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Die Rolle der District Attorneys in den USA

Maresi Starzmann
Einleitung

Eine Gefängnisstrafe, die im deutschen Justizsystem oft als ultima ratio, also als letztes Mittel, betrachtet wird, ist in den USA meist die erste Lösung. Wenn der_die Angeklagte schwarz ist, ist die Wahrscheinlichkeit noch um ein vielfaches höher. Bezirksstaatsanwälte_innen (District Attorneys) tragen mit ihren Entscheidungen hinsichtlich der Art der Anklage und des Strafmaßes, aber auch der Höhe der Kaution und vieler anderer Aspekte eines Strafprozesses wesentlich zu dieser Situation bei.

USA Rassismus
(Foto: risingthermals; CC BY-NC-ND 2.0)

Die Vereinigten Staaten sind eine „Gefängnisnation“, in der, laut Prison Policy Initiative1 , derzeit 1,9 Millionen Menschen in über 6.000 Einrichtungen festgehalten werden. Diese extrem hohe Anzahl an Inhaftierten ist der Tatsache geschuldet, dass das amerikanische Justizsystem darauf ausgerichtet ist Menschen wegzusperren – und zwar für lange Zeiträume und ohne die Möglichkeit auf Bewährung.

Anders als in anderen Ländern, wo mehr Augenmerk auf Resozialisierung gelegt wird, zielt das US-Justizwesen auf Bestrafung und Vergeltung ab. Das Recht wird dabei keineswegs auf alle Menschen gleichermaßen angewendet. Die Mehrzahl der fast zwei Millionen Inhaftierten in den USA ist nämlich nicht weiß. Nach Angaben des Zensus in den USA werden landesweit schwarze Menschen fünf Mal so häufig inhaftiert wie weiße. In manchen Staaten wie New Jersey ist dies sogar 13 Mal häufiger der Fall. Diese Missverhältnisse in den Inhaftierungszahlen sind anteilig auf Bevölkerungszahlen berechnet, womit das gefährliche Argument, dass die Rate an kriminellen Aktivitäten unter Schwarzen einfach höher sei, nicht greift. Was dann erklärt die extremen Disparitäten zwischen Schwarzen und Weißen, die in den USA mit dem Strafjustizsystem in Kontakt kommen?

Rassistische Stereotype hinsichtlich der höheren Straffälligkeit schwarzer Menschen halten sich in den Vereinigten Staaten, wie auch andernorts, beständig. Ein Bericht des Sentencing Projects2 von 2021 legt dar, dass viele Amerikaner_innen schwarze Menschen mit Begriffen wie „gefährlich,“ „aggressiv,“ „gewalttätig,“ und „kriminell“ assoziieren. Diese Geisteshaltung beeinflusst auch die Akteure_innen des Strafjustizsystems nachhaltig in ihrer Praxis.

Am deutlichsten wird dies im Bereich der Polizeiarbeit. Hier werden immer mehr Vergehen geahndet, die nicht die öffentliche Sicherheit gefährden. Dass solche Polizeiarbeit in hohem Maße von „racial profiling“ motiviert ist, zeigen Statistiken zum umstrittenen „Stop-and-Frisk“-Programm in New York City. Laut einer Studie der American Civil Liberties Union3 sind die Mehrzahl der durchsuchten Personen nicht weiß. Zugleich erweisen sich fast neun von zehn Menschen, die zur Zielscheibe dieses Programms werden, als vollkommen unschuldig. Obwohl „Stop-and-Frisk“-Taktiken im Jahr 2013 von einer Richterin als verfassungswidrig eingestuft worden waren, werden diese auch heute noch großzügig von der New Yorker Polizei angewendet.

In den Augen vieler gilt die Polizei als eine der mächtigsten Einrichtungen innerhalb des Justizwesens der USA. Da der erste Kontakt mit dem Strafjustizsystem in der Regel über die Polizei erfolgt, wird diese auch vorwiegend für die große Zahl an Inhaftierungen verantwortlich gemacht. Doch noch andere Entscheidungsträger_innen haben im amerikanischen Justizwesen, vor allem im Bereich der Rechtssprechung, extreme Verfügungsfreiheiten: die Bezirksstaatsanwälte.

Obgleich ein gewähltes politisches Amt für vier Jahre, ist der amerikanischen Öffentlichkeit oft nicht bekannt, dass sich der volle Wirkbereich des District Attorney-Amtes auf fast alle Aspekte eines juristischen Falles nach der Verhaftung erstreckt. So entscheidet ein_e Bezirksstaatsanwalt_in, ob der Verhaftung überhaupt eine Anklage folgt und wenn ja, ob diese schwerer bzw. geringfügiger ausfällt als es der von der Polizei dokumentierte Tatbestand verlangt. Er_sie entscheidet auch, ob der_die Angeklagte vor dem Gerichtstermin auf Kaution freigelassen wird und wie viel Zeit er_sie im Gefängnis abzusitzen hat, wenn diese_r die Kaution nicht leisten kann.

Im Verlauf der letzten 25 Jahre wurde das Ermessen der Bezirksstaatsanwälte vor allem in letzterem Bereich immer größer. So sind die extrem hohen Inhaftierungsraten in den Vereinigten Staaten auch darauf zurückzuführen, dass gut ein Drittel aller Inhaftierten sich die Kaution nicht leisten kann und nun im Gefängnis auf den Verhandlungstermin wartet. Wie im Falle der Urteilsverkündung hat zwar auch beim Festlegen der Kaution ein_e Richter_in das letzte Wort. Doch leisten diese fast immer den Vorschlägen der Bezirksstaatsanwälte_innen Folge. Heute übersteigt die empfohlene Kaution vielerorts das Jahreseinkommen eines_r Angeklagten. Laut Prison Policy Initiative1 liegt die durchschnittliche Kaution für ein Schwerverbrechen („felony“) in den Vereinigten Staaten bei 10.000 US-Dollar, das Jahreseinkommen dagegen nur bei 15.000 US-Dollar. Zudem lassen sich in Hinblick auf die Höhe der Kautionssätze abermals starke Disparitäten für weiße und nicht-weiße Amerikaner_innen nachweisen. Der Zweifelssatz in dubio pro reo (lat. „im Zweifel für den Angeklagten“) hat in solch einem Rechtssystem also nur eine sehr eingeschränkte Gültigkeit.

In den letzten Jahren ist nun in den USA eine Bewegung erstarkt, die sich für eine Reformierung der Anklagebehörden ausspricht. Progressive Bezirksstaatsanwälte_innen, wie der aus der US-Fernsehdoku „Philly D.A.“4 bekannte Larry Krasner, setzten sich dafür ein, dass insgesamt weniger Menschen – und vor allem weniger people of color – in die Mühlen der Gesetzesmaschine geraten. Sie wollen ihre Macht verantwortungsvoll nutzen. So haben sich einige Bezirksstaatsanwälte_innen5 dazu entschieden, keine Anklage mehr zu erheben, wenn einer Verhaftung nur ein geringfügiger Gesetzesverstoß vorausgeht. Führt zum Beispiel ein Verkehrsvergehen wie abgelaufene Nummernschilder zu einer Verkehrskontrolle, Fahrzeugdurchsuchung und Verhaftung, so kann ein District Attorney den Fall ablehnen, solange die Verhaftung nichts mit dem eigentlichen Verkehrsvergehen zu tun hat – etwa wenn bei einer Fahrzeugdurchsuchung wegen abgelaufener Nummernschilder Drogen oder Waffen gefunden werden. Da der Großteil solcher sogenannter „non-public safety stops“ – also Verkehrskontrollen für Vergehen, die nicht die öffentliche Sicherheit gefährden – people of color betrifft, würde das Missverhältnis in den Inhaftierungsraten von Schwarzen und Weißen in den USA erheblich verringert werden, wenn solche Vergehen in Zukunft nicht mehr geahndet werden würden.

„Non-public safety stops“ sind in den USA auch der Hauptgrund für tödliche Interaktionen mit der Polizei, wie eine Untersuchung des amerikanischen Justizministeriums6 belegt. Dies macht deutlich, dass Polizeiarbeit die Gesellschaft keineswegs sicherer macht, ganz im Gegenteil. Somit sind die Rufe der „Defund the Police“-Bewegung in den Vereinigten Staaten mehr als berechtigt. Dennoch greift eine Kritik an der Polizei allein zu kurz. Der amerikanische Polizeiapparat kann schließlich nicht losgelöst vom Rest des Strafjustizsystems betrachtet werden, das vor allem der weißen Mehrheit dient, während es people of color sowie arme Menschen politisch marginalisiert. Auch wenn die erwähnte progressive Bewegung der Bezirksstaatsanwälte_innen keine nachhaltige Lösung sein mag, so kann sie doch, insbesondere durch die Verweigerung der Strafverfolgung, dazu beitragen, etwas Sand in das gut geölte Getriebe der amerikanischen Gesetzesmaschine zu streuen.