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Die Totgeschwiegenen Libyens

Einleitung

Die Flüchtlingspolitik in Lybien ist auch geprägt von Menschenhandel, Erpressung und Folter. Trotzdem erhielten die Strukturen vor Ort EU-Unterstützung.

Das YouTube Video "Full incident of 06 November 2017 with the Libyan Coast Guard" von Sea Watch e.V. machte die Zustände vor der Küste Lybiens öffentlich.

In Sabratha herrscht Ahmad al-­Dabbashi, auch „der Onkel“ (Amu) genannt mit seiner „Amu Brigade“. Dabbashi kontrolliert den Hafen, die Ölraffinerie sowie mehrere „offizielle“ Internierungslager in der Region. In Zawiya, einige Kilometer östlich gelegen, herrscht Mohammed Kachlaf mit seiner „al Nasr Brigade“. Auch er kontrolliert den Hafen, „beschützt“ die örtliche Raffinerie und führt mehrere „Auffanglager“, darunter das offiziell der Abteilung zur Bekämpfung illegaler Migration (DCIM - Department for Combating Illegal Migration) unterstellte Nasr-Lager.

Beide Männer vereint darüber hinaus, dass sie millionenschwere Schmuggleroperationen durchführen und wegen Verbrechen gegen die Menschheit sowie Menschenhandels von den „United Nations“ (UN) sanktioniert wurden. Auch Abd al Rahman al-Milad, genannt „al-Bija“, Kommandant der lokalen „Küstenwache von Zawija“, wurde sanktioniert. Al-Milads Truppe wird vorgeworfen, Schiffe mit Waffengewalt versenkt zu haben und die von ihm „Geretteten“ in das Nasr-Lager seines Unterstützers Kachlaf zu verbringen, von wo aus sie oft zurück an Menschenschmuggler verkauft werden.

Bereits 2017 berichteten Diplomaten des Auswärtigen Amtes in einem „Drahtbericht“ von „KZ-ähnlichen Verhältnisse[n]“ in den sogenannten „Privatgefängnissen“ libyscher Schmuggler.1 Die Hölle der Lager wird deutlich, wenn man die vielen Foltervideos und -fotos sieht, die Menschenschmuggler von Geiseln machen, um von deren Angehörigen hohe Lösegelder zu erpressen. Viele Geflüchtete versuchen über soziale Medien Unterstützung für die Lösegelder zu bekommen – wer nicht zahlen kann, wird umgebracht.

Doch auch in den „offiziellen“ Lagern sieht es nicht viel besser aus: Schläge, Folter, Vergewaltigungen, der Verkauf von Geflüchteten zurück an die Schmuggler. Das alles ist Alltag in den völlig überfüllten Lagern des DCIM, ebenso wie unhaltbare hygienische Zustände und medizinische Versorgung. Immer wieder bricht Tuberkulose aus, Menschen sterben an Blinddarmdurchbrüchen, Mangelernährung, Folter.

Weder die UN-Sanktionen noch ein erschreckendes Video der Sea Watch 3 vom November 20172 , auf dem der Geist der sogenannten „Küstenwache von Zawiya“ deutlich wird (mindestens fünf Menschen ertrinken, während die „Libyan Coast Guards“ (LCG) die Crew der Sea Watch 3 bedroht und an der Rettung Ertrinkender behindert), scheinen die EU davor abzuschrecken, geächtete Menschenschmuggler und -schänder weiter mit Millionen Euro, Training und Ausrüstung zu versorgen.

Solange nur der Strom Geflüchteter endlich zu einem Rinnsal wird...

Der Wandel von einer europäischen Rettungsmission zu einer libyschen Rettungsmission hat einen einfachen Grund: Ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte stellte bereits 2012 klar, dass von europäischen Schiffen Gerettete in einen sicheren Hafen verbracht werden müssen. Da Libyen offensichtlich kein sicheres Land ist, müssen Gerettete in den nächsten europäischen Hafen gebracht werden. Dieses Urteil gilt allerdings nicht für die LCG, welche Überlebende in Lager nach Libyen zurückbringt.

Da verwundert es nicht, dass die EU nicht nur die LCG unterstützt, sondern Italien angeblich auch Dabbashi direkt 5 Millionen Euro angeboten hat, sollte er mindestens einen Monat lang das Ablegen von Booten aus seinem Gebiet verhindern3 . Diese Deals, oft durch Geheimdienste realisiert und nicht belegbar, zeigen das Hauptziel der EU: Die Ankunft von Geflüchteten um jeden Preis verhindern.

Zwischen 2013 und 2014 rettete allein Italien im Zuge der Operation „Mare Nostrum“ der Europäischen Union über 100.000 Geflüchtete aus dem Mittelmeer. Trotz (oder wegen) dieses Erfolges wurde „Mare Nostrum“ Ende 2014 durch die wesentlich schwächer finanzierte Operation „Triton“ ersetzt, welche hauptsächlich die Küstengewässer der EU überwachte und nicht mehr bis in libysche Gewässer vordrang. Als Mitte 2015 vor Libyens Küste binnen weniger Tage tausende Menschen ertranken, wurde die EU-Marinemission „Sophia“ ins Leben gerufen, um weiter Schmuggler zu bekämpfen und endlich wieder Schiffbrüchige zu retten. Seit Beginn der Mission wurden mehr als 45.000 Menschen vor dem Ertrinken gerettet. Dennoch starben im Zeitraum 2015-2018 laut dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) etwas mehr als 14.000 Menschen auf der Mittelmeerroute, womit sie bis heute die tödlichste Fluchtroute weltweit ist.

Im März 2019 verhinderten die extrem rechten Regierungen Italiens, Polens und Ungarns eine europäische Einigung bezüglich der Einsatzregeln der Mission „Sophia“ sowie des Umverteilungsschlüssels für Geflüchtete in der EU. Als Konsequenz wurden die zwei letzten verbliebenen Schiffe abgezogen, die Mission „Sophia“ besteht nun nur noch aus sieben Aufklärungsflugzeugen und einem Trainingsprogramm für die sogenannten „libyschen Küstenwachen“ der „Libyan Coast Guards“  (LCG).

An diese beiden „Küstenwachen“, eine formell dem Innen-, die andere dem Verteidigungsministerium unterstellt, wurde spätestens seit Februar 2017 die Seenotrettung outgesourct, als Italien und die von der UN anerkannte libysche Übergangsregierung (Government of National Accord, GNA) eine Absichtserklärung unterzeichneten um „illegale Immigration“ und Menschenhandel zu bekämpfen. „Improved Migration Management“ wird das im EU-Sprech genannt. Über den „Trust Fund for Africa“ hat die EU seit 2014 mehr als 300 Millionen Euro bereitgestellt, um die Flucht von Libyen übers Mittelmeer zu verhindern. Davon erhielt die LCG über 90 Millionen Euro.4

Obwohl die LCG formell der GNA unterstellt ist, zeigt sich besonders am Beispiel der anfangs beschriebenen Städte Sabratha und Zawiya im Nordwesten Libyens, nur wenige 100 Kilometer von Lampedusa entfernt, das Problem des ins Bürgerkriegsland Libyen outgesourcten Grenzschutzes: „Warlords“.

Genau die Schmuggler, welchen das „Geschäftsmodell“ zerstört werden sollte5 , werden nun von der EU zu Partnern stilisiert. Marktführende Menschenhändler werden im Rahmen der gegen Menschenschmuggel kämpfenden Mission „Sophia“ ausgebildet, ausgerüstet und bezahlt. Legitimiert wird diese absurde Praxis mit der stetigen Abnahme der Ankünfte von Geflüchteten übers Mittelmeer. Das Mantra der EU: Seht auf die Zahlen. Das System funktioniert. Die LCG sind verlässliche Partner.

Zwar sank die Gesamtzahl der im Mittelmeer Ertrunkenen absolut, doch die sogenannte „Todesrate“ steigt jährlich an, von 1 Toten pro 269 Ankünften 2015 auf 1 Toten pro 51 Ankünfte 2018. Dieser Anstieg der „Todesrate“ folgt der Kriminalisierung der zivilen Seenotrettung, der systematischen Abschaffung EU geführter Seenotrettung und des Aufbaus einer korrupten und mordenden „libyschen Küstenwache“.

Der Kreislauf des Todes wird dadurch nur schlecht verschleiert. Bislang gibt es keine Statistiken darüber, wie viele Menschen in libyschen Lagern gestorben sind, wie viele Menschen gefoltert und missbraucht wurden. Christoph Hey von Ärzte ohne Grenzen nennt es eine „beliebige Internierung6 – weder gibt es eine Rechtsgrundlage, noch einen einheitlichen institutionalisierten Prozess für die Internierung vieler tausender Geflüchteter. Und somit auch niemanden, der das System Libyen hinreichend kontrollieren könnte.

Anstatt endlich die LCG als das zu bezeichnen, was sie ist – eine brutale Bande Menschenhändler – werden lediglich einzelne Lager in Libyen geschlossen und einige Internierte „freiwillig“ nach Nigeria oder Ruanda „umgesiedelt“. Das System des Abfangens tausender Geflüchteter in Libyen, weit weg vom europäischen Festland, erscheint wie der wahr gewordene Traum aller extrem rechten Innenminister Europas; die Folterlager erscheinen wie reale Albtraum-Ankerzentren. „Die Migrationskrise wird in Afrika bewältigt“ sagte Thomas de Maizière 2017. Und das wird sie um jeden Preis.