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German Angst

Florian Eisheuer
Einleitung

(Selbst-)Opfer und nationaler Wahn

Die Pläne für einen Massenaustausch der Bevölkerung sind längst geschrieben“ verkündete Beatrix von Storch am 8. Mai 2016 auf Twitter.1 Mit der Vorstellung, es gäbe eine Verschwörung gegen das „deutsche Volk“, die das Ziel habe, dieses auszutauschen und somit zu vernichten, ist die AfD-Politikerin nicht alleine. Die Folgen sind drastisch. Denn in diesen Szenarien steht nicht einfach irgendetwas auf dem Spiel, sondern der Fortbestand des „deutschen Volkes“ mit „deutschen Familien“ und „deutschen Werten“. Die Konsequenzen einer solchen Wahrnehmung sind entsprechend weitreichend. Vor allem ist es dem Opfer einer unprovozierten Aggression nach Gesetz und Moral gestattet, sich entsprechend zu wehren. Ein Angriff legitimiert die Anwendung von Mitteln der Selbstverteidigung, die sich an der Qualität der Aggression des Angreifenden orientieren.

  • 1Beatrix von Storch;‏ twitter.com; @Beatrix_vStorch; 4:12 AM - 8 May 2016
Foto: Paul Hanewacker

Auch die "Reichsbürger" verbreiten Verschwörungs-Ideologie. Hier ein Transpartent aus diesem Milieu auf einer "Merkel muss weg"-Veranstaltung in Berlin.

Das „Selbst“, das es hier zu verteidigen gilt, ist in der vorliegenden Konstellation allerdings kein individuelles mehr, sondern ein kollektives. Das wehrhafte Individuum handelt nicht aus dem eigenen, unmittelbaren Selbsterhaltungstrieb heraus, sondern der Überlebenskampf wird aufs Völkisch-Ethnische projiziert. Strategien nationaler Selbstviktimisierung wirken sich durch die Identifizierung als Opferkollektiv, in dem alle „im selben Boot sitzen“, nicht nur stabilisierend nach innen, sondern auch nach außen aus. Die Grenzen zu den Feinden des „deutschen Volkes“, die das entsprechende Vernichtungsprogramm planten, könnten klarer nicht definiert sein.

Von Storch blieb in ihrem Tweet, den sie ausgerechnet am Tag der Befreiung veröffentlichte, zwar vage, dass sie gemeinsam mit ihrer Warnung einen Artikel der Vereinten Nationen postete, lässt allerdings auf eine Verschwörung auf höchster Ebene schließen. Doch auch ganz konkrete Antworten auf die Frage, wer hinter diesen Plänen stehe, existieren zuhauf und erfreuen sich größter Beliebtheit. Trotz Unterschieden im Detail haben sie gemein, dass nicht mehr und nicht weniger als die ganze Welt gegen das nationale „uns“ ist — oder zumindest jene als „globale Eliten“ gedachten Personenkreise, die im Hintergrund die Strippen ziehen. Dass die organisierte und konzertierte Feindseligkeit globale Ausmaße hat, ist nicht weiter verwunderlich. Bisher, so die Annahme, sei der lang gehegte Plan, die Deutschen auszurotten nämlich stets an deren Widerstandswillen gescheitert. Jetzt werden schwerere Geschütze aufgefahren und man versucht, dieses Vorhaben mit neuen Mitteln doch noch umzusetzen. Zahlreiche Namen kursieren, die alle für die geplante Vernichtung der Deutschen stehen. Als Reaktion auf den Tweet von Storchs diskutierte man in den AfD-Foren beispielsweise über ein Fortbestehen des Kaufman-Plans, aber auch über den Kalergi-Plan, Morgenthau-Plan und Soros-Plan. Dass es sich bei den Namensgebern um Juden handelt, ist dabei sicher kein Zufall. Das Phantasma des „volkszersetzenden Juden“, der schlau und gerissen die Umstände so steuert und lenkt, dass er die Kontrolle über die Deutschen behält, ohne sich dabei selbst die Hände schmutzig machen zu müssen, gehört zum Grundrepertoire des Antisemitismus, in dem das Jüdische einen Gegenpol zur deutschen Nation darstellt. Im Gerede über jüdische Pläne zur Vernichtung der Deutschen durch eine bewusst herbeigeführte und gesteuerte „Masseneinwanderung“ gehen Antisemitismus und Rassismus eine verschwörungsideologische Melange ein.

Wenn die Uhr stets 5 vor 12 zeigt

Die Rationalisierung von Aggressionen gegen Geflüchtete und Politiker_innen als „Widerstand“ hat Konjunktur. Der Staatsrechtler Thor von Waldstein erstellte für das „Institut für Staatspolitik“ ein Gutachten über das „Widerstandsrecht der Deutschen“1 , in dem er attestierte, die Bundesregierung nehme die „Beseitigung des Souveräns, des deutschen Volkes“ nicht nur fahrlässig hin, sondern strebe diese bewusst an. Insofern sei Widerstand nach Artikel 20 Absatz 4 des Grundgesetzes gerechtfertigt. Was dabei als verhältnismäßig erachtet wird, ist unterschiedlich. Teile der AfD diskutieren über „Steuerhinterziehung als Not­wehr“. Die "Identitäre Bewegung" (IB) hat eine Kampagne gestartet, in der sie zum „Generalstreik nach Artikel 20 Absatz 4 GG“ aufruft. Von Waldstein selbst argumentiert, die aktuelle Lage rechtfertige beispielsweise, die Strom- oder Wärmeversorgung einer Unterkunft für Geflüchtete zu unterbrechen, um die Belegung mit Hunderten „Illegalen“ zu verhindern.

Doch auch unmittelbare Gewalt gilt einigen als legitime Antwort. Für die terroristische „Oldschool Society“ (OSS), so lassen Äußerungen der Mitglieder vor Gericht erahnen, waren die geplanten Anschläge lediglich eine Reaktion auf die Bedrohung, die angeblich von den durch Merkel ins Land gebrachten Geflüchteten ausgeht. Der Reichs­ideologe Wolfgang Plan, der mutmaßlich im bayrischen Georgensgmünd einen Polizeibeamten erschoss, verlinkte auf seinen Social-Media-Präsenzen Artikel über einen „Geheimkrieg gegen die Deutschen“ und die „Macht der Rothschilds“ und kam zum Schluss: „Widerstand ist Pflicht!“.
Auch Frank Steffen, der im Herbst 2015 der damaligen Kölner OB-Kandidatin in Mordabsicht ein Messer in den Hals rammte, wirkte gehetzt — und gerade deshalb zu allem bereit. Vor Gericht äußerte er: „Diese Regierung will das eigene Volk austauschen“. Dagegen habe er sich mit allen Mitteln wehren müssen. Man müsse, wie er bereits vor dem Attentat in einer Mail mitteilte, „das tun was nötig ist, um noch schlimmeres zu vermeiden“. Wie sich Steffen radikalisierte, ließ sich nur deshalb rekonstruieren, weil es der Vereinigung Correctiv gelang, seine zerstörte Festplatte wiederherzustellen.2 Doch in vielen Fällen ist dies gar nicht nötig, da die Prota­go­nistInnen, ausgestattet mit dem missionarischen Sendungsbewusstsein eines Erwachten, ihre Gedankengänge völlig ungeniert in aller Öffentlichkeit präsentieren.

Ein genozidaler Druide im „Widerstand

Seit Jahren schon steht beispielsweise Burghard Bangert im Fokus verschiedener Watch-Gruppen, die ein Monitoring jener neurechten Querfrontbewegungen betreiben, deren Ausgangspunkt die sogenannten „Montagsmahnwachen für den Frieden“ gewesen sind. Bangert, der sich selbst „Burgos von Buchonia“ nennt und behauptet, ein 2.500 Jahre alter Druide zu sein, erschien vielen vermutlich als exzentrischer aber harmloser Spinner. Mit seinen wallenden, weißen Haaren, dem Gehstock und seinen Gewändern aus beigen Leinen erinnert er an Miraculix, den Druiden aus den Asterix-Geschichten. In seiner Selbstbeschreibung bezeichnet sich Bangert als „Menschenrechtsaktivist“. Nun wird ihm vorgeworfen, Teil einer Terrorvereinigung gewesen zu sein und Anschläge geplant zu haben. Bei Razzien in sechs Bundesländern wurden im Januar zahlreiche Waffen aufgefunden. Die Verwunderung war einigermaßen groß, dabei hatte er aus seinen Ansichten und Plänen, zu denen auch gehörte, ein „Wehrdorf“ zu gründen, nie einen Hehl gemacht, sondern sie völlig unverhohlen und mit großem Nachdruck auf Facebook und dem russischen Pendant VKontakte dargelegt. Sein ausgeprägtes Mitteilungsbedürfnis erlaubt die Rekonstruktion einer interessanten Innenansicht in eine wahnhafte Welt.

Mit zahlreichen, meist frei erfundenen oder grob aus dem Kontext gerissenen Zitaten historischer Persönlichkeiten möchte er immer wieder belegen, die „zionistisch“ kontrollierte Welt habe sich gegen die Deutschen verschworen. Mit einem historischen Zeitungsausschnitt mit dem Titel „Judea Declares War on Germany“ vom 24. März 1933 möchte er zeigen, dass die Shoa lediglich ein historischer Akt der Notwehr gewesen ist. Der Artikel wird in geschichtsrevisionistischen Milieus gerne und häufig zu diesem Zwecke verbreitet, obwohl der eigentliche Text unter der reißerischen Überschrift lediglich berichtet, Londoner Geschäftsleute zögen als Antwort auf den Antisemitismus in Deutschland einen Boykott deutscher Waren in Erwägung.

An verschiedenen Stellen führt er aus, die „keltisch-germanische Kultur“ sei die einzige, die den "New World Order"-Plänen der Juden im Weg stehe, weshalb diese schon seit 130 Jahren versuchten, die Deutschen zu vernichten. Auch die beiden Weltkriege seien jüdische Kriege gegen das „deutsche Volk“ gewesen. Heute sorgten die „Zionisten“ weltweit für Konflikte, um die so verursachten Migrationsbewegungen als Waffe gegen Deutschland verwenden zu können: „Ohne die weltweit, juedisch verursachten Unruhen gaebe es keine Fluechtlinge.“
Aufgrund angeblicher jüdischer Pläne zur Vernichtung der Deutschen fordert er Widerstand und plädiert auf Notwehr. Sein VK-Profil zierte zuletzt der Leitspruch „Mein Selbsterhaltungstrieb sagt mir, dass ich die Juden und Moslems vernichten muss, bevor diese meine Sippe oder meine Familie vernichten“.

Bangerts Version von Widerstand beinhaltet auch offenen Vernichtungsantisemitismus: „Wir dürfen und müssen uns bei der Bekämpfung der Bedrohung gern der Methoden unserer Feinde bedienen.“ Für ihn gilt es, die jüdischen Verursacher_innen der Situation auszulöschen, bevor diese ihrerseits ihre Pläne umsetzen können. In der Facebook-Gruppe „Freundeskreis Montagsdemo Frankfurt“ kommentierte er einen holocaustleugnenden Beitrag eines anderen Gruppenmitglieds zustimmend und verurteilt seinerseits die „jüdischen Lügen“, um dann später im selben Thread darauf aufmerksam zu machen, nur „DER TOTALE GENOZID“ könne einen Ausweg aus der Misere darstellen. Dabei müsse absolut schonungslos vorgegangen werden. So schreibt er, vorgeblich Martin Luther zitierend: „Bevor nicht der letzte Jud den letzten Atemzug getan, egal ob Mann, ob Weib, ob Greis, ob Kind, wird es auf Erden kein Frieden werden.“ Hinter der Maske der Friedenssehnsucht trifft hier Holocaustleugnung auf Holocaustforderung. An anderer Stelle plädiert der gebürtige Schwetzinger gemeinsam mit dem Foto einer Mischung aus Pistole, Schlagring und Messer: „Bewaffnet Euch. Unsere Gegner taten es bereits.“

Verkehrte Welten

Bei Burghard Bangert erscheinen Poli­tik­e­r_in­nen, Geflüchtete, Jüdinnen und Juden als legitime Ziele, da sie allesamt zum Genozid an den Deutschen beitrügen. Sowohl er als auch Frank Steffen bewegten sich in einer Parallelwelt, in der KOPP Verlag und das Compact Magazin als Verkünder der absoluten Wahrheit gelten und die „Mainstreammedien“ als „Lügenpresse“, der Mordversuch an einer Politikerin als legitime Reaktion auf die Anwesenheit von Geflüchteten erscheint und Genozidforderungen nicht im Widerspruch zu einer Selbstwahrnehmung als Menschenrechts- und Friedensaktivist stehen.
Angriff sei eigentlich Verteidigung, der „Gutmensch“ der eigentliche Schlechtmensch und der Rassist der eigentliche Antirassist. Die Literaturwissenschaftlerin Sylvia Sasse bezeichnet solcherlei Verkehrungen ins Gegenteil in Anlehnung an Michail Bachtin als „Karnevalisierung der Politik“. Sie erläutert, die Verdrehung von Ideen wie Widerstand habe zweierlei Effekte. Zum einen verlache sie die „Erinnerung daran, was man historisch über Dissidenz, Widerstand und Andersdenkende wissen kann und sollte“ und lösche diese aus, zum anderen würden „die positiven Vorstellungen, die mit Widerstand und Opposition verbunden sind“ usurpiert.3

Auch im Umfeld von Götz Kubitschek, der häufig als Vordenker der "Neuen Rechten" in Deutschland bezeichnet wird, und unter anderem für das „Institut für Staatspolitik“ (IfS) und die Zeitschrift „Sezession“ verantwortlich ist, wähnt man sich an einem Wendepunkt der deutschen Geschichte, an welchem sich entscheide, ob es eine Zukunft für die Deutschen geben werde oder nicht.
Die Frage, wie ernst man die von ihm und anderen in diesem Kontext artikulierten politischen Forderungen nehmen solle, beantwortet Kubitschek in der Sezession: „Sehr ernst, sehr, sehr ernst, denn wir schlagen vor und fordern ja nichts weniger als die Legitimierung des Widerstands durch den Einsatz des bisher Aufgebauten […]. Dies alles ist kein Spiel!“. Nein, er und andere meinen es todernst, daran lässt auch der Titel des Artikels „Wir werden handeln“ keinen Zweifel. Denn wie, wenn nicht äußerst drastisch, soll dieses Handeln in Anbetracht der Lage denn sonst aussehen? Schließlich dürfe das „deutsche Volk […] weder überfallartig noch schleichend ausgetauscht werden“, wie Kubitschek sich an anderer Stelle empört.
Fast könnte man meinen, er und andere sehnten sich insgeheim herbei, dass dieser Austausch endlich an Fahrt aufnehme. Damit auch jene, die jetzt noch zögerlich sind, den Ernst der Lage verstehen und der Endkampf endlich beginnen kann. Bei alledem versteht man sich selbst als Verteidiger der wahren Demokratie, die ganz selbstverständlich als Demokratie eines ethnisch definierten „deutschen Volkes“ gedacht wird.

Von der verfolgten zur verfolgenden Unschuld

Dass dieses angebliche Recht auf Widerstand für einige auch Gewalt mit einschließt, zeigen nicht nur die zahlreichen Angriffe auf Geflüchtete oder der Fall Frank Steffen, sondern es wird auf besonders perfide Weise auch in einem kurzen Interview mit dem rechten Aktivisten Veikko S. dokumentiert, das von der WELT am Rande einer PEGIDA-Demonstration in Dresden aufgezeichnet wurde. Veikko S. äußert dort, Brandstiftungen an Unterkünften für Geflüchtete hätten nichts mit „Nazis“ oder Ähnlichem zu tun, sondern seien ganz im Gegenteil eindeutig als Akt „direkter Demokratie“ zu verstehen. Wenn politische Akteur_innen anprangern, die „Völksverräter“ würden die Demokratie abschaffen, gleichzeitig aber selbst Gegenmaßnahmen fordern oder bereits umsetzen, die mit demokratischen Standards nichts zu tun haben, dann ist das einer jener Aspekte der Projektion, die in Adornos „Studien zum autoritären Charakter“ als Merkmal autoritärer und faschistischer Propaganda erörtert werden: „Sie rufen zur Verteidigung der Demokratie gegen deren ‚Mißbrauch‘ auf und möchten, indem sie die ‚Mißstände‘ anprangern, letztliche die Demokratie selbst zu Fall bringen.“4
Er beschreibt dieses Vorgehen zwar als bewussten Trick, es kann aber durchaus davon ausgegangen werden, dass es sich hier nicht immer um einen strategischen Kniff handelt, sondern einige tatsächlich glauben, sich gegen ein durch Feinde des „deutschen Volkes“ initiiertes Vernichtungsprogramm zur Wehr setzen zu müssen und nur so die Ordnung aufrechterhalten zu können. Eigene Aggression und Gewalt werden hier als verständliche Reaktionen auf die Angriffe von außen rationalisiert. So kann aus dem eingebildeten Verfolgten ein ganz realer Verfolger und aus der verfolgten die verfolgende Unschuld werden, wie es Karl Kraus nannte. Hier bildeten Schuld und Lüge eine Einheit und die Tat selbst wird zum Alibi.

Antifaschistische Politik tut sich häufig recht schwer damit, auf solch verkehrte Welten die passenden Antworten zu finden. Wie soll man auch auf ein Gegenüber reagieren, das allen Ernstes argumentiert, Geflüchtete in Deutschland seien Teil eines von langer Hand geplanten Holocaust an den Deutschen? Für den Rassismus des traditionelleren Neonazismus und der Neuen Rechten hat man erfolgreich Gegenkonzepte entwickeln können. Für immer beliebtere Narrative, Identitäts- und Rollenzuschreibungen, etwa wenn Rassismus und Antisemitismus in einer geschlossenen Verschwörungsideologie aufeinandertreffen und im konkreten Vernichtungswillen kulminieren, fehlen sie allerdings bisher.