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Die NSU / NSDAP-CD aus Krakow am See

Der V-Mann Thomas Richter war an der Verbreitung einer "NSU/NSDAP-CD" beteiligt.
(Montage Screenshot gedenkseiten.de/Faksimile CD)

Der V-Mann Thomas Richter war an der Verbreitung einer "NSU/NSDAP-CD" beteiligt.

Campingplatz Krakow am See

Die Geschichte des "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) in Mecklenburg-Vorpommern (MV) begann in Krakow am See. Dort machte das spätere NSU-Kerntrio Anfang der 1990er Jahre auf einem Campingplatz Bekanntschaft mit jungen Rechten aus Rostock. Bis zum Abtauchen von Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe im Januar 1998 kam es zu regelmäßigen Treffen und gegenseitigen Besuchen – auf dem Campingplatz in Krakow am See, in Rostock und in Jena. Die Nächte verbrachten die Jenaer Neonazis an der Ostsee auch bei Markus B. (geb. H.) in der Pablo-Neruda-Straße im Rostocker Stadtteil Toitenwinkel. In Sichtweite zu ihrer früheren Schlafstätte ermordeten Mundlos und Böhnhardt am 25. Februar 2004 den jungen Mehmet Turgut in einem Imbiss.

Propaganda CD des NSU / NSDAP

Die zufällige Begegnung auf dem Campingplatz in Krakow am See könnte also ausschlaggebend für die spätere Tatortauswahl des NSU gewesen sein. Ob Zufall oder nicht: Die letzte bekannte Verbindung zum NSU in MV gab es in dieser Kleinstadt im Landkreis Rostock mit seinen knapp 3.500 Einwohner*innen. Als am 15. April 2014 Polizist*innen die Wohnung von Steve M. in der Krakower Ernst-Thälmann-Straße wegen Drogenverdachts durchsuchten, stießen sie neben einer kleineren Marihuana-Plantage und zwei Bajonetten auf eine CD mit der Aufschrift „Bilder... NSU M.“. Circa 20.000 antisemitische, rassistische, nazistische Fotos, Grafiken, Zeichnungen und weitere Abbildungen aus der Zeit des Nationalsozialismus und der jüngeren Vergangenheit füllen diese CD, die in einem Karton in der Wohnung gefunden wurde. In einer Art Begleitschreiben wird der Empfänger darüber informiert, dass es sich um „die erste umfangreiche Bilddaten-CD des Nationalsozialistischen Untergrundes der NSDAP (NSU)“ handelt, bevor der Autor mit den Worten schließt: „Heil Hitler! Nationalsozialistischer Untergrund der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei“.

Nicht gänzlich geklärt werden konnte bislang, wer für die Bildzusammenstellung, das Begleitschreiben und somit die Verwendung des Kürzels „NSU“ verantwortlich ist – Jahre bevor es der breiten Öffentlichkeit bekannt wurde. Die digitalen Spuren des Datenträgers deuten auf eine Erstellung des Datenträgers zwischen 2003 und 2006 hin, wobei eine letztmalige Bearbeitung noch vor der Selbstenttarnung des NSU erfolgt sein muss. Auch wenn die Herstellung der so genannten NSU / NSDAP-CD, im Folgenden NSU-CD, durch den langjährigen Spitzel des "Bundesamtes für Verfassungsschutz" mit dem Decknamen „Corelli“, Thomas Richter, nicht sicher belegt werden kann, ist seine Beteiligung an der Verbreitung kaum zu bestreiten.

Bereits im Sommer 2005 übergab er ein Exemplar seinem V-Mann-Führer, der es im Bundesamt archivierte. Neun Jahre später tauchten schließlich innerhalb von nur sechs Wochen drei weitere Exemplare auf, die sich vom Umfang und dem Inhalt teilweise etwas zum originalen Datenträger, eine DVD, unterschieden. Zunächst übergab eine V-Person Ende Februar 2014 dem Hamburger Verfassungsschutz eine Kopie dieser Propagandasammlung, die sie laut eigener Aussage 2005 oder 2006 per Post von "Corelli" erhalten haben will. Nicht einmal einen Monat später und nur wenige Wochen vor dem Fund in Krakow am See wurde im März eine NSU-CD in Sachsen im Rahmen des Verbotsverfahrens gegen die „Nationalen Sozialisten Chemnitz“ bei Maik A. sichergestellt. In kürzester Zeit tauchten somit mehrere Exemplare der NSU-CD in Bundesländern auf, in denen der NSU lebte oder mordete. Die BfV-Quelle Thomas Richter konnte zu diesen Vorgängen nicht mehr befragt werden. Er wurde am 7. April 2014 nach einem Zuckerschock tot in seiner Wohnung im Zeugenschutzprogramm aufgefunden.

Für das Parlamentarische Kontrollgremium des Bundestags war dies Anlass genug, den Sachverständigen Jerzy Montag mit einer Untersuchung der V-Mann-Tätigkeit von Thomas Richter und seinen Verbindungen in den NSU-Komplex zu beauftragen. Man könnte den Eindruck gewinnen, dass der Spitzel nicht nur einmal da war, wo das Kürzel NSU auftauchte. So notierte Uwe Mundlos seine Kontaktdaten auf einer Liste mit Szenevertrauten, die im Januar 1998 in der zur Bombenwerkstatt umfunktionierten Garage in Jena zwar gefunden, im Rahmen der Fahndung fatalerweise jedoch nicht weiter durch die Ermittlungsbehörden beachtet wurde. Im Juni 2006 beendete „Corelli“ im „Thiazi-Forum“ unter seinem User-Namen „Geheimkult“ einen Beitrag mit den Worten „In diesem Sinne: Heute ist nicht aller Tage...“, was als Bezugnahme auf "Paulchen Panther", dem „Erzähler“ aus dem NSU-Bekennervideo, gedeutet werden kann.

Auch im Zusammenhang mit dem Fanzine „Der Weisse Wolf“ von David Petereit, das eine beträchtliche Spende durch den NSU erhielt und sich in der 18. Ausgabe an prominenter Stelle bei dem rechtsterroristischen Netzwerk bedankte, spielte Richter eine Rolle. So stellte er auf mehreren seiner Domains dem Propagandablatt Online-Speicherplatz zur Verfügung, um es vor erneuten Löschungen zu schützen. Wie "nsu-watch" im März 2023 vom NSU-Untersuchungsauschuss in MV berichtete, schrieb David Petereit im Jahr 2000 eine Mail an Thomas Richter, die in dem Kontext relevant sein könnte: "David Petereit schrieb an Thomas Richter, wenn er Bilder habe, solle er sie ihm schicken, zum Beispiel auf eine CD-ROM brennen, er wolle sie für eine 'Art Propaganda-CD' benutzen."

Der Sachverständige Jerzy Montag wies zudem auf eine bemerkenswerte Parallele zwischen dem „Der Weisse Wolf“-Fanzine und der NSU-CD hin. Als Cover der benannten Ausgabe des Fanzines diente eine Fotografie Adolf Hitlers als Kleinkind, welche sich in Heinrich Hoffmanns Buch „Hitler wie ihn keiner kennt: 100 Bilddokumente aus dem Leben des Führers“ befindet. Als Booklet-Titelbild der NSU-CD diente wiederum eine ebenfalls in Hoffmanns Buch abgedruckte Darstellung von zwei ineinandergreifenden Händen. Inwiefern es sich um einen Zufall handelt, dass zwei Medien, die das Kürzel NSU lange vor der Selbstenttarnung öffentlich benennen, mit Darstellungen aus demselben Buch bebildert werden, konnte bislang nicht geklärt werden.

"Mobbi" und die NSU-CD

Zur NSU-CD in Krakow am See und dem Besitzer ist nur wenig bekannt. Weder der Sachverständige des Parlamentarischen Kontrollgremiums, Jerzy Montag, noch der NSU-Untersuchungsausschuss in MV lieferten bislang substanzielle Erkenntnisse zu möglichen Verstrickungen in den NSU-Komplex. Der Generalbundesanwalt, der alle Ermittlungen im Zusammenhang mit dem NSU-Netzwerk zentral an sich zog, schob den Fall Krakow am See in das „Unbekannt-Verfahren“. Dieses „Unbekannt-Verfahren“ enthält jene Vorgänge, die aus dem NSU-Prozess vor dem OLG München und den neun weiteren Verfahren gegen namentlich bekannte mutmaßliche Unterstützer und Unterstützerinnen ausgelagert wurden. Insbesondere von Nebenklagevertreter*innen im Strafverfahren gegen Beate Zschäpe, Ralf Wohlleben usw. wurde wiederholt beklagt, dass dieses Verfahren als "Blackbox" der Bundesbehörden diente, um unerwünschte Akten „verschwinden“ zu lassen, den Verfahrensbeteiligten vorzuenthalten und schlussendlich die Aufklärung des NSU-Komplexes zu behindern.

Vor diesem Hintergrund bleibt es unklar, unter welchen Prämissen und welcher Zielstellung das BKA Ermittlungen zu Steve M. durchführte. In mehreren Vernehmungen gab Steve M. an, nichts über die Herkunft der NSU-CD sagen zu können. Auch mit der rechten Szene will er nichts zu tun gehabt haben. In den Befragungen, zu denen er offenbar nur widerwillig erschien, bezeichnete er die Frage nach seiner politischen Gesinnung als „affig“. Dem Staats- und Verfassungsschutz scheint der 1980 geborene Steve M. vor und nach dem Auffinden der CD tatsächlich unbekannt geblieben zu sein. Seit seinem Jugendalter ist er lediglich wiederholt wegen verschiedener (Gewalt-) Delikte aufgefallen, die auch unter starken Alkoholeinfluss stattfanden. Ebenso liegen keine Hinweise auf eine strukturelle Einbindung in die örtliche rechte Szene im Landkreis Rostock vor, wobei er sich über knapp zehn Jahre hinweg häufig zur Arbeit in Norwegen aufhielt. Dennoch deuten einzelne Aspekte darauf hin, dass ihm die aufgefundene NSU-CD persönlich gehörte und ihm zumindest eine Nähe zu rechtem Gedankengut unterstellt werden kann.

Sowohl sein Notebook als auch eine externe Festplatte waren mit Aufklebern des rechten Modelabels „Thor Steinar“ beklebt. Ob bei der Durchsuchung wegen des Anbaus von Marihuana nach weitergehenden Indizien, Devotionalien oder Kleidungsstücken der rechten Szene gesucht wurde, darf bezweifelt werden. Bei der Auswertung der beschlagnahmten Computertechnik wurde jedoch ein Ordner mit der Bezeichnung „Oi-Musik“ festgestellt, der auch Neonazi-Musik enthalten haben soll. Steve M. brachte in seinen Vernehmungen die Möglichkeit ins Spiel, dass andere Personen die rechte Musik auf den Rechner gespielt und auch die NSU-CD neben den Computer abgelegt haben könnten. Dieser habe sich im Gemeinschaftsraum des gemeinsamen Hauses circa 60 Kilometer südwestlich von Oslo im norwegischen Steinberg befunden. Neben Gästen hätten somit auch seine ehemaligen Mitbewohner Christian K. und Danny B., die ebenfalls aus dem Raum Güstrow/ Krakow am See stammen und mit denen er gemeinsam in einem Betonwerk arbeitete, Zugriff gehabt. Steve M. scheint allerdings kein großes Interesse daran gehabt zu haben, diese Version von seinen ehemaligen Mitbewohnern bestätigen zu lassen. Als er vom BKA im Mai 2014 nach der Telefonnummer seiner Mitbewohner gefragt wurde, gab er an, zu diesen schon ewig kein Kontakt mehr gehabt zu haben. Sein ehemaliger Mitbewohner gab in seiner späteren Vernehmung allerdings freimütig zu Protokoll, dass sie sich zuletzt beim Osterfeuer in Krakow am See, also nicht mal einen Monat zuvor, getroffen und sich dabei auch über die Durchsuchung unterhalten hätten. Schlussendlich bestritten beide, etwas mit der NSU-CD und der rechten Musik auf dem Rechner zu tun zu haben, denn dieser habe Steve M. gehört. Offen blieb nach allen Befragungen jedoch, ob sie in Deutschland mit rechten Personen verkehrten oder diese in ihrem Haus in Norwegen empfingen.

Fraglich bleibt zudem, wer die CD zu welchem Zeitpunkt mit „Bilder...“, „NSU“ sowie „M.“ beschriftet hat. Da beide Mitbewohner bestritten, diese CD besessen zu haben, könnte das „M.“ auf den Spitznamen von M. „Mobbi“ hinweisen. Doch die Beschriftung der gebrannten CD wirft weitere Fragen auf, denn sowohl auf dem Cover als auch im Begleitschreiben sind die Kürzel NSU und NSDAP zu lesen. Die Kopie, die bei M. aufgefunden wurde, trägt hingegen nur die Letter NSU, obwohl vor November 2011 dem Gros der Neonaziszene „NSDAP“ das bekanntere der beiden Kürzel gewesen sein sollte. Ob dies eher dafür spricht, dass die CD aus dem engeren Umfeld des NSU-Kerntrios heraus verbreitet wurde oder das Propagandawerk unter positiver Bezugnahme auf den NSU und seine Taten nach der Selbstenttarnung erneut vervielfältigt und verbreitet wurde, kann hier nicht beantwortet werden.

Nichtsdestotrotz und trotz vieler ungeklärter Fragen im Fall von Krakow am See ist die CD ein weiteres Indiz dafür, dass der NSU innerhalb der extrem rechten Szene weit vor der Selbstenttarnung im November 2011 bekannt gewesen ist – möglicherweise noch nicht als mörderisches Netzwerk, aber zumindest als Chiffre für kampfbereite Kameraden und Kameradinnen im Untergrund.