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Die Kampagne „EntnazifizierungJetzt“

"Antifa AG" der "Interventionistischen Linken Berlin" (Gastbeitrag)
Einleitung

Die Kampagne „EntnazifizierungJetzt“ veröffentlicht Rechercheergebnisse zu über 800 Skandalen bundesweit mit Neonazis und Rassist:innen in den „Sicherheitsbehörden“ und schlägt Alarm.

Schild NSU Aufklärung
(Foto: Christian Ditsch)

„Staat und Nazis Hand in Hand“

Im Juni 2014 entfernt die Berliner Polizei die Aufschrift „NSU: Staat & Nazis Hand in Hand“ von einem Wandbild in Berlin Kreuzberg. Es erinnert an die Anschläge des Terrornetzwerkes „NSU“ und an seine Verstrickungen mit staatlichen Organen. Für die Polizei eine Beleidigung: Sie stellt Strafanzeige wegen Verunglimpfung des Staates. Dass sie die Auseinandersetzung vor Gericht verliert, ist nur ein schwacher Trost.

Auch heute ist die Aussage noch immer wahr. Sie müsste vor hunderten Polizeidienststellen, Gerichten, Kasernen oder dem BND und Dependancen des VS stehen; und würde doch nur in Ansätzen das Ausmaß des Problems aufzeigen. Die Selbstenttarnung des „NSU“ und die folgende gesellschaftliche (Nicht)Aufarbeitung haben gezeigt: Staatlichen Behörden, die Ermittlungen verschleppen, Akten vernichten oder gesperrt haben, ist nicht zu trauen. Statt aufzuklären wurde alles getan, um das V-Leute System zu schützen.

Der Antifaschistischen Bewegung hat der NSU-Komplex ihre Leerstellen und allzu naiven Vorstellungen drastisch vor Augen geführt. Trotz des Wissens über die mörderischen Pläne der Neonazis, die Waffen, die Trainings oder den Sprengstoff war sie nicht in der Lage, es mit den Morden und Bombenanschlägen in Verbindung zu bringen. Sie hat den Betroffenen nicht zugehört und keine Zusammenarbeit gesucht – und versäumte es, die Anschläge als das zu erkennen, was sie waren. Für uns als Antifaschist:innen bleibt die Erkenntnis, dass der „NSU“ Ausdruck eines gesellschaftlich tief verankerten Rassismus ist, dem auch wir unterliegen.

Von rechter Propaganda bis zum Tod in Gewahrsam

In den vergangenen zweieinhalb Jahren haben wir mehr als 800 Skandale mit Neonazis und Rassist:innen in den „Sicherheitsbehörden“ gesammelt, online veröffentlicht und die Rechercheergebnisse nun in einer Broschüre gebündelt. Wir sind überzeugt, das ist nur die Spitze des Eisberges. Wir konnten nachweisen: Diese Skandale ziehen sich wie ein brauner Faden von der verpassten Entnazifizierung bis heute durch die Geschichte der Bundesrepublik.

Allein die Quantität ist erschreckend. Und das, obwohl wir nur einen Bruchteil auswerten konnten. Die Skandale betreffen alle „Sicherheitsbehörden“. Neonazis und Rassist:innen nutzen sie für ihre Ziele in reichlicher und verschiedenartiger Weise. Hier nur einige Beispiele: Der sächsische Justizangestellte Zabel, der gemeinsam mit anderen Angestellten migrantische Gefangene verprügelt. Der Zwickauer Revierleiter Mittmann, der Informationen über ein multikulturelles Volksfest an die AfD weitergibt und es so verhindert. Die Frankfurter Polizist:innen des 1. Reviers, die sich in der Chatgruppe „Itiotentreff“ rassistische Bildchen und Hakenkreuze zuschicken und in den NSU 2.0-Skandal verwickelt sind. Der Mitarbeiter des „Militärischen Abschirmdienst“, der einen Neonazi-Soldaten vor einer Razzia warnt. Die Richter, die einen lebensgefährlichen Angriff von Neonazis auf zwei Journalisten als harmlose Auseinandersetzung werten, an der irgendwie die Opfer auch selbst Schuld seien. Gebirgsjäger, die Hinrichtungs-, Folter- und Vergewaltigungsszenen nachspielen. Eine ganze SEK-Einheit, die wegen extrem rechter Chats aufgelöst werden muss, von der – wie später herauskommt – 13 Beamte beim rechtsterroristischen Anschlag in Hanau eingesetzt waren.

Jeder dieser Skandale ist einer zuviel. Jeder einzelne Skandal stellt eine Bedrohung insbesondere für das Leben von Schwarzen, Indigenen, People of Color, Sintizze, Romnja, von (post-)migrantischen, jüdischen und auch von wohnungs- und obdachlosen Menschen dar. Verantwortliche versuchen das Problem - teilweise mit dubiosen Statistiken und Studien - kleinzureden oder gar zu leugnen. Mit der sogenannten „Einzeltäter“-These und dem Narrativ, „Sicherheitsbehörden“ seien nur ein Spiegelbild der Gesellschaft, muss Schluss sein.

Die Behörden waren und sind niemals nur ein Spiegel der Gesellschaft. Ganz im Gegenteil sammeln sich gerade hier Personen mit autoritären und reaktionären Ideologien. Sie finden Gefallen an Uniformen, Waffen und Macht. In den von Polizei und Militär selbsternannten „Eliteeinheiten“ herrscht nicht selten ein reaktionärer bis faschistischer Korpsgeist. Denken wir z.B. an das KSK oder an diverse SEK-Einheiten, die in Teilen wegen rechter Umtriebe aufgelöst werden mussten.

Wir alle sitzen auf einem Pulverfass

Neonazis und Rassist:innen in den „Sicherheitsbehörden“ agieren in Netzwerken und Strukturen, die historisch gewachsen und jeder demokratischen Kontrolle entzogen sind. Egal, ob das von ihnen organisiert ist oder quasi natürlich funktioniert. Sie sind brandgefährlich, weil sie oft über privilegierten Zugang zu Waffen, über spezielle militärische Kenntnisse, sensible Informationen zu ihren Gegner:innen und vor allem über staatlich legitimierte Gewalt verfügen. Leider sind sie durch Geheimhaltung, Staatsanwaltschaften und Gerichte allzu oft vor Strafverfolgung geschützt.

Die AfD, die in den Startlöchern für die Machtübernahme sitzt, baut ihnen die moralische Brücke in ein neofaschistisches Deutschland. Nicht ganz zufällig werben sie gezielt Beamt:innen an. Höcke und Co.ermutigen Staatsbeamt:innen aus ihren eigenen Reihen dazu, sich entgegen ihrer Verpflichtung nicht mehr dem Staat gegenüber loyal zu verhalten, sondern das imaginierte deutsche Volk vor dem Untergang (und die AfD vor der staatlichen Beobachtung) zu beschützen.

Genauso dachten die Soldaten, Polizisten und Verfassungsschützer, die sich im „Hannibal“-Netzwerk zusammentaten. Sie arbeiteten auf einen neofaschistischen Putsch hin, entwendeten und horteten Waffen und Munition, trainierten für den Ernstfall und legten sogenannte Feindeslisten an. Die Leichensäcke lagen schon bereit. Ermittlungsbehörden und Gerichte sorgten dafür, dass dieses terroristische Netzwerk nie vollständig aufgeklärt und dessen Mitglieder immer noch oder wieder auf freiem Fuß sind. Viele von ihnen arbeiten erneut in den „Sicherheitsbehörden“. Sie werden sich diesmal nicht so leicht erwischen lassen.

Heute - mehr als elf Jahre nach dem „NSU“ - hat sich nichts geändert. Neonazis und Staat arbeiten Hand in Hand. Wir alle sitzen auf einem Pulverfass. Dennoch scheint es so, als würde die Aufmerksamkeitsspanne nach jedem aufgedeckten Skandal immer kleiner. Macht die antifaschistische Bewegung wieder die gleichen Fehler und nimmt die Bedrohung nicht ernst?
Es fehlt uns an kontinuierlicher politischer Arbeit zu den „Sicherheitsbehörden“, vergleichbar zu solch antifaschistischer Arbeit wie es sie zur NPD und AfD gibt. Die Beobachtung von Neofaschisten in den Behörden sowie den gefährlichen Eigenlogiken der Behörden ist bisher nur ein Thema für wenige Spezialist:innen, Initiativen und Journalist:innen. Dabei wäre es dringend an der Zeit, dieses Wissen zu verbreiten und den Staat stärker in den Fokus zu nehmen. Dazu ist es zentral, dass wir denen, die von Racial Profiling, Rassismus und Gewalt durch Behörden und Justiz betroffen sind, zuhören und uns gemeinsam organisieren. Denn für jene, die ihre Haut nicht einfach wechseln können wie einen Kapuzenpullover, ist das Problem mit rassistischen Behörden und ihren rechten Tätern nicht nur längst bekannt, sondern gehört zum alltäglichen Kampf – und das nicht erst seit Bekanntwerden des „NSU“.

Unsere Broschüre „EntnazifizierungJetzt“ soll einen kleinen Beitrag zur Wissenserweiterung über Nazis und Rassist:innen in den „Sicherheitsbehörden“ geben. Wir schicken sie euch gerne zu: info [at] EntnazifizierungJetzt.de