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Der VS in Thüringen – Von Skandal zu Skandal

Einleitung

Am 15. Dezember 2011 besetzten linke Aktivist_innen das Foyer des Thüringer VS und forderten die Auflösung der Behörde. Schon gute 10 Jahre vorher, im Mai 2001, hatte in der Haarbergstraße in Erfurt eine Kundgebung unter dem Motto »Alle reden von Nazis. Wir bezahlen sie« stattgefunden.1 Die Behörde beharrt nach wie vor darauf, dass es in Thüringen vor allem ein Problem mit Antifaschismus gibt.

Helmut Roewer, von 1994 bis 2000 Präsident des Thüringer Landesamtes für Verfassungsschutz.

Der erste Präsident des Thüringer Verfassungsschutzes war der 1994 ernannte Helmut Roewer, dessen Amtsführung auf Wikipedia als »exzentrisch« charakterisiert wird. In seiner Amtszeit wurde der HERON-Verlag als Tarnunternehmen des Thüringer VS gegründet. Roewer selbst trat unter dem Namen Stephan Seeberg als Geschäftsführer auf und ließ dem Verlag aus dem Etat des Landesamtes großzügige Mittel für zweifelhafte Aufträge zukommen1 . Was aus dem Geld des Verlags geworden ist, wurde nie aufgeklärt. Die Presse spekulierte über inoffizielle Quellen – dabei waren die Zahlungen an offizielle Zuträger des Dienstes schon skandalös. So sind die 200.000 DM, die Tino Brandt – später NPD-Landesvize – in den 1990er-Jahren für Spitzeldienste erhalten hatte, in den Aufbau des »Thüringer Heimatschutz« geflossen.

Wie exzentrisch Roewer war, lässt sich besonders am »Monat im Amt« ablesen, Roewers dienstlichem Tagebuch, abgedruckt in den Monatsberichten der Behörde, die freiherzigere Lageeinschätzungen enthielten als der VS-Jahresbericht. Darin schützt der Amtschef z.B. seine Heimatstadt Weimar vor ungerechtfertigten Anschuldigungen: »Weimar, Theaterplatz am Nachmittag: Einige Jugendliche hängen rum und trinken Bier aus Büchsen. Aber wo sind die von der Presse gefeierten Nazis?«2 .

Wer Neonazis in Thüringen fand, musste sich einiges gefallen lassen. Dem Journalisten Rainer Fromm, der im Auftrag der Landeszentrale für Politische Bildung einen Film über die extreme Rechte in Thüringen gedreht hatte, warf Roewer vor, eigens für die Berichterstattung Neonazi-Aktionen inszeniert zu haben3 . Der damalige DGB-Landesvorsitzende Frank Spieth wurde im Monatsbericht erwähnt, weil er beim 9. antirassistischen/antifaschistischen Ratschlag – der Tagung der breit aufgestellten LAG Antifa – gesprochen hatte4 . Die Abneigung gegen den Gewerkschafter Angelo Lucifero ging so weit, dass der V-Mann Thomas Dienel (Ex-Deutsche Sexliga, Ex-NPD, Ex-DNP) nach eigenen Angaben aus VS-Mitteln eine Kampagne gegen den engagierten Gewerkschafter finanzieren konnte. Lucifero hatte zahlreiche antifaschistische Demonstrationen angemeldet und immer wieder darauf hingewiesen, dass es in Thüringen ein massives Neonazi-Problem gibt. Der Kommentar dazu im »Monat im Amt«: »eine Kampagne linksextremistischer Politclowns [...], der wie so oft der Realitätsbezug fehlt«5 .

Wie man stattdessen mit Neonazis umgehen solle, zeigte der CDU-Landtagsabgeordnete Reyk Seela 2000 in einem im Auftrag des schon erwähnten HERON-Verlags hergestellten Film »Jugendlicher Extremismus mitten in Deutschland – Szenen aus Thüringen«6 . Der Film verhandelt Neonazigewalt als pädagogisches Problem und gibt neben Helmut Roewer und dem damaligen Ministerpräsidenten Bernhard Vogel bekannten Neonazigrößen ein Forum zur Selbstdarstellung. Wie sehr das Amt sich dagegen sperrte, die Dimension des Neonazismus in Thüringen anzuerkennen, belegt die Einschätzung zu einem rechten Bombenbastler7 : »28. September 1998. Sprengstoffexplosion in Jena. Der Täter ist das Opfer, von dem nur ein Finger übrig bleibt. [...] Ein gefährlicher Spinner. Jedes Blatt Papier wird dreimal umgewendet – eine Verbindung nach rechts ergibt sich nicht.«8 Im März 2000 musste das Amt diese Einschätzung revidieren. Nun hieß es – kaum weniger vorbei an der Realität – in einem Grundsatzreferat über Rechtsextremismus: »Das Bild wird abgerundet durch eine Anzahl nicht zu unterschätzender Einzeltäter und Kleinstgruppen, deren ideologischer Ansatz in erster Linie die Aktion ist. Hierzu gehören die Bombenbauer von Jena, die Uwe Mundlos, Uwe Böhnhard (sic!) und Beate Tschäpe (sic!) heißen, sie sind im Februar 1998 untergetaucht. Hierzu gehörte auch ein weiterer Jenaer, er sprengte sich bei einem Bombenbauversuch selbst in die Luft.«9

Im Juni 2000 wurde Roewer vom Innenminister suspendiert10 . Es dauerte noch fünf Jahre, bis die Hauptverhandlung im Prozess wegen der finanziellen Unregelmäßigkeiten im Amt beginnen konnte, nur um 2008 wegen fortdauernder Verhandlungsunfähigkeit wieder eingestellt zu werden.

Mit dem Ende der Amtszeit Roewer wurde es ruhiger um die Skandal-Behörde. Ob sich wirklich etwas substantiell geändert hat, ist fraglich. Die Finanzierung von Neonazi-Strukturen über den V-Mann Tino Brandt endete nicht mit Roewers Entlassung, sondern wurde erst im Mai 2001 von der Presse aufgedeckt. Aktionen wie ein Gutscheinumtausch für Flüchtlinge oder Proteste gegen die Residenz-pflicht wurden auch in den 2000er-Jahren noch beobachtet11 , ebenso wie der Antira-/Antifa-Ratschlag. Die Klage der Anmelderin einer antirassistischen Demonstration, die 1998 in einem Monatsbericht namentlich genannt worden war, zog sich bis 2006, weil das Amt sich mit allen juristischen Mitteln dagegen wehrte, seine Arbeitsweise aufzudecken. In diesem Rahmen kam auch heraus, dass der VS auf 200 Seiten Vermerke mit Bezug zum Flüchtlingsrat Thüringen zusammengetragen hatte12 .

In Thüringen, wo alternative, an Emanzipation orientierte Politik und Kultur sowieso einen schweren Stand hat, bestätigt diese Praxis, dass der Feind links steht. Das ist auch in der jüngeren Vergangenheit klar. Ende 2010 führte das Landesamt in Erfurt ein Symposium zu linksextremistischer Gewalt durch, bei dem mit kreativer Statistik das in dieser Hinsicht sehr beschauliche Thüringen zur Hochburg linker Gewalt hochgerechnet wurde. Dass dort Uwe Backes und Eckhard Jesse vom Dresdner Institut für Totalitarismusforschung für die wissenschaftliche Rückendeckung zuständig waren, verwundert nicht, wusste man doch in der Haarbergstraße schon lange, dass »die auf den ersten Blick auseinanderstrebenden links- und rechtsextremistischen Tendenzen – der Figur des Kreises folgend – am Ende sich in einem gemeinsamen Punkt treffen«13 . Trotz Extremismus-Geometrie tat man sich schwer darin, gegen Rechts so eifrig vorzugehen wie gegen Links. Die Gesellschaft für Arbeits- und Wirtschaftsförderung des Freistaates Thüringen musste 2010 über drei Monate auf einen Rückruf vom Verfassungsschutz warten – zu lange, um zu verhindern, dass ein NPD-Funktionär Fördermittel aus dem Europäischen Sozialfonds erhielt14 .

Linksextreme werden hingegen schneller identifiziert: Die Webseite des Thüringer VS weiß, dass an einer Kundgebung unter dem Motto »Verfassungsschutz auflösen. Rassismus bekämpfen. Den antifaschistischen Selbstschutz organisieren.« am 19. November 2011 Linksextremisten beteiligt waren. Nicht erwähnt wird, dass dort ein Flugblatt des Erfurter Bürgerkomitees vom 19. Januar 1990 verlesen wurde. Die Forderung der Gruppe, die am 4. Dezember 1989 die Bezirkszentrale der Stasi besetzt und damit das Ende des Dienstes eingeläutet hatte, war »die sofortige und vollständige Auflösung der Staatssicherheit und aller Nachfolgeeinrichtungen, auch des bereits arbeitenden Amtes für Verfassungsschutz.«
 

  • 1DER SPIEGEL 29/2005
  • 2Nachrichtendienst 09/1998, online verfügbar unter http://roewer. blogsport.de
  • 3Nachrichtendienst 05/1999
  • 4Nachrichtendienst 11/1998
  • 5Nachrichtendienst 06/1998 über die negative Presse der Thüringer Kleinstadt Saalfeld, die Ende der 1990er-Jahre bundesweit als rechte Hochburg bekannt wurde.
  • 6vimeo.com/32500122
  • 7jg-stadtmitte.de/ 2011/11/08/es-waren-mindestens-vier
  • 8Nachrichtendienst 09/199
  • 9Nachrichtendienst 03/2000
  • 10Nachrichtendienst 06/2000
  • 11Nachrichtendienst 09/2000
  • 12Nach Angaben der Klägerin im besagten Verfahren.
  • 13Nachrichtendienst 03/1999
  • 14Plenarprotokoll der 38. Sitzung des 5. Thüringer Landtags am 8.12.2010