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Grenzen der Aufklärung

Rolf Surmann (Gastbeitrag)
Einleitung

Das Wehrmachtsmassaker von Distomo und seine Aufarbeitung nach 1945

Die Soldaten befahlen den Einwohnern, sich in ihren Häusern einzuschließen. Danach teilten sie sich in Gruppen auf, drangen in die Häuser ein und fielen wie wilde Tiere über die Einwohner her, metzelten sie nieder, ermordeten sie, vergewaltigten Frauen und junge Mädchen, schnitten Schwangeren die Bäuche auf. Alte, Junge, Frauen, unmündige Jungen und Mädchen und sogar Kleinkinder waren Opfer ihres Blutrauschs. So beschrieb ein Überlebender vor einem griechischen Gericht das Wehrmachtsmassaker von Distomo, einem kleinen Dorf in der Nähe von Delphi. 2003 bestätigte der Bundesgerichtshof den Tathergang im allgemeinen.

Das Massaker stieß in der deutschen Öffentlichkeit vor einigen Jahren auf Interesse, weil griechische Gerichte die Bundesrepublik zur Zahlung von zirka 28 Millionen Euro an die Opfer rechtskräftig verurteilt hatten. Aufgrund der deutschen Zahlungsverweigerung begannen die Kläger mit den Vorbereitungen, Liegenschaften des deutschen Staates in Griechenland - u.a. das Goethe-Institut - zu versteigern, was in Deutschland allgemeine Empörung hervorrief. Inzwischen wandte sich die gesellschaftliche Aufmerksamkeit anderen Themen zu. Doch ist die Auseinandersetzung bis heute nicht beigelegt.

Aus zwei Gründen kommt ihr besondere Bedeutung zu. Zunächst ist Distomo ein entschädigungspolitisches Schlüsselthema. Denn sollten die Kläger von Distomo ihren Rechtstitel vollstrecken können, hätte dies aller Wahrscheinlichkeit nach einen entschädigungspolitischen Dammbruch mit der Konsequenz zur Folge, dass sich die Bundesrepublik immensen internationalen Forderungen stellen müsste. Darüber hinaus ist es in den letzten Jahren zu einem festen Bestandteil deutscher Außenpolitik geworden, Kriege mit Berufung auf zwingende Lehren aus der NS-Zeit, insbesondere auf die Verteidigung der Menschenrechte zu rechtfertigen, selbst wenn sie durch internationales Recht nicht gedeckt sind.

Damit wird nur der Versuch unternommen, Kriegspolitik durch den expliziten Rückgriff auf die deutsche Geschichte zu legitimieren. Hier ist es von Interesse, die Kohärenz der neuen Kriegslegitimation unter der Fragestellung zu untersuchen, wie die deutsche Seite ihre in der NS-Zeit begangenen Verbrechen, speziell ihre Kriegsverbrechen aufgearbeitete und sich den Opfern gegenüber verhielt. Denn - dies sei vorausgesetzt - ihre umfassende Aufarbeitung ist die Grundlage für den Erwerb einer moralischen Kompetenz, die derartige Ableitungen legitimieren und elementare Absicherungen zur Verhinderung eines erneutes Abgleitens in verbrecherische Kriege und Kriegsverbrechen schaffen könnte.

Die entschädigungspolitische Kontroverse

Der erste Eckpunkt bundesdeutscher Entschädigungspolitik war der 1952 fixierte Überleitungsvertrag. Mit ihm übertrugen die West-Alliierten der Bundesrepublik wesentliche Souveränitätsrechte, verbanden diese jedoch mit bestimmten Anforderungen. Hierzu gehörten Mindeststandards für eine zu erlassene Entschädigungsgesetzgebung. Einen anderen Charakter hatte das ebenfalls in dieser Zeit geschlossene Londoner Abkommen. In ihm ging es um die vertragliche Regelung der deutschen Gesamtschulden, die von ausstehenden Reparationszahlungen aus dem 1. Weltkrieg über die im II. Weltkrieg verursachten Schäden bis hin zu den finanziellen Hilfsleistungen nach 1945 reichten.

Die Bundesregierung hatte im Vorfeld auf ihre außerordentlichen Belastungen u.a. durch die im Rahmen der westlichen Militärstrategie geplante Aufrüstung hingewiesen. Im Kern einigte man sich darauf, dass die Tilgung der Vor- und Nachkriegsschulden Priorität vor Reparationen haben sollte. Unter dem Vorzeichen des Kalten Krieges wurden Verhandlungen über Zahlungen an die von Deutschland im Zweiten Weltkrieg geschädigten Staaten auf den Zeitpunkt des Abschlusses eines Friedensvertrages verschoben.

Doch hatte die Bundesregierung die Verärgerung ihrer westeuropäischen Nachbarn unterschätzt. Als auch 1956 in der überarbeiteten Fassung des Entschädigungsgesetzes die - im Juristenjargon - »Westverfolgten« nicht berücksichtigt worden waren, bekräftigten im Juni 1956 acht westeuropäische Regierungen, u.a. die griechische, in gleichlautenden Noten ihre Forderung nach Entschädigung. Der damalige Außenminister Clemens von Brentano versuchte daraufhin, den Konflikt durch eine »caritative Lösung« zu entschärfen. Als auf dieser Basis keine Übereinkunft erzielt wurde, sah sich die Regierung angesichts »der Möglichkeiten von Störungen der bilateralen Beziehungen« gezwungen, in Verhandlungen einzutreten.

Das Ergebnis war für sie sehr zufriedenstellend. Mit eil westeuropäischen Staaten traf sie »Globalabkommen«, die sie zu Zahlungen von insgesamt 876 Millionen Mark verpflichteten. Griechenland erhielt nach dem 1961 ratifizierten Vertrag 115 Millionen Mark. Noch in einer anderen Hinsicht war sie hartnäckig. Nach ihrem Verständnis kann nur denjenigen NS-Opfern ein Anspruch auf Zahlungen zu, die nach den Kriterien des BEG entschädigungsberechtigt waren. Zwangsarbeiter, Widerstandskämpfer, aber auch Opfer von Wehrmachtsverbrechen waren nach ihren Vorstellungen damit explizit von Leistungen ausgeschlossen.

Auf diesen Vertrag beriefen sich seither alle Bundesregierungen, um weitergehende Forderungen mit der Behauptung abzuwehren, hiermit seien alle Ansprüche von griechischer Seite erledigt. Doch in fachspezifischen Darstellungen räumen selbst Beamte des zuständigen Bundesfinanzministeriums ein, dass die griechischen Forderungen durch das Vertragswerk nicht erfüllt seien und die griechische Regierung diesen Dissens explizit zum Ausdruck gebracht habe. Er kommt in der sogenannten Erledigungsklausel zum Ausdruck. In ihr wird der Vorbehalt formuliert, dass mit diesen Verträgen nicht alle Forderungen erfüllt seien, sondern sie zu gegebener Zeit neu verhandelt werden müssten. Griechenland wählte hierbei die selbe Formulierung wie Norwegen und Dänemark: »Mit der Zahlung sind alle den Gegenstand des Vertrags (Hervorhebung, R.S.) bildenden Fragen abschließend geregelt, unbeschadet etwaiger Ansprüche norwegischer Staatsbürger.«!1 Die Behauptung, mit diesen Verträgen seien alle Entschädigungsfragen geregelt, ist damit offenkundig falsch.

Noch in einer anderen Hinsicht unterlief die Bundesregierung den internationalen Verhandlungsstand. Der in London beschlossene Zahlungsaufschub resultierte nicht aus der prinzipiellen Strittigkeit der Forderungen, sondern aus der Absicht, die Zahlungsunfähigkeit der deutschen Gesellschaft zu vermeiden. Bereits nach einigen Jahren war jedoch ersichtlich, dass solche Befürchtungen gegenstandslos waren. So schreibt Hans-Peter Schwarz in seiner Darstellung der Adenauer-Ära: »Nach einigen Jahren war die Bundesrepublik bereits froh, durch vorzeitige Tilgungszahlungen ihren gefährlich hohen Devisenbestand etwas abtragen ( ... ) zu können.«2

Hätte es die Bereitschaft gegeben, für die angerichteten Verbrechen Verantwortung zu übernehmen, so hätte es spätestens zu diesem Zeitpunkt geschehen müssen. Statt dessen beriefen sich alle Bundesregierungen nicht auf den Geist des Abkommens, sondern auf die formelle Festlegung, über weitere Zahlungen erst im Rahmen eines Friedensvertrags verhandeln zu müssen. Mit Abschluss des 2+4-Vertrags zwischen den ehemaligen Alliierten auf der einen, der Bundesrepublik und der DDR auf der anderen Seite ist 1990 ein Vertragswerk zustande gekommen, das allgemein als Äquivalent für einen Friedensvertrag gewertet wird. Spätestens dann wäre die Zeit der Stundung von Reparationszahlungen endgültig vorbei gewesen. Doch die Kohl/Genscher-Regierung setzte alles daran, um dieses Thema bei den Verhandlungen zu umgehen. Angesichts divergierender Interessen der Verhandlungsteilnehmer - Staaten wie Griechenland wurden gar nicht gehört - konnte sich die Bundesrepublik mit dieser Haltung durchsetzen. Hatte sie bis zum Abschluss dieses Vertrags mit Berufung auf das Londoner Abkommen Verhandlungen mit der Begründung verweigert, die Forderungen seien »zu früh« gestellt, so argumentierte sie nach diesem »Erfolg«, nun sei es »zu spät«.

Dennoch stellte die griechische Regierung im Laufe der 90er Jahre erneut Entschädigungsansprüche. Sie argumentierte, der 2+4-Vertrag habe nur für diejenigen Staaten Rechtswirksamkeit, von denen er ausgehandelt und unterschrieben worden sei. Entsprechend richtete sie am 14.11.1995 eine Verbalnote an die Bundesregierung. Deren Ablehnungsbegründung lief auf die Behauptung hinaus, derartige Forderungen hätten sich historisch überholt. So antwortete sie im Jahr 2000 auf eine parlamentarische Anfrage: »Nach Ablauf von 50 Jahren seit Kriegsende und Jahrzehnten friedlicher, vertrauensvoller und fruchtbarer Zusammenarbeit der Bundesrepublik Deutschland mit der internationalen Staatengemeinschaft hat die Reparationsfrage ihre Berechtigung verloren.«3

In diesem Zusammenhang wies sie auf geleistete bilaterale Wirtschafts- und Entwicklungshilfe, Verteidigungshilfe und Rüstungssonderhilfe hin. Das normalisierende Fazit in Bezug auf die unaufgearbeiteten NS-Verbrechen lautete: »Im übrigen wären Reparationen 50 Jahre nach Ende der kriegerischen Auseinandersetzungen in der völkerrechtlichen Praxis ein Sonderfall ohne jede Präzedenz.«4 Die Frage, dass angesichts der Dimension deutscher Verbrechen die Entschädigungsverweigerung das eigentlich bemerkenswerte sein könnte, stellte sich ihr nicht ganz zu schweigen von ihren eigenen Forderungen, die sie in dieser Zeit an Staaten wie Tschechien wegen der Benez-Dekrete richtete.

Diese Problematik wird dadurch verschärft, dass die strittigen individuellen Forderungen nur einen (kleinen) Teil der offenen griechischen Reparationsansprüche ausmachen. Hinzu kommen bspw. Reparationsverpflichtungen aus dem Ersten Weltkrieg, Schulden aus dem Handel zwischen den Weltkriegen und die Rückzahlung einer Zwangsanleihe, zu der die Bank von Griechenland 1942 genötigt worden war - Forderungen, die letztlich die deutschen Verbrechen gegenüber Griechenland seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts zum Ausdruck bringen. Als Referenzzahl für die deutschen Verbindlichkeiten können die 7,1 Milliarden US-Dollar gelten, die 1946 auf der Pariser Reparationskonferenz errechnet wurden. Sie machen nach altem D-Mark-Kurs heute mehr als 50 Milliarden aus.5

Geschichtspolitisch bekommen sie insofern besonderes Gewicht, als Wirtschaftsexperten der Reichsbank im April 1945 eine »Restschuld des Reiches« gegenüber Griechenland in Höhe von 476 Millionen Reichsmark anerkannt hatten. Der Historiker Hagen Fleischer bemerkte in diesem Zusammenhang,6 dass damit Vertreter des NS-Regimes eine Schuld Deutschlands bestätigten, die von der Bundesrepublik als Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches bis heute ignoriert werde. Die Schröder/Fischer-Regierung jedoch wertet das Beharren auf Entschädigungsleistungen als Störung der guten Beziehungen. Der deutsche Botschafter in Athen konkretisierte diese Sichtweise mit der unverhohlenen Drohung, aus der entschädigungspolitischen Haltung der griechischen Regierung könnten sich Belastungen für den Tourismus ergeben.

Juristische Abwehr der historischen Verantwortung und Menschenrechtspolitik

Angesichts der hartnäckigen Weigerung aller Bundesregierungen, sich den griechischen Forderungen zu stellen, überrascht es nicht, dass griechische Wehrmachtsopfer den Weg der juristischen Auseinandersetzung beschritten. Die juristische Auseinandersetzung beginnt da, wo eine Verständigung auf der Ebene des gleichberechtigten Gesprächs nicht möglich ist. Schroffer kann der Graben, der die Opfer der deutschen Verbrechen von der deutschen Gesellschaft und ihrer Haltung zur Geschichte trennt, deshalb nicht sichtbar werden. Ihr größter Erfolg war das Urteil des Landgerichts von Livadia. Die Bundesregierung erkannte den Richterspruch allerdings nicht an. Sie berief sich dabei auf das Prinzip der Staatenimmunität, nach dem ein Staat von ausländischen Gerichten nicht verurteilt werden könne, wenn die Taten Teil seines hoheitlichen Verhaltens - zum Beispiel seiner Kriegsführung - sind.

Der oberste griechische Gerichtshof, Areopag, bestätigte ihn jedoch im Jahr 2000, womit er rechtskräftig wurde. Die Begründung des Areopags ist über den speziellen Rechtsstreit hinaus von Interesse. Denn er argumentierte, der Grundsatz der Staatenimmunität müsse dann aufgehoben werden, wenn es um schwere Menschenrechtsverletzungen gehe.6 Allerdings war der Weg zur Eintreibung der Schuld damit nicht frei. Für die geplante Versteigerung von Eigentum des deutschen Staates bedurfte es der Genehmigung des griechischen Justizministers, die dieser jedoch nicht erteilte. Die Gründe hierfür sind nicht dokumentiert, liegen aber angesichts der angeführten deutschen Stellungnahmen auf der Hand. Zur Verweigerung eines Dialogs über die aus den deutschen Verbrechen gegen die Menschheit resultierende historische Verantwortung tritt hinzu, dass sich die Bundesregierung zur Abwendung ihrer juristischen Verurteilung auf Prinzipien beruft, die einem an den Menschenrechten orientierten Rechtsverständnis widersprechen und darüber hinaus mit Drohgebärden den politischen Entscheidungsprozess anderer Regierungen in dieser Frage zu beeinflussen sucht.

Deutsche Gerichte, vor denen auch Klage eingereicht worden war, kamen zu gegenteiligen Ergebnissen7 , die vom Bundesgerichtshof als letzter Instanz allerdings aufgehoben wurden. Die von ihm formulierte Klageabweisung war nicht minder skandalös. Er bestätigte das Regierungsverständnis von Staatenimmunität, womit er das Lavadia- Urteil für gegenstandslos erklärte, und stellte dem seine eigene Rechtsauffassung entgegen. Wenig überraschend erklärte er das Londoner Abkommen angesichts des 2+4-Vertrags für überholt, räumte allerdings ein, dass damit Individualansprüche - angesichts des deutsch-griechischen Vertrags von 1961 - durchaus noch erhoben werden könnten.

Um ihre Rechtmäßigkeit zu beurteilen, rekurrierte er schließlich auf die Rechtslage im Jahr der Tat, also 1944, um festzustellen, das damals geltende Recht habe für militärische Handlungen im Ausland den »Amtshaftungstatbestand« aufgehoben. Die juristische Abwehr der Forderungen von NS-Opfern beruht so auf zwei Pfeilern: Einerseits wird bei Verbrechen gegen die Menschheit für die Bundesrepublik Staatenimmunität postuliert, andererseits beruft man sich als Grundlage für die eigene Entscheidungsfindung auf das NS-Recht mit seinen Ausnahmeformulierungen, die explizit jegliche Form der Haftung für intendierte und begangene Verbrechen verhindern sollten. Die juristischen Bedingungen für die damaligen Verbrechen werden so zur Voraussetzung, dass die Nachfahren der Täter deren Opfern weiterhin die Entschädigung für die begangenen Verbrechen vorenthalten können.

Ergänzt sei, dass keiner der Täter von deutschen Gerichten jemals verurteilt wurde. Es kam lediglich zur Eröffnung eines Hauptverfahrens. Dies fand 1951 vor dem Landgericht Augsburg statt. Der Angeklagte wurde freigesprochen, seine Tat - Geisel-Erschießung als »völkerrechtliche Notwehr« qualifiziert. Damit war der Tenor vorgegeben, der zur Einstellung der Ermittlung in anderen Fällen führte, die erst gar nicht zur Anklage gebracht wurden. Von einem Bruch mit der Vergangenheit kann auch in dieser Hinsicht nicht gesprochen werden.

Dennoch gibt es Veränderungen. So legte Bundespräsident Rau im Jahr 2000 in Kalavryta einen Kranz am Denkmal für die Ermordeten nieder und bat um Vergebung. Seine Worte: »Ich bin hierher gekommen, um die Erinnerung daran in Deutschland wach zu halten. Ich empfinde hier, an dieser Stätte, tiefe Trauer und Scham, und nur wer seine Vergangenheit kennt und annimmt, kann den Weg in eine gute Zukunft finden.«8 Man mag dieses Statement als Ausdruck politischer Doppelzüngigkeit begreifen. Doch kommt in ihm mehr zum Ausdruck. Betrachten wir die Maximen der deutschen Außenpolitik, die Rechtfertigung neuer Kriege wegen Menschenrechtsverletzungen gegen einen souveränen und von Deutschland in der NS-Zeit mit mörderischer Kriegführung überzogenen Staat wie Jugoslawien, dem noch weniger als Griechenland selbst in »guten Zeiten« Schuldanerkenntnis und Entschädigung zuteil wurde, dann erscheinen sie vor dem historischen Hintergrund als bodenlos.

Konservative Beobachter kritisieren deshalb den überbordenden Moralismus der neuen Kriegspolitik und verlangen nach verstärkter Thematisierung der für sie legitimen wirtschaftlichen Interessen. Doch vermutlich erfordern die deutschen Verhältnisse eine Doppelwelt von Wort und Tat als Konzession an einen noch existenten Rechtfertigungsdruck. Dagegen hoffen wohlmeinende Kritiker deutscher Geschichtspolitik auf die Überwindung des Unrechts gegenüber Griechenland u.a. »durch Aufklärung und Information durch die Fachöffentlichkeit«. Sie sollten nicht vergessen, dass alles noch Debattierte vor 50 Jahren bekannter war als heute, wie nicht zuletzt die Position der Reichsbank zeigt.

Dennoch hat sich die deutsche Gesellschaft zu einer solchen Haltung entschlossen, lediglich abgemildert durch die zahlreichen Interventionen des Auslands. Die Entschädigungspolitik nach 1945 ist somit ein zeitgeschichtliches Dokument für die Grenzen der Aufklärung. Scheinbare Erkenntnisfortschritte, wie sie zum Beispiel durch die Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht zum Ausdruck kommen, zeigen, dass heute eine andere Artikulation des Gewussten möglich ist, während die interessenbedingte Diskrepanz zwischen vorhandenem Wissen und verantwortungsorientiertem Handeln grundsätzlich bestehen bleibt. Insofern wird die weitere Entwicklung nicht auf eine umfassende Aufarbeitung der Schuld hinauslaufen, sondern eher von der konservativen Kritik geprägt sein.

Dr phil Rolf Surmann ist Historiker und lebt in Hamburg.

Dieser Text ist ein Vorabdruck aus seinem Buch: »Abgegoltene Schuld. Der geschichtspolitische Spagat zwischen entschädigungspolitischem Schlussstrich gegenüber den NS-Opfern und internationaler Menschenrechtspolitik«. Es erscheint im Mai 2005 in der reihe antifaschistischer texte I Unrast -Verlag

  • 1Zit. nach: Ernst Féaux de la Croix und Werner Rumpf, Der Werdegang des Entschädigungsrechts unter national- und völkerrechtlichem und politologischem Aspekt, München 1985, S. 201 - 288, hier S. 277.
  • 2Die Ära Adenauer, 1949 - 1957, Stuttgart 1981, S. 181.
  • 3Kleine Anfrage Ulla Jelpke, Bundestagsdrucksache 14/391B.
  • 4Ebd.
  • 5Zu den griechischen Reparationsforderungen siehe u.a. Athanasios Kafalitis, Die wirtschaftliche Katastrophe Griechenlands und die rechtlichen Ansprüche auf Reparationen, in: Schwarzbuch der Besatzung, Athen o.J., S. 10 - 15.
  • 6Siehe Das Urteil des Areopag vom 4.5.2000, in: Kritische Justiz, 2000, S. 472 - 476.
  • 7Siehe Marcus Schladebach / Lars Riensche, Griechische Entschädigungsforderungen wegen deutscher Kriegsverbrechen, in: Südosteuropa, 2003, S. 473 - 499.
  • 8Zit. nach Siegrid Skarpelis-Sperk, Last - Verantwortung - Versöhnung. Politische Perspektiven für das zukünftige Verhältnis Deutschlands zu Griechenland, in: Karl Giebeler u.a. (Hg.), Versöhnung ohne Wahrheit? Deutsche Kriegsverbrechen in Griechenland im Zweiten Weltkrieg, Möhnesee 2001, S. 86 - 98, hier S. 86.