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Keine idealen Opfer. Wahrnehmungsschwierigkeiten in Brandenburg

ein "Opferperspektive e.V." (Gastbeitrag)
Einleitung

Wittstock an der Dosse, eine Kleinstadt am nordöstlichen Rand von Brandenburg, kommt aus den Schlagzeilen nicht heraus. Die jüngste Meldung stammt von Anfang September: Unbekannte verübten einen Brandanschlag auf die Gedenkstätte im Belower Wald, in der an die Todesmärsche der KZ-Häftlinge kurz vor der Befreiung vom Nationalsozialismus erinnert wird. Schon seit Anfang der neunziger Jahre wurden MigrantInnen, dunkelhäutige TouristInnen, russisch-deutsche AussiedlerInnen und linke Jugendliche in der Stadt Opfer rechter Angriffe. Wittstock ist seitdem ein Kristallisationspunkt der rechtsextremen Organisierung in Brandenburg.

Teilnehmer einer Neonazi-Demonstration in Wittstock

Der Verein Opferperspektive entschied Anfang 2001, in Wittstock und Umgebung intensiv und längerfristig zu arbeiten. Nach einem Angriff auf einen schwarzen Deutschen im Mai 20011 erhielten wir Hinweise, dass nicht nur MigrantInnen und linke Jugendliche Opfer rechter Gewalt wurden, sondern auch immer mehr Russlanddeutsche Angriffen, insbesondere von rechten Jugendcliquen, ausgesetzt sind. Zunächst war es  schwer, Kontakt zu der russlanddeutschen Gemeinde zu bekommen. Die Opferperspektive bemühte sich, eine Rechtshilfebroschüre in russischer Sprache zu verteilen und damit verbunden ein konkretes Beratungsangebot zu machen.

Einige wenige Familien, die einer systematischen Diskriminierung oder körperlichen Angriffen ausgesetzt waren, nahmen schließlich Kontakt auf. Sehr schnell zeigte sich, dass auf der Seite der russisch-deutschen Gemeinde eher eine passive und abwartende Haltung dominierte. Die meisten AussiedlerInnen waren nur bereit, in anonymer Form über entsprechende Vorkommnisse zu berichten, sie hatten Angst vor möglichen Konsequenzen von Seiten der Stadt und der örtlichen rechten Szene. Sie selber sahen sich eher als AusländerInnen, denn als SpätaussiedlerInnen. Nur wenige Betroffene von rassistischen Angriffen sahen einen Sinn darin, die Vorfälle bei der Polizei anzuzeigen. Allerdings wurde das Team der Opferperspektive nach einigen Gesprächen mit AussiedlerInnen schon bald von Familie zu Familie gereicht. Dadurch erhielten wir einen Eindruck davon, unter welch enormem Druck und unter welcher Angst AussiedlerInnen in Wittstock und Umgebung leben müssen.

Die eher passive Haltung der Russlanddeutschen wird durch die Hoffnung genährt, »bald« Wittstock verlassen zu können und sich auf den Weg in die alten Bundesländer zu machen. SpätaussiedlerInnen sind nach dem Bundesvertriebenengesetz zwar als deutsche Staatsbürger aufzunehmen, jedoch ist für sie das Wohnraumzuweisungsgesetz gültig. Dies bedeutet, dass trotz der deutschen Staatsbürgerschaft das Grundrecht der Freizügigkeit für die Dauer von drei Jahren eingeschränkt ist – es sei denn es gelingt den Betroffenen, sich selbständig einen Arbeitsplatz zu suchen. Für viele AussiedlerInnen in Wittstock bedeutet dies, die Stadt und den Landkreis nach dem Ablauf der Dreijahresfrist so schnell wie möglich zu verlassen.

Aus diesem Grund fand auch der Vorschlag des Teams der Opferperspektive an die russisch-deutschen GesprächspartnerInnen keine Zustimmung, sich in das Bündnis für ein tolerantes Wittstock einzubringen und dieses Forum zu nutzen, um auf ihre eigene prekäre Situation aufmerksam zu machen.

Der Tod von Kajrat B.

Am frühen Morgen des 4. Mai 2002 wurden der 24jährige Kajrat B. und sein Freund Max K. nach einem Partybesuch in Alt-Daber bei Wittstock von hinten angegriffen und mit äußerster Brutalität zusammengeschlagen. Max K. berichtete später, sie hätten schon während der Technoparty gemerkt, dass sie als »Russlanddeutsche« erkannt worden seien. Die beiden hätten sich unwohl gefühlt und aus Angst gewartet, bis nur noch wenige Gäste anwesend waren. Der Angriff auf Kajrat B. und Max K. ereignete sich dann, als die beiden frühmorgens die Party verließen und zu ihren Fahrrädern gehen wollten. Mindestens vier Personen waren an dem Angriff beteiligt. Dabei wurde Kajrat B. mit einem 15 Kilogramm schweren Feldstein der Brustkorb zertrümmert, außerdem wurde er mit schweren Stiefeltritten traktiert.

Um die Angreifer stand zu diesem Zeitpunkt eine ca. 10 bis 15- köpfige Gruppe herum, die nicht eingriff. Die Staatsanwaltschaft geht von einem fremdenfeindlichen Motiv für die Tat aus. Zwei Wochen später starb  Kajrat B. an seinen schweren inneren Verletzungen. Der Tod von Kajrat B. spitzte die Situation in Wittstock innerhalb kurzer Zeit ungemein zu. Die russisch-deutsche Gemeinde befand sich nach dem Tod von Kajrat in einem Schockzustand.  Auch wenn das fremdenfeindliche Tatmotiv bisher nur von der Staatsanwaltschaft vermutet wird, so gibt es doch auf Seiten der russisch- deutschen Gemeinde niemanden, der nicht davon ausgeht, dass Kajrat B. Opfer eines rassistischen Angriffs wurde.

Nazistrukturen vor Ort

In Wittstock existiert einer der aktivsten NPD-Kreisverbände in Brandenburg. Der in Cumlosen lebende Landwirt Mario Schulz2 und NPD-Landesvorsitzende von Berlin/Brandenburg baute innerhalb von zwei Jahren einen aktiven Kreisverband in der Stadt auf, der einerseits durch Demonstrationen Nachwuchs zu rekrutieren versucht, aber andererseits auch Einfluss auf die Kommunalpolitik ausüben will.

So diskutierte Schulz im April 2002 bei einer Veranstaltung zum Thema Rechtsextremismus fleißig mit den städtischen Kommunalpolitikern und forderte für die örtliche »nationale Jugend« einen eigenen Treffpunkt. Der 36jährige Schulz stellt für die rechte Szene im Ort und den umliegenden Dörfern eine Art Vaterfigur dar. Er bietet sich als Ansprechpartner für politische Diskussionen ebenso wie für soziale Probleme seiner Schützlinge an. Neben der NPD, die vorwiegend jugendliche Anhänger in Wittstock und Umgebung hat, existieren noch einzelne rechte Cliquen, die durch eine hohe Gewaltbereitschaft auffallen. An dem stadtbekannten rechten Treffpunkt an der ELF – Tankstelle mischen sich »organisierte« Rechte mit den eher subkulturell orientierten Cliquen.

Vorläufer der heutigen rechtsextremen Organisierung fanden sich schon Anfang der neunziger Jahre. Neonaziskins wie Marco B. gehörten zu den ständigen Gästen des Jugendclubs Havanna und konnten dort ungestört rekrutieren. Angriffe auf nicht-rechte Jugendliche und Linke waren Anfang und Mitte der neunziger Jahre in Wittstock an der Tagesordnung.3 So wurden beispielsweise bekannte linke Jugendliche mehrfach in ihren Wohnungen und auf offener Straße überfallen. Neonazis schossen auf die Fenster einer Wohnung, in der eine stadtbekannte nicht-rechte Sozialarbeiterin lebte. In der Stadt gab es von Seiten der politisch Verantwortlichen, wie beispielsweise dem seit 1990 amtierenden Bürgermeister Lutz Scheidemann (FDP), keinerlei Reaktionen auf den rechten Terror.

Es wurde geschwiegen und verharmlost; die Polizei kam entweder zu spät oder drangsalierte die Opfer der Angriffe. Die meisten von ihnen verließen die Stadt, so dass sich eine rechte Hegemonie ungestört entwickeln und etablieren konnte. Entsprechend gut vernetzt sind Wittstocker Neonazis und rechte Schläger heute auch. Kontakte zu »Kameraden« in Neustrelitz oder Waren in Mecklenburg-Vorpommern sowie gemeinsame Besuche bei überregionalen Neonaziskinkonzerten gehören selbstverständlich zum rechten Alltag. Heute werden die meisten rassistischen Übergriffe in Wittstock von diversen losen, auf »Kameradschaft« basierende Strukturen verübt. Aber auch  Protagonisten der örtlichen NPD wie Sven K. und Matthias W. sind in diese Angriffe involviert.

Nach dem Tod von Kajrat B. übte sich die örtliche NPD-Struktur in Distanzierungsritualen, und einige »Kameraden« nahmen gar demonstrativ an dem nachfolgenden Trauermarsch teil. Mario Schulz gab die Taktik vor, als er mit der Parole »Gewalt ist keine Lösung – Deutsche sollen keine Deutschen schlagen« an seinen rechten Nachwuchs appellierte, sich aus Imagegründen kurzfristig zurück zu halten. Was von derartigen Parolen zu halten ist, zeigt die Realität: So registrierte der Verein Opferperspektive beispielsweise allein für das erste Halbjahr 2002 neun rassistische Angriffe auf AussiedlerInnen in Wittstock.

Das Problem eines Bündnisses von Oben

Es dauerte lange, bis in Wittstock die rechtsextremen Strukturen wahrgenommen und als Problem definiert wurden. Antifastrukturen oder andere antirassistische, linke Basisinitiativen existieren vor Ort nicht, die Jugendkulturen sind überwiegend rechts dominiert. Noch im letzten Jahr verkündete  Bürgermeister Scheidemann der Presse: »Weil hier so eine Truppe am Werk ist, heißt es, Wittstock ist rechts. Wittstock ist nicht rechts«. Rechte Gewalt wurde allenfalls Einzelpersonen zugeschrieben, individualisiert, bagatellisiert und somit entpolitisiert.

Erst Ende des Jahres 2001 gründete sich ein Bündnis gegen Rechtsextremismus, das von der Polizei initiiert wurde und hauptsächlich aus einzelnen städtischen FunktionsträgerInnen besteht. Anlass zur Gründung dieses »Bündnisses für ein Tolerantes Wittstock« war ein als Geburtstagsparty getarntes Kameradschaftstreffen von 60 Neonazis im örtlichen Jugendclub Havanna im Herbst 2001, das durch einen Einsatz der Polizeisondereinheit MEGA aufgelöst wurde. Danach forderte die örtliche Polizei die Einrichtung eines »Präventionsrates« und auch der Superintendent der evangelischen  Kirche, Heinz-Joachim Lohmann, rief zur Beteiligung an einem Bündnis auf.

Obwohl sich die Opferperspektive der Beschränktheit einer Stellvertreterpolitik bewusst ist, entschied sich das Team, den bestehenden Kontakt zu dem Bündnis zu nutzen, um über die desolate Situation der AussiedlerInnen zu informieren und zu einer Sensibilisierung beizutragen. Parallel setzen wir die Besuche bei den betroffenen deutsch-russischen Familien fort und dokumentieren die Ereignisse.

Russlanddeutsche: Keine idealen Opfer?

Nach dem Tod von Kajrat B. dauerte es Tage, bis sich öffentliche Funktionsträger, Medien und Anti-faschistInnen äußerten. Eine Spontandemonstration fand in Wittstock nicht statt, zu dem Trauermarsch zwei Wochen später kamen nur wenige. Die Opferperspektive musste erneut feststellen, dass es sowohl bei den Funktionsträgern in den Behörden, aber auch beim überwiegenden Teil der AktivistInnen des Bündnisses große Schwierigkeiten gab, Russlanddeutsche als Betroffene von rassistischer Gewalt wahrzunehmen. Erst Wochen nach dem brutalen Mord an Kajrat B. wurden das Ausmaß der Angriffe gegen Russlanddeutsche erkannt und Versäumnisse eingestanden.

Offensichtlich steht in diesem Fall die spezifische Wahrnehmung der Gruppe der Russlanddeutschen quer zur sozialen Konstruktion des »idealen Opfers«, das im »Regelfall« von einem unbekannten, körperlich überlegenen Täter angegriffen wird, obwohl das Opfer alles getan hat, um diesen Angriff zu verhindern. Auch sollte ein »ideales Opfer« sich weder dem Täter gegenüber »provokativ« verhalten, noch sich an einem unsicheren Ort aufgehalten haben. Beim Eintreffen der Polizei sollte sich das Opfer gegenüber den Ermittlungsbehörden kooperativ verhalten. Offensichtlich sind bei der Zubilligung des Opferstatus die eben genannten Aspekte entscheidend. Antworten von Seiten der Anwohner wie »die sind ja selber schuld, wenn sie angegriffen werden« sind eher die Regel als die Ausnahme.

Dieses Bild beeinflusst jedoch nicht nur die Bevölkerung Wittstocks, sondern  auch unter AntifaschistInnen ist es weit verbreitet zu behaupten, »die Aussiedler wehren sich wenigstens, die haben was drauf«. Woher diese Zuschreibungen kommen und welchen empirischen Gehalt sie aufweisen, bleibt im Dunkeln. Im Fall von Wittstock und dem Tod von Kajrat B. erhielten derartige Argumentationsmuster und Vorurteile  auch durch einen Teil der Medien neue Nahrung. So schrieb der Spiegel in einem Beitrag über Wittstock von einer »sibirischen Selbstjustiz«, vor der selbst die Rechten Angst hätten. Mit dem Bild des »kräftigen Kasachen« operierend, konstruiert der Spiegel-Artikel einen Bandenkonflikt zwischen Spätaussiedlern und der örtlichen rechten Szene.4

Die Diskurse über den »kräftigen Kasachen« und die »sibirische Selbstjustiz« sind älteren Ursprungs und lassen sich sowohl auf die nationalsozialistische Propaganda als auch auf die Zeit nach 1945 zurückführen, in der systematisch Ängste vor »den Russen« und später vor der sowjetischen Besatzungsmacht geschürt wurden.

Unter Zugzwang

Durch den Tod von Kajrat B. sind die Funktionsträger der Stadt in Zugzwang geraten. Zur Zeit besteht eine Situation, in der das Ausmaß rechtsextremer Angriffe nicht mehr verharmlost werden kann und gleichzeitig seitens der Stadt anerkannt wird, dass es jahrelang vernachlässigt wurde, Kontakt zu den SpätaussiedlerInnen aufzubauen und Integrationsmaßnahmen anzubieten. Von Seiten der russisch–deutschen Gemeinschaft wird die Notwendigkeit einer eigenen Interessenvertretung anerkannt. Es gibt Versuche der jugendlichen SpätaussiedlerInnen, für einen eigenen Club zu kämpfen. Kritisch bleibt anzumerken, dass ein Bündnis ohne antifaschistische Jugendliche, Basisinitiativen und Betroffene rassistischer Gewalt im Spannungsfeld zwischen (un)professioneller Jugendarbeit und Imagerettung für die Stadt agiert und nur eingeschränkt wirksam werden kann.

Dieser Artikel wurde uns von der Opferperspektive e.V. zur Verfügung gestellt.

Kontakt:
Opferperspektive e.V.
Lindenstr. 53
14467 Potsdam
Tel.: 0171/1935669
eMail: info [at] opferperspektive.de
Internet: www.opferperspektive.de

  • 1Im Mai 2001 überfielen fünf teilweise vermummte Neonazis, darunter die örtlichen Neonazi-Kameradschaftsaktivisten Sven K. und Daniel E., einen 18jährigen schwarzen Deutschen in der Wohnung seines Freundes. Aus Angst vor den Angreifern flüchtete das Opfer über den Balkon der Wohnung und stürzte dabei aus dem 2. Stock des Plattenbaus. Daniel E., Dennis E. sowie Karsten S.  wurden im März 2002 zu Jugendstrafen zwischen 13 und 18 Monaten Haft verurteilt. Sven K. wurde aus Mangel an Beweisen freigesprochen, wobei der Staatsanwalt davon ausging, dass Sven K. von seinen Mitangeklagten gedeckt wurde.
  • 2Mario Schulz fällt immer wieder durch gezielt provokative Propagandaaktionen auf: So verbrannte er im September 2001 während eines NPD-Aufmarsches in Neuruppin eine us-amerikanische Fahne und handelte sich damit ein Ermittlungsverfahren ein. Schulz war auch der Anmelder des antisemitischen NPD-Aufmarsches in Potsdam am 14. September 2002 unter dem Motto »Schluß mit der Masseneinwanderung russischer Juden – Deutschland uns Deutschen.«
  • 3Vgl. »Hinter den Kulissen... Faschistische Aktivitäten in Brandenburg«, 1993, S. 22f., »Wittstock – Die Grenze des Erträglichen ist überschritten« und »Hinter den Kulissen ... Faschistische Aktivitäten in Brandenburg – Update ‘99«, S. 56f., »Neuruppin«
  • 4Vgl. Spiegel 27/02