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Flüchtlingsunterbringung in Sachsen-Anhalt

Einleitung

Institutioneller und alltäglicher Rassismus Hand in Hand

Seit Jahresbeginn 2013 hat der kleine Ort Vockerode in Sachsen-Anhalt ca. 200 neue Bewohner_innen. Die neuen Einwohner_innen sind Flüchtlinge aus verschiedenen Krisengebieten der Welt, die in der BRD einen Asylantrag gestellt haben. Mit dem Zuzug der neuen Bewoh­ner_innen gründete sich in Vockerode eine Bürgerinitiative, die sich gegen die Unterbringung der Flüchtlinge im Dorf positionierte. Zusätzlich erschien mehrmals der Kreisverband der NPD mit Infoständen auf der Bildfläche. Doch blieb es nicht nur bei verbalen Anfeindungen und Hetze gegen die vermeintlich Fremden. In den ersten Monaten des Jahres 2013 kam es bereits zu drei Attacken gegen die Flüchtlinge durch deutsche Rassist_innen.

Eine Lösung des Konflikts scheint derweilen nicht in Sicht. Denn aus der »Übergangslösung« in Vockerode, wie es noch zu Beginn des Jahres hieß, wurde ein fünfjähriger Vertrag zwischen dem Landkreis Wittenberg und dem Eigentümer der Gebäude. Die Unterbringung im Landkreis Wittenberg erfolgte bis Ende 2012 in der knapp 2000 Einwohner_innen zählenden Ge­mein­de Möhlau. Dort lebten Flücht­linge auf einem ehemaligen Kasernenge­lände, ca. einen Kilometer hinter dem Ortsausgangsschild mitten im Nichts.

Bereits 1991 wurde auf dem Ge­lände der ehemaligen sowjetischen Streitkräfte das Lager für Flüchtlinge eingerichtet. Derweilen führte der vom Landkreis beauftragte private Betreiber, die KVW-Beherbergungsbetriebe, über Jahre keinerlei Instandhaltungs- oder Sanierungsmaßnahmen durch. Das Lager glich eher einer Müllhalde mit schimmelnden Bädern, Kakerlakenbefall und ungesicherten, verfallenen, leerstehenden Gebäuden.

Nach Jahren regte sich im Lager Widerstand. Im Juli 2008 gründete sich die Flüchtlingsinitiative Möhlau. Unterstützung erhielten sie vor allem von den Flüchtlingsorganisationen »the voice« und der »Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und Migrant­Innen« sowie der Initiative »no lager halle«. Gegen ihre Lebensbedingungen protestierten die Flüchtlinge erstmals in einem offenen Brief. Sie be­schrie­ben damals ihr Leben so: »Die Mittel, die uns zum Leben zur Verfügung stehen, liegen dauerhaft unterhalb des Existenzminimums. Wir können uns nicht frei bewegen. Wir haben keine Pers­pektive und können uns auch keine erarbeiten. Die medizini­sche Versor­gung ist absolut unzurei­chend. Unser Familienleben wird schwer beeinträch­tigt. Wir werden Zielscheibe rassistischer und rechts­extremer Übergriffe. Die Ausländerbehörde scheint nur ein Ziel zu verfolgen, nämlich unsere Abschie­bung.«

Das Landratsamt Wittenberg behauptet auf eine Anfrage der Zeitung »Junge Welt«, sämtliche Forderungen der Flüchtlinge seien falsch bzw. überflüssig. Angestoßen durch den Offenen Brief kam es im Juli 2009 zu einer öffentlichen Begehung des Lagers, zu der die Flüchtlingsinitiative zusammen mit »no lager halle« eingeladen hatte. Außerdem fand eine erste Demonstration in Wittenberg statt, an der sich ca. 170 Menschen beteiligten und bei der die Heimbewohner_innen gemeinsam mit Unterstützer_innen vor die Ausländerbehörde zogen, um dort die Schließung des Lagers und die Unterbringung in selbst gesuchten Wohnungen, Erteilung von Arbeitserlaubnissen und die Ausstellung von Geburtsurkunden für hier geborene Kinder einzufordern.

Als Konsequenz aus der Begehung gründete sich wenig später der Runde Tisch Möhlau aus Vertreter_innen der Flüchtlingsinitiative, des Flüchtlings­rats Sachsen-Anhalt und anderer zivil­gesellschaftlicher Gruppen. Erst nach dem schrecklichen Verbrennungstod von Azad Murad Hadji im Herbst 2009 (die Ermittlungen wurden ergebnislos eingestellt), der fehlgeschlagenen, dramatischen Abschiebung der Familie Stolla (der Vater der Familie flüch­tete aufs Dach des Hauses und wollte sich hinunterstürzen) und massiven Protesten der Flüchtlinge, fing der Landkreis an, sich mit der Lebenssitua­tion der Flüchtlinge auseinander­zu­setzen.

Bei einer vom Runden Tisch organi­sierten Podiumsdiskussion im November 2009 gelang es zumindest einige der politisch Verantwortlichen zu einer öffentlichen Debatte zu bewegen. Diese gestaltete sich jedoch nur als Schlagabtausch zwischen Mitglie­dern des Land- und Kreistages und der Integrationsbeauftragten darüber, dass die Gesetzeslage keine anderen Pers­pektiven bieten würde. Die Flücht­lings­initiative verwies an diesem Abend allerdings auch auf das Hauptproblem des Lagers: Die Isolation und deren soziale und psychische Folgen. Weiterhin kritisierten sie die Ausgabe von Gutscheinen (damals 132 Euro plus 20 Euro Taschengeld) und Probleme bei der Ausstellung von Krankenscheinen. Zwar gestand auch die Ausländerbeauftragte ein, dass die Unterbringung in Möhlau zu den schlech­testen in Sachsen-Anhalt ge­höre, hielt aber eine Sanierung für zu teuer. Halbherzig versprach man, die Mög­lichkeit einer dezentralen Unterbringung zu prüfen. Die Verantwort­lichen ließen allerdings mit Verweis auf die vermeintliche Gesetzeslage durchblicken, an dem Zustand der Ex­klu­sion und Entrechtung von Flücht­lingen nicht wirklich etwas ändern zu wollen. Die daraufhin gegründete AG Möhlau des Kreistages stellte eine Kostenrechnung auf, die die ALG II-Höchstsätze für Mieten und Heiz­kosten zu Grunde legte – eine absurde Ausgangslage angesichts des hohen Leerstands und der niedrigen Mieten in dieser Gegend.  Eine dezentrale Unterbringung hätte in Wahrheit allerdings eine Kostenersparnis gebracht, bei­spiels­weise durch die Unterbrin­gung der Flüchtlinge in Wohn­gemein­schaf­ten.

Die AG aber empfahl dem Kreistag, nur die Familien in dezentrale Wohnungen unterzubringen und Einzel­personen weiter in der Sammelunter­kunft Möhlau zurückzulassen. Dieser entschied sich daraufhin im Juni 2011 für eine Unterbringung der Familien in Vockerode. 2012 stellte der Landkreis fest, dass es immer noch keine Verbes­se­rungen im Lager Möhlau gab und kündigte den Vertrag plötzlich auf. Nach einer gescheiterten Aus­schreibung zur Neuunterbringung prä­sentierte er die »Übergangslös­ung« Vockerode, die im Verständnis der Politiker_innen auch keine Sammel­unterkunft mehr darstelle, sondern eine dezentrale Form der Unterbringung, da es sich um einzeln ange­mietete Wohnungen handelt. Sowohl die Flüchtlinge als auch die Dorfbewohner_innen erfuhren erst im De­zem­ber 2012 vom Umzug am Ende desselben Monats nach Vockerode. Den Flüchtlingen wurde mitgeteilt, dass im Lager Möhlau ab dem 1. Januar 2013 kein Strom, kein Wasser und keine Heizung mehr vorhanden sein würden. So konnten vom Landkreis alle Flüchtlinge dazu gezwungen werden, ins neue Lager nach Vockerode zu ziehen. Hierbei durften sie nur technische Geräte und Kleidung mitneh­men. Alles andere, was sie sich über Jahre organisiert hatten, um irgendwie das triste Leben im Lager Möhlau ertragen zu können, mussten sie zurücklassen.

Im neuen Lager müssen sich ent­weder vier Menschen eine Dreiraumwohnung oder jeweils zwei ein ca. 12 m2 großes Schlafzimmer teilen. Das Dorf verfügt über kaum nennenswerte Infrastruktur oder öffentliche Ver­kehrs­anbin­dung. Nur über einen Anrufbus können Fahrten zu den Behörden, zum Einkaufen oder zum Arzt bewältigt werden. Mit dem Zuzug  gründete sich eine gegen die Flüchtlinge gerichtete Bürgerinitiative, die ebenfalls eine dezentrale Unterbringung der Betroffenen fordert. Auch die NPD witterte ihre Chance, an die Vorurteile und Rassismen der Dorfbewohner_innen anzuknüp­fen. Seitens der Politik gab es auf das Auftreten der NPD, die mehrfach Infostände vor Ort abgehalten hat, keine nennenswerte Reaktion. Dass es inzwischen dreimal zu tätlichen Angriffen auf Flüchtlinge in Vockerode kam, löst scheinbar weder im Kreistag noch bei den Poli­zei­behörden Alarmbereitschaft aus. Ganz im Gegenteil, die Pressemitteilungen der Polizei geben eindeutig die Täterperspektive wieder und verharmlosen die akute Gefahr für Leib und Leben der Flüchtlinge, solange sie in Vocke­rode ausharren müssen. Institutio­neller Rassismus, Alltagsrassismus und Neofaschismus spielen sich ge­gen­seitig in die Hände.

Die Forderungen der Flüchtlinge wurden und werden ignoriert. Das »Ghetto« bleibt. Die Gefahr ist so groß wie nie zuvor. Trotz Allem muss gesagt sein, dass sich durch die Proteste und Kämpfe einiges bewegt hat und bewegt, auch wenn dies ein zäher Kampf ist und bleibt. Um so wichtiger ist es, nicht nur bei der Verschärfung eines Konflikts, wie von der NPD forciert, die Betroffenen zu unterstützen, sondern dauerhaft und auf allen Ebenen solidarisch zu sein.

Mehr Informationen unter: www.ludwigstrasse37.de/nolager/