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Faschismus, eine »charismatische Herrschaft«?

Fabian Kunow
Einleitung

Der zehnte Teil der Reihe »Faschismustheorien. Erklärungen des NS« widmet sich der Deutung des Nationalsozialismus als »charismatische Herrschaft«. Damit ist zwar keine eigene Faschismustheorie zu begründen, Charisma wird aber in den
gängigen Faschismusdefinitionen als ein Bestandteil – neben Rassismus, Militarismus etc. – aufgeführt.

Ist ein Politiker der extremen Rechten  bei Wahlen erfolgreich, ist schnell die Erklärung, er oder sie sei »charismatisch« bei der Hand. Sei es die Spiegel-Sonderausgabe zu Hitler oder die Berichterstattung zur Niederlage der alten Haider-Partei in Kärnten bei der dortigen Landtagswahl 2013, wozu die Frankfurter Rundschau schrieb, dass Kärnten politisch dorthin zurückkehre wo es »vor dem Auftritt des charismatischen Verführers«1 stand. Was aber ist Charisma für eine Fähigkeit, die von der Bedeutung her allgemein bekannt ist, aber von den wenigsten erklärt werden kann?

»Für Generationen derjenigen, die die nationalsozialistische Herrschaft erlebt haben, gehörte es zu den unumstößlichen Tatsachen, dass Adolf Hitler Charisma hatte. Er habe, so wird gesagt, eine besondere Ausstrahlung auf Menschen ausgeübt«2 , schreibt der Historiker Ludolf Herbst in der Einleitung von »Hitlers Charisma – Die Erfindung eines deutschen Messias«. Das Erforschen der Ambivalenz zwischen der, nach bürgerlichen Maßstäben, mickrigen Person Adolf Hitler und seiner scheinbar ungeheuerlichen Anziehungskraft, Ausstrahlung und somit Autorität auf die deutschen Massen, haben sich Generationen von HistorikerInnen zur Aufgabe gemacht. Ein Streitpunkt ist seit jeher der gleiche: War nun Hitler ein charismatischer Führer oder hatte er nur eine besonders gute PR- und Propagandaabteilung hinter sich?

Für aktive AntifaschistInnen wird es ab dem Moment interessant, in dem wir feststellen, dass eine »charismatische Führerfigur« alle faschistischen Regime sowie gesellschaftlich relevant gewordenen faschistischen Bewegungen kennzeichnet. Zu den Faschismus prägenden Kategorien ge­hört das »Führerprinzip« und hier stellt sich die Frage, warum so viele bereitwillig folgten. Wie wird die Autorität des faschistischen Führers hergestellt? Taugt der Begriff des »Charisma« um seine Autorität zu erklären?

Interessant ist die Frage nach dem Charisma bei extrem rechten Parteien auch heute. So dient das Fehlen einer solchen Führerpersönlichkeit als ein  Erklärungsansatz, wenn versucht wird zu begründen, warum die extreme Rechte nach einer Wahl in Deutschland3 wieder unter »sonstige Parteien« fällt, obwohl laut verschiedenen sozialwissenschaftlichen Einstellungsstudien seit Jahren deutlich über zehn Prozent der Deutschen mit einem »rechtsextremen« Weltbild ausgestattet sein sollen. Gerade weil diese Fragestellung so interessant ist, sollten wir nach der Realität der charismatischen Herrschaft Hitlers während der Kampfjahre der NSDAP sowie der Jahre ihrer Diktatur fragen.

Was ist Charisma?

Wenn sozialwissenschaftlich begründet werden soll, was die Autorität von bzw. die Herrschaftsbeziehung »Charisma« bzw. »charismatisch« ist, wird sich für gewöhnlich auf Max Weber bezogen. Aus dem von Weber geprägten politikwissenschaftlichen Sprachgebrauch ist der Charismabegriff in die gehobene Umgangssprache übernommen worden und bezeichnet dort eine irrationale, auf Suggestion4 beruhen­de politische Führungsqualität, aber gelegentlich schon die Ausstrahlungskraft eines Menschen überhaupt.5

Herrschaft ist nach Weber die Möglichkeit, bei einer Gruppe von Menschen für spezifische Befehle Gehorsam zu finden. Weber setzt Herrschaft und Autorität scheinbar gleich, in diesem Sinne können verschiedene Motive Hintergründe der Fügsamkeit sein. Dies kann bei dumpfer Gewöhnung anfangen und bis zu zweckrationalen Erwägungen reichen. Da Weber drei Idealtypen von Herrschaft entwickelt, müssen neben der Kategorie »Charisma« auch die beiden anderen Kategorien vorgestellt werden.

Webers Formen der Herrschaft

Die Herrschaft rationalen Charakters oder der legalen Herrschaft setzt auf den Glauben an die Legalität gesetzter Ordnungen und des Anweisungsrechts. Die legale bzw. rationale Herrschaft wird durch einen hierarchischen Verwaltungsstab von oben nach unten durch- bzw. umgesetzt. Sie zeichnet den modernen, zweckrationalen Staat aus.

Als bestes Beispiel für diese Form der Herrschaft nennt Weber die Bürokratie. Sie zeichnet sich  durch einen kontinuierlichen regelgebundenen Be­trieb von Amtsgeschäften mit abgesteckter Kompetenz und Zuordnung aus sowie dafür erforderliche Befehlsgewalten und eine feste Abgrenzung der eventuell zulässigen Zwangsmittel und der Voraussetzung ihrer Anwendung.

Die traditionelle Herrschaft dagegen beruht auf dem Alltagsglauben an die Heiligkeit von jeher geltender Traditionen und die Legitimität, der durch sie zur Autorität Berufenen. Als Beispiel lässt sich für traditionelle Herrschaft das Erbfolgeprinzip von Monarchien nennen. Hier wird die Autorität und das Recht des Herrschens vom Monarchen qua Geburt weitergegeben.

Die charismatische Herrschaft verläuft quer zu der Unterscheidung von rationaler Herrschaft und traditionell begründeter Herrschaft, welche zusammen gerade den alltäglichen Moment von Herrschaftsverhältnissen legitimieren. Weber hat den Begriff »Charisma« aus der Theologie entnommen und in die Sozialwissenschaften eingeführt. 

Er definiert Charisma »als außer­alltäglich geltende Qualität einer Persönlichkeit (...), um derentwillen sie als mit übernatürlichen oder übermenschlichen oder mindestens spezifisch außeralltäglich, nicht jedem andern zugänglichen Kräfte oder Eigenschaften begabt oder als gottgesandt oder als vorbildlich und deshalb als ›Führer‹ gewertet wird«6 . Solche Fähigkeiten werden Propheten, Rechts-Weisen, Jagdführern oder Kriegshelden zugeschrieben. Es kam aber nicht auf das konkrete Können an, sondern wie dieses von den Beherrschten bewertet wurde. Diese Anerkennung passiert im Moment der Begeisterung oder der Not.6

Richtig stellt der Historiker Ludolf Herbst fest: »Rein« kommt der Idealtypus charismatischer Herrschaft nur in der Legende vor. Geschichtsmächtig wird charismatische Herrschaft in einem komplexen Mix mit den anderen Idealtypen von Herrschaft, also in Kombination mit unterschiedlichen Elementen rationaler, traditioneller und charismatischer Herrschaftsformen. Eine zweite Frage, die Herbst stellt, ist die, ob sich Charisma in einem hochbürokratischen Umfeld über­haupt entfalten kann.7

Hochbürokratisch kann in zweierlei Maßstäben interpretiert werden. Einmal im Kleinen, mit der immer größer werdenden NSDAP, die zur ersten modernen Volkspartei mit ganz unterschiedlich zu bedienenden Interessensgruppen wurde. Im Großen kann die Weimarer Republik als Beispiel dienen.

Charismatische Fähigkeit als Inszenierung durch Hitler und seine Entourage

Herbst sieht Hitler nicht mit besonderem Charisma ausgestattet. Vielmehr wurden Hitler durch seine Förderer und später seinen »Hofstaat« und die Propagandaabteilung charismatische Fähigkeiten angedichtet. Gleichwohl hält Herbst die sozialwissenschaftlichen Überlegungen von Max Weber zum Charisma als geeignet, den Aufstieg Hitlers und seinen Erfolg zu untersuchen. Herbst interpretiert Charisma im Sinne Max Webers als »Sozialbeziehung«. Charisma ist somit keine menschliche Fähigkeit, die ein Einzelner besitzt oder eben nicht, wie beispielsweise Redebegabung, sondern es bedarf mindestens zweier Personen.

Eine charismatische Herrschaft ist dann gegeben, wenn eine Persönlichkeit durch eine als außeralltäglich geltende Qualität als charismatisch bewertet wird und eine soziale Beziehung zwischen dieser Persönlichkeit und anderen hergestellt wird, welche die­se Bewertung teilen und bereit sind, vom Charismaträger Befehle anzunehmen, sich also in die Rolle des charismatisch Beherrschten zu begeben. Herbst verweist darauf, dass Weber mit den Verben »gelten«, »werten« und »glauben« intersubjektiv vermittelte subjektive Urteilskriterien nennt, die sich schwer wissenschaftlich operationalisieren lassen. Entweder man glaubt an die charismatischen Fähigkeiten einer Person – in dem Fall Hitler – oder eben nicht!

Herbst fokussiert seine Untersuchung auf die Zeit vor der Machtübergabe an Hitler am 30. Januar 1933. So ist spätestens ab der Machtübergabe der Personenkult um Hitler in der NSDAP als ein wesentliches Element in der Staatspropaganda eingespielt. Wo sind also die Ursprünge der Geburt von Hitlers Charisma? Herbst geht mit den Entwicklungen der »Neuen Faschismustheorien« mit.

Diese sind mit dem Ziel angetreten, einen vergleichenden idealtypischen Faschismusbegriff zu kreieren, welcher über den 8. Mai 1945 hinaus gültig bleibt. Ganz wesentlich dabei ist das Postulat, »die Faschisten ernst zu nehmen« in ihrem Bemühen um eine »Revolutionierung« der Gesellschaft. Damit werden sie als eigenständige Akteure mit eigenen utopischen Gesellschaftsvorstellungen begriffen. Gerade der Aspekt der Erwartung der umzusetzenden Utopie und Revolutionierung ist für Webers Charismakonzept von Bedeutung. Die »Neuen Faschismustheorien« beobachten ihr Forschungsobjekt in der Bewegungsphase und nicht in der Regimephase.

Herbst nimmt sich in seinem Buch der gesamten Biographie Hitlers an. Sein Augemerk liegt dabei auf den Begebenheiten, die Hitler zu einem charismatischen Führer haben werden lassen. Dies ist zum Beispiel die Form des Kunstgenusses, die Hitler in seinen Wiener Jahren mit Begeisterung auslebte. So sieht Herbst gerade in Hitlers Begeisterung für besonders pompöse Architektur, »heroische Bühneninszenierungen und ihre grandiosen Kulissen«8 sowie Wagners Opern den Schlüssel zu dessen erfolgreichen Inszenierungen als Redner. Hitler kopierte diese dem Theater entstammenden Aufführungsformen in die Politikvermittlung des völkischen Milieus. Er betrieb erfolgreich, erst als Unterhalter und Propagandaredner, dann als »Führer«, das was in die Faschismustheorie als »Ästhetisierung der Politik« einging. Diese persönliche Liebe zur Ästhetik des Heroischen befähigte Hitler, sich selbst in der Rolle des charismatischen Führers zu gefallen und diese authentisch zu vermitteln.

Hitler trat als ungewöhnlicher Typus des »Künstler-Politikers« in Erscheinung, welcher Politik mit der bei seinem Vorbild Richard Wagner abgeschauten Monumentalorchestrierung betrieb. Hierbei nahm er zugleich die Rolle des Hauptdarstellers und Regisseurs ein.

Bezogen auf die Zeit vor seiner Herrschaft wird Hitler von Herbst als ziemlich unpolitische Person geschildert. Vielmehr erfuhr er im Ersten Weltkrieg charismatische Situationen der Bewährung bei anderen, zum Beispiel dem deutschen »Oberbefehlshaber Ost« Paul von Hindenburg. Wäre Hitler ein aktiver antibolschewistischer und antimarxistischer Fanatiker gewesen, hätte er sich nach dem Ende des ersten Weltkrieges den Freikorpsverbänden anschließen können. Gleiches zeigt die Tatsache, dass er 1918/1919 nicht in einem der zahllosen antisemitischen Verbänden organisiert war. Stattdessen ging es ihm um die Existenzsicherung durch Entgehung der Demobilisierung in der Reichswehr, was ihn zum V-Mann der Reichswehr werden ließ.

Herbst kommt zu dem Schluss, dass Hitler kein Charismatiker war, sondern durch »Charismapolitik« an die Stelle des Führers gehoben wurde. »Charismapolitik« läuft strategisch darauf hinaus, »in einer unübersichtlichen, differenzierten und komplexen Welt den Eindruck der Unmittelbarkeit/Direktheit zu etablieren, die in bestimmten Notlagen Handlungsfähigkeit herstellt oder suggeriert«9 .

Was bleibt?

Eine Persönlichkeit kann noch so »charismatisch« sein, es braucht eine Bevölkerung, die sich darauf einlässt. Antifaschistische Aufgabe sollte es daher sein, Menschen gegenüber einer solchen Erwartungshaltung zu immunisieren. In diesem Sinne kann fortschrittliche Politik Menschen in den Zustand versetzen, ihre persönliche Situation selbst zu beeinflussen bzw. zusammen mit  Mitmenschen die Gesellschaft zu verändern.

  • 1Frankfurter Rundschau 3. März 2013: »Ära Haider geht zuende«
  • 2Herbst 2010 S.11
  • 3Ausnahmen bilden die Bundesländer Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern sowie einige Wahlergebnisse bei kommunalen Wahlen vor allem in der Provinz, wo die NPD die 5 Prozent Hürden knacken kann.
  • 4Suggestion bedeutet manipulative Beeinflussung
  • 5Vgl. Cancik / Gladikow / Laubscher 1990 S. 197
  • 6 a b Vgl. Weber 1980 S. 140
  • 7Vgl. Herbst: 2010 S. 25
  • 8Herbst: 2010 S. 80
  • 9Herbst: 2010 S. 283