Skip to main content

Kriegsverrat und die NS-Militärjustiz

Wolfram Wette Detlef Vogel (Hrsg.)

»Unrecht kennt keinen Verrat«, lautet ein berühmter Ausspruch des Staatsanwaltes Fritz Bauer, der in den fünfziger Jahren eine Aufhebung der Urteile wegen Kriegsverrats forderte, welche während des Nationalsozialismus ergangen waren – seine Forderung ist noch immer nicht umgesetzt worden. Unterdessen hat die Legende der unschuldigen Wehrmacht trotz Wehrmachtsausstellung und vieler anderer antifaschistischer Aufklärungskampagnen bis heute überlebt. Ebenso verbreitet ist es daher, die Opfer des Militärapparates keiner pauschalen Rehabilitierung unterziehen zu wollen, sondern den »üblichen Rechtsregeln« zu unterwerfen.

Während der Bundestag im Mai 2002 die Deserteure der Wehrmacht endlich rehabilitiert hat, wird die Verurteilung wegen Kriegsverrat noch immer tabuisiert und verharmlost. Erst im Herbst des vergangenen Jahres hatte die Fraktion DIE LINKE einen entsprechenden Gesetzentwurf in den Bundestag eingebracht. Dieser wurde um unbestimmte Zeit verschoben – man wolle zunächst Sachverständige anhören, so die Begründung, bevor man allzu schnelle Urteile fälle. Für solchen Sachverstand stehen nicht zuletzt die Historiker Wolfram Wette und Detlev Vogel, welche mit dem von ihnen herausgegebenen Buch »Das letzte Tabu – NS-Militärjustiz und Kriegsverrat« zugleich die Debatte neu belebt haben.

Sie dokumentieren darin Anklageschriften und Urteile von insgesamt 39 Fällen des Kriegsverrats während des NS. Diese Fülle an erstmals veröffentlichen Schriften, die in detailgenauer Arbeit recherchiert und niedergeschrieben wurden, weist eine ungeheure Mannigfaltigkeit an Fällen auf und führt damit zugleich vor Augen, mit welcher Willkür der Tatbestand des Kriegsverrats durch die zuständigen Gerichte, vor allem durch das Reichkriegsgericht, angewandt wurde. Was Kriegsverrat zu dieser Zeit bedeutete, drückte der einflussreichste Kommentator des Militärstrafgesetzbuches, der Jurist Erich Schwinge, 1936 folgendermaßen aus: Kriegsverrat sei »jede Verschiebung des Kräfteverhältnisses zugunsten der Macht des feindlichen Staates, sofern dadurch irgendwie die militärische Lage beeinflusst werden kann«. Dies müsse »weit ausgelegt« werden. Im Laufe der Zeit wurde seine Kommentierung sowohl konkreter als auch zugleich noch undeutlicher: Seit dem Krieg mit Russland genügte auch ihm »jede Unterstützung der Ziele des Bolschewismus«. Damit war den Juristen bei der Gesetzesanwendung freie Hand gelassen.

So tauchen in der Sammlung von Wette und Vogel einerseits Fälle von bewusstem politischen Widerstand auf, so etwa durch die Berliner Gruppe »Rote Kapelle«. Die Gruppe bestand aus mehr als 100 Mitgliedern und wollte die Berliner Bevölkerung zum Widerstand aufrufen. Mindestens fünf Mitglieder wurden nach ihrer Aufdeckung 1942 wegen Kriegsverrats zum Tode verurteilt. Im Fall des Michael Fries reichte hingegen bereits der Kontakt mit kommunistischen deutschen EmigrantInnen, um die Todesstrafe zu verhängen. Erich Heym wurde in erster Linie deshalb verurteilt, weil er eine homosexuelle Beziehung mit einem polnischen Kriegsgefangenen unterhielt. Daneben wandte man den Tatbestand des Kriegsverrats ebenso im Fall von Solidarisierungsaktionen gegenüber verfolgten JüdInnen sowie beim Überlauf zu Partisanengruppen an.

Auf die Verurteilung wegen Kriegsverrats stand ausnahmslos die Todesstrafe. Die Verurteilungen trafen allerdings in erster Linie die einfachen Soldaten, wohingegen die NS-Militärjustiz sich erheblich schwerer damit tat, etwa die nationalkonservativ geprägten Widerstandsgruppen in den Reihen der höheren Dienstgrade zu belangen. Eine Sichtweise im Übrigen, die sich in der Erinnerungskultur wiederspiegelt: Werden die vielen »kleinen« Opfer des NS-Justizapparates noch immer kleingeredet, bedenkt man die deutsch-nationalen Widerständler alle Jahre wieder am 20. Juli mit pompösen Feierlichkeiten.

Die umfangreiche Dokumentation wird bereichert durch eine Einführung in die juristischen und politischen Hintergründe des Kriegsverratsparagraphen. Dabei setzt sich das Buch zugleich mit der – fehlenden – Aufarbeitung in der Nachkriegszeit bis heute auseinander. Damit erschließt sich den LeserInnen der Kontext, in welchem der Gegenstand der historischen Betrachtung noch heute zu betrachten ist. Ob das Buch damit »das letzte Tabu« gesamtgesellschaftlich endgültig gebrochen hat, ist angesichts der gegenwärtigen Debatte mehr als fraglich. Nichtsdestotrotz ist es ein wichtiger Baustein gegen die Relativierung eines allzu lang verschwiegenen Themas. (Matthias Lehnert)

Wolfram Wette/Detlef Vogel (Hrsg.)
Das letzte Tabu – NS-Militärjustiz und »Kriegsverrat«
Aufbau-Verlag 2007
508 S., 24,95 EUR