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It’s not religion, stupid! Homosexualität im Islam

Einleitung

In den meisten westlichen Versuchen, Erklärungsmuster für die »Schwulenverfolgung« in islamischen Ländern zu finden, wird die Religion als der entscheidende Faktor betrachtet. Dies findet seinen empirischen Gehalt darin, dass in fundamentalistischen Staaten wie dem Iran, Saudiarabien und ehemals auch Afghanistan Männer, die beschuldigt worden waren, Analverkehr mit anderen Männern begangen zu haben, nach dem Recht der Shari’a zum Tode verurteilt wurden.

In Afghanistan ließen die Taliban während ihrer kurzen Herrschaft auf diese Weise mindestens fünf Männer öffentlich exekutieren. Für den Iran sind genaue Zahlen zwar nicht bekannt, jedoch gelangen Nach­richten über Todesurteile in unregelmäßigen Abständen immer wieder an das Licht der internationalen Öffentlichkeit.

Vor diesem Hintergrund erscheint es auf den ersten Blick naheliegend, die Vorgänge in der islamischen Welt von den gewaltsamen Modernisierungs­prozessen abzuspalten, die sich dort ereignet haben, um eine »unaufgeklärte Vormoderne« für die in der arabischen Welt kursierende Antihomo­sexualität verantwortlich zu machen. Homosexuellenfeindschaft erscheint so als ein »vorkapitalistisches Relikt« und als religiöses Vorurteil, das sich durch die Einführung demokratischer Herrschaftsformen und das laizistische Prinzip der Trennung von Staat und Religion gleichsam eine von selbst erledigen würde.

Unterschlagen wird hierbei, dass das iranische Regime ein Archaismus1 aus zweiter Hand ist. Die Herrschaft der Mullahs ist bereits das Ergebnis des Scheiterns von Anstrengungen, das Land unter amerikanischer Aufsicht auf den Weg zu einer erfolgreichen kapitalistischen Staatsmacht zu bringen. Dies schloss, wie überall auf der Welt, wo sich gleiches ereignete, die Verar­mung weiter Bevölkerungskreise ein, indem der Staat die Träger einer auf Subsistenz2 und lokalen Märkten beruhenden Ökonomie zum Zweck der staatlichen Reichtumsmehrung dem entfesselten Weltmarkt auslieferte und sie einer abhängigen Existenz als Lohnarbeiter bzw. industrielle Reser­ve­armee zuführte.

Als Ursache für die Krise der Repro­duktionsfähigkeit breiter Schich­ten der Bevölkerung hatten die Aya­tollahs in den 70er Jahren ausgerechnet jenen Aspekt der Modernisierung ausgemacht, der sich gegen die alten Autoritäten und den Einfluss geistlicher Würdenträger richtete. Denn bei ihrem Versuch, dem erfolgreichen Ent­­wicklungsmodell europäischer Staa­ten nachzueifern, setzte die von den Kolonialmächten eingesetzte Herr­scher­­­familie der Pahlewis auf eine gewaltsame Säkularisierung3 des Staates, etwa durch das Verbot der Frauenverschleierung und der Abga­ben für die Koranschulen. Die Aya­tollahs zogen daraus ihre Konse­quenz, zerbrachen das althergebrachte Bündnis zwischen »Thron und Altar« und hetzten fortan gegen Ver­west­lichung, den Ausverkauf des Lan­des an ausländische Mächte, gegen Sittenverfall, die Verbreitung sexueller Unzucht sowie den aufkeimenden Materialismus. Sie übernahmen damit den Zungenschlag aller reaktionären Modernisierungskritiker, deren Ana­lyse keinerlei Kenntnis des Koran voraussetzt. Die Propaganda gegen »die westlich dekadente Homosex­uali­tät« und allgemeine Zügellosig­keit bedurfte daher einer Berufung auf die Shari’a eigentlich überhaupt nicht, benutzte diese aber als Folie für eine Propaganda zur Verteidigung angeblich autochthoner4 Werte gegen westliche Ideen.

Weit davon entfernt, eine vormoderne Tradition wieder einzusetzen, war der nachrevolutionäre Iran der »erste Feldversuch seiner Art, ein neues, islamisches Rechtssystem anhand der innerhalb der Geistlichen nie zu Ende diskutierten Rechtsnormen zu etablieren. Diese Normen konnten deswegen keinem Menschen außerhalb der Religionsschulen bekannt sein.«5 Die polizeistaatliche Integration von Religion und Gesellschaft durch den iranischen Gottesstaat ist daher auch kein Rückfall in vormoderne Zeiten, sondern ein historischer Präzedenz­fall in der islamischen Welt. Er wäre allenfalls mit gleichgearteten Episo­den der europäisch-neuzeitlichen Ge­schichte wie der Tugendherrschaft der Puritaner unter Oliver Cromwell vergleichbar.

Der traditionelle Islam zeichnete sich demgegenüber durch pluralistische Machtzentren und eine konsequente Trennung von Privat­heit und Öffentlichkeit aus. Weder existierte eine integrierte hierarchische Organisation vergleichbar der christlichen Amtskirche, noch waren die Gläubigen notwendig an einen bestimmten Geistlichen gebunden. Im schiitischen Islam ging der Pluralis­mus so weit, dass Mitglieder ein- und derselben Familie unterschiedlichen Ayatollahs folgen konnten, die jeweils ein eigenes komplexes Regelwerk (Resaleh) für ihre Anhänger ausarbeiteten. Selbst dort, wo die Geistlichen die Funktion des Richteramtes an Religionsgerichten innehatten, war ihr Einfluss auf die private Gestaltung des Lebens durch die starke Betonung der Rolle von Zeugen im islamischen Recht begrenzt.

Die Shari’a legt eher die Vertuschung als die Bestrafung von Unzuchtsvergehen nahe, wenn sie, sollten sich weniger als vier Augen­zeugen zur Aussage bereit finden, diesen sogleich mit Peitschenhieben droht. »In gewissem Sinn wird Ge­heim­haltung empfohlen«6 , klärt Marteen Schild die darin implizit zum Aus­druck kommende Haltung auf und meint damit nicht allein, dass die Sünder angehalten sind, ihre Tat vor der Öffentlichkeit zu verbergen, sondern auch, dass die Gemeinschaft auf­gefordert ist, die private Übertretung islamischer Gesetze zu übergehen und sie nicht an die Öffentlichkeit zu zerren.

Vor diesem Hintergrund erscheint es auch Ali Mahdjoubi stark verkürzt, dass »Verfolgung und Unterdrückung von Homosexuellen in den islamischen Ländern mit pauschal vereinheitlichenden Urteilen und Sicht­weisen nur einem Faktor angelastet wird: dem Islam«7 . Dem ist entgegenzuhalten, dass religiöse Traditionen im Licht gegenwärtiger Verhältnisse neu erscheinen, von ihren Trägern entweder verworfen, umgedeutet oder auf andere Art und Weise besetzt werden, um den aktuellen gesellschaftlichen Bedürfnissen und Denk­formen ihrer Träger die legitimatorischen Weihen zu erteilen. Tatsächlich ergibt der Begriff der Homosexualität im Horizont der heiligen Schriften des Islam keinen Sinn, weil er Denk­weisen transportiert, die mit dem Verständnis, das vormoderne Gesell­schaften sich von dieser Sache machten, auf grundlegende Weise kollidiert. Traditionelle islamische Juris­ten gingen etwa von der Prämisse aus, dass die erotische Attraktion gegenüber dem eigenen Geschlecht ein natürliches Faktum ist, das dem Menschsein als solchem anhaftet. Die islamischen Verbote richten sich daher im Horizont eines traditionellen Verständnisses gegen eine be­stimmte Handlung, nicht aber gegen eine Art zu lieben oder gar einen bestimmten Typus von Personen.

Anders beim Mullah-Regime in Iran. Dort wird »’Homosexualität’ [...] nicht nur als Übel an sich selbst betrachtet, sondern liefert ein bequemes Etikett, um schlechte Menschen im Allgemeinen zu stigmatisieren. Diese weitspurige Definition unterfütterte, was im Iran geschah, wo man ‘Homosexualität’ oft als ein generisches Etikett in An­schlag brachte, um es nach Gut­dünken auf Personen anzuwenden, die als Kriminelle verurteilt wurden, ob nun zurecht oder nicht. Es spielte keine grofle Rolle, was sie taten, es war genug zu wissen, dass sie antisozial und daher böse waren. Auf diese Weise konnten zum Beispiel politische Gegner ohne irgendeine legale Recht­fertigung eliminiert werden.«8

Die Einführung eines abstrakten Kon­zepts der Homosexualität ermöglichte es dem iranischen Regime, von einzelnen Handlungen zu abstrahieren und damit auch die Verfahrens­vor­schriften der Schari’a virtuell außer Kraft zu setzen, die, wären sie von dem neuen Regime auf konkrete Taten angewendet worden, eine Ver­ur­teilung fast unmöglich gemacht hätten. Stattdessen wurde »Homo­sexualität« zu einer destruktiven Wesenheit, ja zu einer subversiven gesell­schaftlichen Kraft, die allgemeines Chaos und Verfall stiftete. Homosexualität konnte daher in jeder Form antisozialen und systemgegnerischen Verhaltens diagnostiziert werden. Es wurde zu einem frei flottierenden Stigma, um Menschen, die aus welchen Gründen auch immer ins Visier des Regimes geraten waren, öffentlich zu diskreditieren.

Charak­te­ristisch für die Entbettung von Homosexualität aus dem religiösen Kontext einer Sünde, die den spezifischen Akt des mann-männlichen Anal­verkehrs bezeichnet, ist die Krimi­na­lisierung weiblicher Homo­sex­ualität durch das neue iranische Strafrecht, obwohl sie weder in den Heiligen Schriften noch in der Tradi­tion der islamischen Rechts­gelehrten jemals zuvor personalisiert worden war. Homosexualität wird auf diese Weise zu einem unspezifischen Meis­ter-Signifikanten, welcher der Ab­gren­zung von allen Übeln eines als säkularistisch und dekadent wahrgenommenen Westens dient. Für die moderne Formierung von Homo­sexualität als einer spezifizierenden Identitätskategorie steht dabei prototypisch die Abgrenzung von modischen Zeichen, die in Iran ursprünglich eine traditionelle, mitunter sogar eine religiöse Bedeutung besessen haben mochten wie das Tragen von Ohrringen, nun aber mit dem Typus des westlichen Homosexuellen assoziiert werden: »Bis in die Anfangsjahre der Isla­mischen Republik hinein war das Tragen von Ohrringen besonders im ländlichen Raum weit verbreitet. Ers­tens um zu demonstrieren, dass der Sohn sich als Sklave des Herrn bekennt. Zweitens wurden diese Edel­metallringe nach Erwachsen­wer­den beim Besuch von heiligen Stätten des Schiitentums eben diesen gespendet. Der Wandel vollzog sich schnell: Jahrhunderte alte Bräuche wurden aus politisch-kulturellen Motiven heraus missbilligt und quasi verboten, verschwanden im Nu, weil man gehört hatte, schwule Männer im Westen würden Ohrringe als Bekenntnis zur Homosexualität tragen.«9

Dabei spielt offenbar keine Rolle, dass eine homosexuelle Szenebildung und die Herausbildung einer korrespondierenden lesbischen bzw. schwulen Identität im Iran so gut wie noch nicht stattgefunden hat. Selbst die allerjüngsten Versuche, durch moderne Kommunikationsmittel eine Ver­net­zung wie im Westen zu erreichen, beschränken sich, so Ali Mahdjoubi, auf den Kreis der Gebildeten und materiell besser Situierten, wobei die Zahl der Beteiligten bzw. Interessier­ten so klein sei, »dass er gesellschaftlich irrelevant bleibt«. Ein Haupt­hin­d­ernis sei »die fehlende Wahrneh­mung einer homosexuellen Identität unter denjenigen, die objektiv homo­sexuell sind«. Die meisten gingen davon aus, »dass die jahrelang bestehenden homosexuellen Beziehungen zwar in Ordnung seien, aber kein Grund, eine Identität daraus zu entwickeln«. Der durch intensivierte Kon­takte mit dem Westen enstehende Bekenntnisdrang werde dagegen oft als »Outing-Terror« wahrgenommen.10

Hier argumentiert Mahdjoubi allerdings stark zirkulär. Die fehlende Szene­bildung wird auf die subjektive Weigerung zurückgeführt, »sich nach bestimmten Merkmalen ‘eingruppieren’ zu lassen«. Entscheidend dafür, dass diese Weigerung aber überhaupt gelingen kann, ist die Tatsache, dass diese Sortierung auch von außen nicht vorgenommen wird. Intime Freund­schaftsbeziehungen sind trotz der Panik, die das islamistische Regime um »die« Homosexualität verbreitet, noch immer ein relativ fester und akzeptierter Bestandteil des iranischen Alltags. Trotzdem gibt es einen schleichenden Trend zu ihrer Auflö­sung, der nicht zufällig dort am stärksten ist, wo auch ansatzweise die For­mierung einer homosexuellen Identi­tät zu beobachten ist: in den Kreisen des aufgeklärten Bürgertums, das sich durch eine z.T. kritiklose Übernahme westlicher Denkformen auszeichnet. So trägt nicht nur das Mullah-Regime, sondern auch sein gesellschaftlicher Widerpart dazu bei, dass die Ausdrucksformen traditioneller Freundschaftsbeziehungen wie Küssen, Umarmen und Händchen­halten als homosexuell – mithin als Ausdruck einer konstitutiven Anders­artigkeit – identifiziert und unter Verdacht gestellt werden.

Untergründig, und auf Dauer wahrscheinlich sogar wirkungsmächtiger, wenn auch weniger brutal, gerät das System der Freundschaft daher auch im Zeichen von Aufgeklärtheit und Modernität unter Beschuss. Mahdjoubi berichtet so von Eltern aus dem Bildungs­bür­ger­tum, die »parallel zu Warnungen vor Homosexualität« die sozialen Kontakte ihrer Kinder einschränken. Die »’volkstümliche’ Toleranz der Homo­­sexualität« hingegen werde von ihnen als »mittelalterlich, traditionell und unmodern« abgelehnt.11

  • 1Archaismus – Neubelebung altertümlicher Formen, religiöse Rückbesin­nung als politische Ideologie.
  • 2Subsistenz – Das Bestehen durch sich selbst, d.h. für sich selbst, unabhängig von anderen bestehen.
  • 3Säkularisierung – Institutioneller und mentaler Prozess der Trennung von religiö­sen Organisationen und dem Staat.
  • 4autochthoner – alteingesser, altherge­brachter, gebiets­eigener
  • 5Ali Mahdjoubi: Homosexualität in islamischen Ländern am Beispiel Iran. In: Michael Bochow, Rainer Marbach (Hrsg.): Homosexualität und Islam. Hamburg 2003. S. 89.
  • 6Maarten Schild: Islam. In: Wayne Dynes u.a. (Hrsg.): Encyclopedia of Homosexuality. New York 1990 (übers.).
  • 7Ali Mahdjoubi, ebd., S. 91.
  • 8Marten Schild, ebd.
  • 9Ali Mahdjoubi, ebd.
  • 10Ebd., S. 97.
  • 11Ebd.