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Hausdurchsuchung bei ehemaligem argentinischen Militär

Tobias Lambert (Gastbeitrag)
Einleitung

Um in Argentinien einer Verurteilung aufgrund von Verbrechen während der Militärdiktatur zu entgehen, floh Luis Esteban Kyburg nach Deutschland. Da er die deutsche Staatsangehörigkeit hat, kann er nicht ausgeliefert werden. Doch laufen bei der Generalstaatsanwaltschaft Berlin Ermittlungen wegen Mordes. Im Februar 2023 wurde Kyburgs Wohnung in Berlin durchsucht.

kyburg (Screenshot: morgenpost.de)
(Screenshot: morgenpost.de)

Kyburg scheint sich in Berlin einigermaßen sicher zu fühlen.

Schon seit 2020 war bekannt, dass der frühere Offizier der argentinischen Militärjunta, Luis Esteban Kyburg, in Deutschland lebt. Anfang Februar 2023 durchsuchten Bundeskriminalamt und Generalstaatsanwaltschaft Berlin Kyburgs Wohnung im Prenzlauer Berg. Der Tatvorwurf: Entführung, Folterung und Ermordung von mindestens 15 namentlich bekannten jungen Frauen und Männern. Laut einer Pressemitteilung der Generalstaatsanwaltschaft Berlin diente die Hausdurchsuchung „dem Auffinden von Dokumenten, Unterlagen und Datenträgern, die Aufschluss über die Rolle des Beschuldigten in Zusammenhang mit dem ‚Verschwindenlassen‘ von Oppositionellen und deren mutmaßlicher Tötung geben.

Während der argentinischen Militärdiktatur (1976 bis 1983) war der heute 75-Jährige zweiter Kommandant einer Einheit sogenannter „taktischer Taucher“ auf dem Marinestützpunkt Mar del Plata und leitete die „Abteilung für Personal, Operationen, Logistik, Navigation, Kommunikation, Abwehr nachrichtendienstlicher Tätigkeiten, Öffentlichkeitsarbeit und Logistik“. In diesen Funktionen soll er Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben. Aufgrund seiner deutschen Staatsangehörigkeit kann der Nachfahre deutscher Auswanderer trotz internationalem Haftbefehl nicht nach Argentinien ausgeliefert werden. Da Mord nicht verjährt, ist die deutsche Justiz strafrechtlich jedoch dazu in der Lage, gegen ihn zu ermitteln.

Die ihm vorgeworfenen Taten soll Kyburg von 1976 bis Anfang 1977 begangen haben. Am 24. März 1976 hatte sich das argentinische Militär an die Macht geputscht und einen brutalen Staatsterrorismus gegen tatsächliche und vermeintliche Oppositionelle begonnen. Während der Diktatur ließen die Machthaber in Geheimoperationen laut offiziellen Zahlen etwa 30.000 Menschen gewaltsam verschwinden. Dieses Verbrechen, bei dem der Verbleib der Opfer häufig unklar ist, hat in der argentinischen Rechtsprechung den gleichen Status wie Mord. Die Militärs folterten und töteten, schmissen ihre Opfer betäubt aus Flugzeugen über dem Meer oder der Mündung des Río de la Plata ab. Auch gaben sie etwa 500 in Geheimgefängnissen geborene Babys von Regimegegner*innen an kinderlose Militärs oder Unternehmer. Diese Kinder wuchsen anschließend ohne Wissen über ihre Herkunft auf, viele kennen bis heute nicht die Wahrheit.

Die Praxis dieses staatlichen Terrors sollte die vorwiegend linke Opposition zerschlagen und Angst schüren. Erst der Mitte-Links-Präsident Nestor Kirchner gestand 2004 offiziell die Verantwortung des Staates an den Verbrechen der letzten Militärdiktatur ein und ließ die Porträts der ehemaligen Juntachefs Jorge Videla und Reynaldo Bignone abhängen. Diese zierten damals immer noch die Eingangshalle der Mechanikerschule der Marine (ESMA), die während der Militärdiktatur eines der größten geheimen Folterzentren gewesen war. Während Kirchners Präsidentschaft wurden zudem die Amnestiegesetze der 1980er Jahre annulliert, was den Weg für eine juristische Aufarbeitung der Verbrechen frei machte. Seitdem wird den militärischen und zivilen Verantwortlichen in zahlreichen Verfahren der Prozess gemacht. Nachdem ab 2004 die Ermittlungen im Fall des Marinestützpunktes Mar del Plata aufgenommen worden waren, kam es ab 2010 zu dutzenden Verurteilungen von Verantwortlichen, darunter auch direkter Vorgesetzter und Kameraden von Kyburg.

Als dieser 2013 in Argentinien zu Folter sowie Morden auf dem Gelände des Marinestützpunkts aussagen sollte, hatte er sich bereits nach Deutschland abgesetzt. In Kyburgs Einheit sollen Gefangene unter anderem kopfüber in Wassertanks getaucht worden sein, bis sie fast erstickten, was schwere Herz- und Lungenschäden verursachte. Insgesamt 88 Fälle von Verschwindenlassen werden ihm in Argentinien vorgeworfen, darunter die Entführung der zwei schwangeren Frauen Delia Elena Garaguso und Susana Valor mit ihren jeweiligen Partnern Tristán Omar Roldán und Omar Marochi am 18. September 1976. Diese gelten nach wie vor als verschwunden, die Identität ihrer Kinder ist bisher ungeklärt.

Die Schwester von Omar Marocchi, der mutmaßlich in Mar del Plata getötet wurde, hatte im Juni 2018 mit Unterstützung des in Berlin ansässigen European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) bei der Generalstaatsanwaltschaft Berlin Strafanzeige erstattet. Das ECCHR arbeitet seit vielen Jahren zu Argentinien, etwa zu dem Fall der verschwundenen Gewerkschafter*innen bei Mercedes-Benz während der Militärdiktatur. Bei der Staatsanwaltschaft liefen zum Zeitpunkt der Anzeige bereits Ermittlungen, in deren Rahmen bis heute zahlreiche Akten aus Argentinien ausgewertet wurden. Zudem waren Bundeskriminalamt und Generalstaatsanwaltschaft Berlin bei der Vernehmung von Zeug*innen in Argentinien beteiligt.
Die nun erfolgte Hausdurchsuchung sei „ein wichtiger Schritt in dem andauernden Ermittlungsverfahren“, so Wolfgang Kaleck, Generalsekretär des ECCHR. „Deutschland muss seiner völkerrechtlicher Verpflichtung nachkommen und argentinische Diktaturverbrecher endlich vor Gericht stellen.“ Die Staatsangehörigkeit dürfe nicht vor Strafverfolgung schützen.

Dass Kyburg in Berlin lebt, hatte der argentinische Journalist Toni Hervida recherchiert und im Jahr 2020 mithilfe einer großen deutschen Boulevardzeitung öffentlich gemacht. Seitdem versuchen auch Aktivist*innen auf den Fall aufmerksam zu machen. Im September 2020 führten in Deutschland lebende Argentinier*innen und Unterstützer*innen einen so genannten „escrache“ im Prenzlauer Berg durch, dem Viertel, in dem Kyburg lebt. Diese in Argentinien und Uruguay während der Zeit der Straflosigkeit gebräuchliche Protestform soll die soziale Verurteilung von Diktaturverbrechern bewirken und Forderungen nach Gerechtigkeit sichtbar machen. Während „escraches“ in Argentinien auch direkt vor den Wohnhäusern der Beschuldigten stattfanden, verlasen die Protestierenden in diesem Fall an mehreren Orten im Prenzlauer Berg in Berlin die Namen der 88 Opfer, die Kyburg mutmaßlich zu verantworten hat. Rodrigo Díaz, der Neffe des gewaltsam verschwundenen Omar Marochis verlas dessen letzten Brief. „Die Idee war, dass die Nachbarn Bescheid wissen und dass diese Unrechtssituation auch in den deutschen Medien aufgenommen wird“, erklärte María Ester Alonso Morales von H.I.J.O.S. Deutschland, einem Zusammenschluss von Kindern der argentinischen Diktaturopfer, nach der Aktion den Lateinamerika Nachrichten. „Unsere Aktion war ein symbolischer und sehr wichtiger Akt des Gedenkens.“ Im vergangenen Jahr fand anlässlich des Jahrestags des Militärputsches am 24. März ein weiterer Protest im Prenzlauer Berg statt.

Mit einer Anklage würde Deutschland – vor allem den Betroffenen und Überlebenden – das Signal senden: Deutschland und Europa sind keine sicheren Zufluchtsorte für Verantwortliche von Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, so das ECCHR.

Tatsächlich gibt es neben Kyburg noch vergleichbare Fälle: Der in Chile zu fünf Jahren Gefängnis verurteilte frühere Arzt der deutschen Sektensiedlung Colonia Dignidad im Süden Chiles, Hartmut Hopp, lebt seit seiner Flucht 2011 nahezu unbehelligt in Krefeld. Ermittlungen, die in Deutschland gegen ihn liefen, wurden 2019 eingestellt. Der deutsch-chilenische Ex-Offizier Walther Klug Rivera lebte seit 2019 in Vallendar nahe Koblenz, bevor er 2019 während eines Italien-Urlaubs verhaftet und ein Jahr später an Chile ausgeliefert wurde. Dort war er 2014 aufgrund von während der Militärdiktatur unter Augusto Pinochet (1973 bis 1990) begangenen siebenfachen Mordes und Verschwindenlassen in vierzehn weiteren Fällen zu einer zehnjährigen Haftstrafe verurteilt worden. Anschließend hatte er sich nach Deutschland abgesetzt, wo keine eigenständigen Ermittlungen gegen ihn eingeleitet wurden.

Auch Kyburg scheint sich hier einigermaßen sicher zu fühlen. Als ihn Reporter Mitte 2020 vor laufender Kamera mit den Vorwürfen konfrontierten, zeigte er sich gelassen und ohne jegliche Reue. Der argentinischen Justiz werde er sich unter keinen Umständen stellen, sondern „in Ruhe“ die Ermittlungen in Deutschland abwarten. Die Hausdurchsuchung vom Februar 2023 zeigt nun zumindest, dass diese Ermittlungen ernst zu nehmen sind. Der nächste Schritt könnte eine Klageerhebung sein.