am 11. November und 4. Dezember 2016 und sind nach wie vor online verfügbar.

Der erste Bericht in den Mainstream-­Medien folgte kurz darauf. Am 15. Dezem­ber 2016 titelte die englische Financial Times „EU border force flags concerns over charities’ interaction with migrant smugglers“ und bezog sich dabei auf einen inter­nen Frontex-Bericht. Beweise für die Behauptungen, die NGOs würden mit Schleppern zusammenarbeiten, wurden jedoch nicht geliefert. Frontex dementierte prompt und der Artikel wurde überarbeitet. Dennoch nährte Frontex-Chef Fabrice Leggerie unter anderem in einem Interview mit der Welt im März 2017 die Zweifel an der korrekten Arbeit der NGOs. Auch er äußerte keine konkreten Vorwürfe, sondern machte nur nebulöse Andeutungen, die Rettungseinsätze vor der libyschen Küste könnten „die Geschäfte der kriminellen Netzwerke und Schlepper in Libyen... unterstützen“ und müssten deshalb „auf den Prüfstand“.2

Der italienische Staatsanwalt Carmelo Zuccaro behauptete in Folge dieser Berichte, er hätte Beweise für die Zusammenarbeit der NGOs mit Schleppern, aber diese seien vor Gericht nicht verwertbar. Vorlegen konnte er jedoch nichts. Dennoch berief sich der damalige deutsche Innenminister De Maizière in einem Interview mit der Tageszeitung „Die Welt“ auf eben diese Aussagen, um weitere Zweifel an der Arbeit der NGOs zu sähen.3  In der Folge berichteten immer mehr Medien über Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Handelns der NGOs. Dankbar aufgegriffen wurden diese Vorlagen von der (extremen) Rechten, vor allem den Anhängern der „Identitären Bewegung“ (IB), die mit verschiedenen öffentlichen Aktionen immer wieder versuchten, die Seenotrettung weiter zu diskreditieren. Insbesondere ihre Kampagne „Defend Europe“ im Mittelmeer sorgte im Sommer 2017 für eine breite Medienberichterstattung.

Mitten hinein in diese Stimmung fiel die Beschlagnahmung der "Iuventa" durch die italienischen Behörden am 2. August 2017. Die Ermittlungen gegen die Crews der "Iuven­ta" wurden bereits im September 2016 von zwei Mitarbeitern des Sicherheitsdienstes IMI-Security aus Italien ange­stoßen. Sie hatten in einer Email an den italienischen Geheimdienst AISE und an einen Lega-Abgeordneten behauptet, die Crews der "Iuventa" würden mit Schleppern zusammenarbeiten. In einer geschlossenen von IMI-Security betriebenen Facebook-Gruppe war auch Gian Marco Concas Mitglied. Concas wurde als „technischer Direktor“ des Schiffes „C-Star“ geführt, mit dem die „Identitäre Bewegung“ im Mittelmeer die Arbeit der NGOs vor der libyschen Küste behindern wollten. Auf einer Facebook-Seite der „Identitären Bewegung“ wurde am Tag nach der Beschlagnahmung der "Iuventa" ein Artikel veröffentlicht, der die „Aufklärungsarbeit“ von Concas lobte und die Beschlagnahmung als „erste Früchte seiner Arbeit“ präsentierte.

Substanzielle Beweise für die Beschlagnahmung gab es nicht, dafür war sie medial gut inszeniert. Die italienischen Medien waren vorab informiert, so dass sie recht­zeitig in Lampedusa am Pier sein konnten, um über die Aktion zu berichten. Alle durch die Behörden vorgelegten angeblichen Beweise konnten inzwischen von der unabhängigen Forschungsgruppe „Forensic Architecture“ der Goldsmith University in London widerlegt werden.4

Nichtsdestotrotz wurden im Juni 2018, nur wenige Wochen nach Amtsantritt Matteo Salvinis post-faschistischer Lega in Koalition mit der 5-Sterne-Bewegung, zehn ehemalige Crew-Mitglieder der "Iuventa" von der italienischen Staatsanwaltschaft darüber benachrichtigt, dass Ermittlungen gegen sie geführt werden. Der Vorwurf lautet „Beihilfe zur illegalen Einreise“ und wird in Italien mit Gefängnis zwischen fünf und zwanzig Jahren und hohen Geldstrafen bestraft. Zu erwarten ist ein langwieriger Prozess, der sich über drei bis vier Jahre hinziehen und mehrere hunderttausend Euro kosten wird.

Innenminister Salvini, der den „Identitären“ nahe steht und sich bereits 2015 mit dem rechten Verleger Götz Kubitschek aus Deutschland ablichten ließ, hatte NGOs, die Seenotrettung im zentralen Mittelmeer betreiben, immer wieder als „Taxis der Meere“ bezeichnet. Dieser Begriff war ursprünglich von seinem Regierungskollegen Luigi Di Maio von der 5-Sterne-Bewegung geprägt worden, der bereits Anfang 2017 von einem „Sea-Taxi Service“ sprach, der unbedingt gestoppt werden müsse. Unter Salvini wurde dieser Stopp dann tatsächlich Realität. Nicht nur NGO-Schiffen wurde die Einfahrt in italienische Häfen verwehrt, auch Handels- und NATO-Schiffe waren betroffen und sogar der eigenen Küstenwache wurde das Einlaufen mit geretteten Migrant*innen zunächst verweigert. Auf Druck Italiens hinderte Malta die NGO-Schiffe am Auslaufen und Gibraltar und Panama entzogen dem Rettungsschiff „Aquarius“ der NGO SOS Mediterranee – ebenfalls auf Druck Italiens – die Flagge. Die „Aquarius“ musste den Betrieb inzwischen einstellen. "SOS Mediterranee" war zuvor mehrfach Ziel von Aktionen der "Identitären Bewegung" gewesen. Am 12. Mai 2017 verzögerten sie medienwirksam das Auslaufen der "Aquarius" in Catania, am 5. Oktober besetzten sie zeitweise das Büro von "SOS Mediterranee" in Marseille.

Die Flucht über das zentrale Mittelmeer verhinderten diese Maßnahmen nicht. Sie führten lediglich dazu, dass keine Rettungsschiffe mehr vor Ort sind und Handelsschiffe in zunehmendem Maße Boote in Seenot ignorieren, da sie eine tagelange Odyssee auf der Suche nach einem sicheren Hafen fürchten müssen. Die 2018 massiv gestiegene Todesrate ist eine direkte Folge der Verhinderung von Seenotrettung durch Italien und die Staaten der europäischen Union. Die Kriminalisierung humani­tärer Helfer*innen ist ein Baustein in dieser Abschottungspolitik, die das Mittelmeer zur tödlichsten Grenze der Welt macht.

Mehr Informationen und einen Spendenaufruf findet Ihr hier: https://solidarity-at-sea.org/donate