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Freispruch für »Cap Anamur«-Crew

Elias Bierdel
Einleitung

Nach mehr als dreijähriger Verfahrensdauer endete am 7. Oktober 2009 in Agrigent/Sizilien der »Schlepper«-Prozess gegen die »Cap Anamur«-Crew. Als der Freispruch für die Angeklagten verkündet wurde, da klatschten die italienischen AktivistInnen und die aus Deutschland angereisten UnterstützerInnen im Zuschauerraum des Gerichtssaals erleichtert Beifall. Die Reporter und Kameraleute stürzten sich auf uns: »Wie fühlen Sie sich jetzt?« lautete die meistgestellte Frage.

Bild: bordeline-europe.de

Am 20. Juni 2004 rettet die Besatzung der »Cap Anamur« im Seegebiet zwischen der lybischen Küste und der italienischen Insel Lampedusa 37 Männer von einem defekten Schlauchboot.

In den Tagen danach erreichten uns hunderte Glückwünsche aus aller Welt. Menschen drückten ihre Erleichterung darüber aus, dass die politisch gewollte Kriminalisierung von Lebensrettern doch gestoppt wurde. FreundInnen, Verwandte, oder auch Unbekannte, die unseren Fall nur über die Medien verfolgt hatten, gratulierten. »Ich freue mich sehr für Sie – und eigentlich für uns alle!« brachte eine Lehrerin aus Niedersachsen die Stimmung auf den Punkt, die viele erfasst hatte. Auch das internationale Presseecho fiel – ganz anders als bei der Rettungsfahrt der »Cap Anamur« im Sommer 2004 – diesmal einhellig positiv aus: von einem »Sieg der Menschlichkeit« war in vielen Zeitungskommentaren die Rede. Natürlich haben auch wir uns darüber gefreut dass der Wahnsinn dieses zynischen Verfahrens nun hoffentlich (bis April 2010 hat der Staatsanwalt noch Zeit zu entscheiden, ob er in Revision gehen möchte) zum Abschluss gekommen ist. Aber wir werden uns von diesem vermeintlichen »Sieg« nicht einlullen lassen. Schon während der zahllosen, zähen Verhandlungstage im Gerichtssaal war es kaum auszuhalten, den falschen, verleumderischen und/oder infamen Aussagen der zumeist uniformierten Belastungszeugen zuzuhören, während wir doch wussten, dass draussen auf dem Meer das Sterben weitergeht. Denn vor Sizilien dauert, ebenso wie an allen anderen Aussengrenzen der Europäischen Union, die tödliche Jagd auf Migrierende und Flüchtlinge an. Täglich geraten Menschen in große Gefahr, weil sie gezwungen werden »illegale« Wege zu beschreiten. Und viele sterben: sie ersticken in Containern, werden ausgeraubt, vergewaltigt, ermordet, ertrinken vor unseren Küsten, verdursten, verhungern oder laufen an der griechisch-türkischen Grenze ahnungslos in die Minenfelder, mit denen am Fluss Evros die EU ihre Grenze »sichern« lässt. In den ersten acht Monaten in 2009 sind allein auf dem Meer zwischen Libyen, Tunesien, Malta und Lampedusa 418 Opfer der Flüchtlingsabwehr gezählt. Die Dunkelziffer liegt um ein Vielfaches höher. Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass dieser tödliche Abschottungswahn der europäischen Regierungen kurzfristig gestoppt wird. Auch die leise Hoffnung, wonach der Freispruch für die »Cap Anamur« möglicherweise ein Umdenken bei Richtern und Staatsanwälten signalisieren könnte, ist rasch verflogen. Am 17. November 2009, nur sechs Wochen nach unserem Urteil, entschied dieselbe Kammer in einem anderen Fall. Auch hier standen Lebensretter als angebliche »Schlepper« vor Gericht. Diesmal handelte es sich um sieben tunesische Fischer, die im August 2007 nahe Lampedusa auf ein sinkendes Boot mit 44 Menschen an Bord gestossen waren. Und es sollte sich vor Gericht zeigen, dass von einer Abkehr der zynischen Kriminalisierungsstrategie keine Rede sein kann: zwar wurde (wie auch im Fall der »Cap Anamur«) der ursprüngliche Tatvorwurf, die »Beihilfe zur illegalen Einreise« (= »Schlepperei«), mangels Masse fallengelassen, verurteilt wurden die beiden Kapitäne der Fischerboote dennoch. Die Bootsführer der »Morthada« und der »Mohamed El Hedi« sollen nach dem Willen der Kammer für zweieinhalb Jahre hinter Gitter, wegen angeblichen »Widerstands gegen ein Kriegsschiff«! Man muss sich die Einhzelheiten der damaligen Vorgänge vor Augen führen, um die ganze Niedertracht dieses Urteils zu begreifen: als die tunesischen Fischer auf das sinkende Flüchtlingsboot stießen, da wussten sie natürlich, wie jeder Kapitän, jedes Besatzungsmitglied im Mittelmeer, dass bei der Rettung von Schiffbrüchigen vor Lampedusa Ärger seitens der Behörden droht. Sie informierten deshalb zuerst die Küstenwache über die drohende Katastrophe. Antwort der »Guardia Costiera«, per Funk: »Nichts anfassen – WIR kümmern uns um die Sache!« Doch es kam ... niemand. Da die behördliche Hilfe ausblieb, wagten die Fischer bei rauher See die gefährliche Aktion auf eigene Faust. Es war Rettung in letzter Minute. Zufall oder nicht: in dem Moment, wo tatsächlich alle 44 Menschen (darunter Frauen und Kinder) auf dem Fischerboot in Sicherheit waren, kam ein Schnellboot der Küstenwache herangeprescht. Der Vorwurf nun: »Sie haben sich unseren Anweisungen widersetzt – der Befehl lautete, UNS die Sache zu überlassen!« Es ist schrecklich genug, sich diese tödliche Logik klarzumachen. Bei »korrektem« Verhalten hätten die Fischer die Menschen ertrinken lassen müssen! Aber es gibt noch eine Steigerung: denn die Retter erhielten die Order, ihre menschliche Fracht nach Libyen zu bringen (wie es die italienische Marine unter Missachtung aller Menschen- und Flüchtlingsrechte routinemässig macht). Die Fischer weigerten sich und nahmen Kurs auf die Insel Lampedusa, die viel näher liegt. Nun kam eine Korvette der italienischen Seestreitkräfte ins Spiel, knapp 100 Meter lang, mit Bordkanonen und Raketen bewaffnet. Mit dieser mächtigen Kriegsmaschine versuchte die Marine, den schlingernden Booten mit sieben Bedsatzungsmitgliedern und 44 Geretteten an Bord den Weg abzuschneiden. Doch die Fischer hielten Kurs und erreichten den Hafen von Lampedusa. Dort verfuhr man wie üblich: die afrikanischen Schiffbrüchigen wurden (mit Ausnahme mehrerer Verletzter, die zunächst per Hubschrauber zur medizinischen Behandlung aufs Festland geflogen werden mussten) zur schnellstmöglichen Deportation ins Lager geschafft – ihre Retter aber wanderten ins Gefängnis. Das Verfahren ist im Kontext der »Sicherung der EU-Aussengrenzen« als Abschreckungsmassnahme zu verstehen. Koordiniert durch die Grenzschutz- Agentur FRONTEX wird die Abschottung der europäischen Wohlstandsfestung gegen die Nachbarregionen mit Milliardensummen weiter aufgerüstet. Allerlei militärische und paramilitärische Verbände haben den Auftrag, Menschen daran zu hindern, in Europa Schutz, Hilfe oder »nur« ein besseres Leben zu suchen. Tausende werden in Lager gesperrt, wacklige Flüchtlingsboote unter klarer Missachtung aller Menschenrechte von Kriegsschiffen abgedrängt. Kommen weniger Boote an – etwa auf den Kanarischen Inseln – wird das als »Erfolg« dieser brutalen Politik gefeiert. Dass der vermeintliche »Erfolg« aber durch viele hundert zusätzliche Tote erkauft wird, bleibt in offiziellen Statements unerwähnt. Es ist kaum zu fassen: zwar sind zehntausende Beamte an der Abwehr von Schutzsuchenden an den europäischen Aussengrenzen beteiligt, aber nicht ein einziger europäischer Staatsdiener beschäftigt sich amtlicherseits mit den Opfern des EU-Grenzregimes. Die Folgen der fortgesetzten Ausplünderung sogenannter »Entwicklungsländer« durch die Industrienationen sollen ebensowenig sichtbar werden, wie alle anderen Konsequenzen des auch in Europa üblichen, unmässigen Lebenswandels: als Folge des fortschreitenden Klimawandels werden Millionen Menschen in südlichen Ländern ihre Heimat verlieren. Die Verantwortung hierfür liegt aber nicht bei den Afrikanern selbst, denn ihr Kontinent ist nicht einmal mit fünf Prozent an der Emission von Treibhausgasen beteiligt, sondern ausschliesslich bei der »entwickelten« Welt. Doch statt sich zur Verantwortung für die Klimaflüchtlinge zu bekennen, will die EU auf die erwarteten Migrationsbewegungen mit militärischen Mitteln antworten. Der Krieg gegen Flüchtlinge hat rings ums Mittelmeer schon begonnen – und fordert tausende zivile Opfer.

Infos unter: www.borderline-europe.de