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Der Doppelstaat

Fabian Kunow
Einleitung

Ernst Fraenkels1 Versuch den Nationalsozialismus begreiflich zu machen. Dieser Artikel ist der fünfte Teil der Reihe »Faschismustheorien. Erklärungen des NS«.

  • 1Ernst Fraenkel wurde 1898 als Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie in Köln geboren. Er studierte Jura und Geschichte und promovierte 1923 zu »Der Nichtige Arbeitsvertrag«. Er arbeite in der Weimarer Republik als Anwalt in Berlin in einer Sozietät mit Franz Neumann und vertrat mehrfach die SPD, der er nahe stand. Innerhalb der SPD wurde er dem linken Flügel zugerechnet. Nach 1933 konnte er beschränkt seine Tätigkeit als Anwalt fortsetzen aufgrund seiner Reputation als Weltkriegsveteran. Im September 1938 emigrierte er aus Deutschland und entging so seiner Festnahme. In Amerika studierte er zwischen 1939 und 1941 amerikanisches Recht an der Law School der University of Chicago. Während des zweiten Weltkrieges publizierte er zwei Bücher: »The Dual State« und mit Blick auf die amerikanische Besetzung Deutschlandes die Studie »Military Occupation and the Rule of Law«. Nach dem zweiten Weltkrieg arbeitete er als Berater der amerikanischen Besatzungsbehörden in Südkorea. 1951 ging er nach Deutschland zurück und lehrte am Vorläufer des Otto Suhr Instituts an der Freien Universität Berlin. Sein Zugang zur neu geschaffenen Disziplin Politikwissenschaft war stark von Einflüssen aus dem amerikanischen Exil geprägt. Fraenkels Lehre wurde handfest von der Studentenbewegung kritisiert, die mehrfach seine universitären Veranstaltungen störten. Er wiederum hatte nicht viel für die Studentenbewegung übrig. 1974 übersetze Fraenkel sein Werk »The Dual State« mit dem Titel »Der Doppelstaat« ins Deutsche zurück. 1975 verstarb Ernst Fraenkel drei Monate nach der Veröffentlichung des »Doppelstaates« in Deutschland.

Ernst Fraenkel (Foto im Reisepass von 1938).

Die erste große Blütezeit der Faschismustheorie war Ende der 1920er bis Mitte 1930er Jahre zu verzeichnen. Diese ersten Versuche einer Theorie des Faschismus fußten jedoch nicht auf einer breiten empirischen Basis, sondern entfalteten sich auf ideengeschichtlicher Grundlage. Der Charakter der in fast allen europäischen Staaten auftretenden Bewegung(en) und Regime wurde von vielen politischen und wissenschaftlichen Zeitgenossen unterschätzt. Dies galt besonders für den NS, der erst posthum mit empirischem Material untersucht wurde. Eine der wenigen Ausnahmen bildete die 1941 im amerikanischen Exil publizierte Studie »Der Doppelstaat« des Juristen und späteren Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel.

Ernst Fraenkel arbeitete als sozialistischer Anwalt in der Weimarer Republik und in den ersten Jahren des Nationalsozialismus. Er dokumentierte und analysierte mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln, wie unter der Herrschaft des NS die justizförmigen und Verwaltungsverfahren in einen Bereich des »Normenstaates« und in einen Bereich des »Maßnahmenstaates« zerfielen. Fraenkel sprach daher so auch der Titel seines Buches, das er nach seiner Emigration 1938 im Exil publizierte – von einem Doppelstaat, wobei der Maßnahmen- und Normenstaat sich in dem Doppelstaat gegenseitig bedürfen und nicht unabhängig voneinander existieren können. »Da Maßnahmen- und Normenstaat ein interdependentes Ganzes darstellen«.1

Der Normenstaat

In allen Verfahren, die dem »Normenstaat« zugerechnet werden, funktionierten weiterhin jene rechtlichen Regularien, wie vor der politischen Machtübertragung an die Nazis. Dem Schutz des Normenstaates unterstehen alle »aufbauenden Kräfte des Volkes«. Dieses ist vor allem die Wirtschaft. Unter den Nazis existierte der Kapitalismus trotz gegenteiliger Rhetorik als Vergesellschaftungsform fort. Parolen wie »Gemeinschaftsnutz geht vor Eigennutz«, die sich im NSDAP-Parteiprogramm fanden, blieben in der Praxis vage. Fraenkel bezeichnet das Wirtschaftssystem im NS »als regulierten Kapitalismus auf der Basis des Privateigentums«2 .

Aus diesem Grund wurden die für den Kapitalismus notwendigen Rechtssysteme unter Einbezug ihrer wesentlichen Rechtsgüter konserviert. Dieses sind die Prinzipien der Gewerbefreiheit, der Vertragstreue, des Privateigentums, sowie der Herrschaft der Unternehmer im Betrieb, die Regelung des Wettbewerbs, das Immaterialgüterrecht, der Rechtsschutz für Zinsvereinbarungen.

Die Wirtschaftspolitik des Staates war ebenso wie die Steuerpolitik dem Normenstaat zugeordnet, um Verlässlichkeit in der Planung der Unternehmer zu gewährleisten. Rechtsunsicherheit sollte vermieden werden. Den Organen des Normenstaates wurde bei der Ausübung ihrer Tätigkeit ein weitreichendes freies Ermessen eingeräumt. Interessenskonflikte innerhalb der »aufbauenden Kräfte des Volkes« wurden autonom in speziellen Ständeorganisationen ausgehandelt. Die Arbeiterschaft gilt dabei nicht als Teil der »aufbauenden Kräfte des Volkes«, deshalb wird ihr Eintreten für spezifische Interessen auch als »Klassenkampf« gewertet. Die repressive Verfolgung von »Klassenkampf« unterliegt dabei dem Maßnahmenstaat, da Klassenkampf den Volksgemeinschaftsvorstellungen der Nazis diametral entgegenstand.

Der Maßnahmenstaat

Die Organe des »Maßnahmenstaates« wurden zur Beseitigung aller Strömungen, Organisationen und Personen, die nicht im Einklang mit politischen Ziel- und Gesellschaftsvorstellungen der NSDAP standen, geschaffen. Alle Verfahren, die dem Maßnahmenstaat zugeordnet wurden – dieses sind nicht nur Verfahren, die man nach allgemeinem heutigen Verständnis als politische Verfahren einstufen würde, an denen etwa politische Gegner des NS3 beteiligt waren –, unterlagen der »Rechtsprechung« der Partei. Diese Parteienrechtsprechung, welche sich unter anderem aus der »Reichtagsbrandverordnung« legitimierte, stand über der des Normenstaates. Im Zweifel setzte sich nach Fraenkels Beobachtungen immer der Maßnahmenstaat gegenüber dem Normenstaat durch, da im Nationalsozialismus ständig der Ausnahme- bzw. Belagerungszustand herrschte.

Hier findet sich der Grundgedanke von Fraenkels Lehrer Carl Schmitt, mit dem er nach dessen Parteinahme für die nationalsozialistische Idee brach, wieder. Für Schmitt erweist sich als Souverän, wer über den Ausnahmezustand verfügt. Die Urteile der Justiz des Maßnahmenstaates unterlagen demnach keiner Berufungs- bzw. Revisionsmöglichkeit. Teile der Behörden (SD und Gestapo) und Parteiinstanzen, die Fraenkel dem Maßnahmenstaat zuschlägt, waren vom Gesetz entbunden.

Auch dem Normenstaat mit seiner Judikative und Exekutive war in der Ausübung seiner Tätigkeit ein weitreichend freies Ermessen eingeräumt, Ermessen aber nur in klar bestimmten Zuständigkeiten. Die Behörden des Maßnahmenstaates waren keinen nach außen ersichtlichen Beschränkungen oder klar abgegrenzten Zuständigkeiten unterworfen. Mit der im Nationalsozialismus in die Wege geleiteten Beseitigung der Schranken der Polizeigewalt fiel auch das Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Bei der Verfolgung von Kommunisten hatte die Polizei – ob nun die der alten Ordnung oder die neu geschaffenen Ermittlungs- und Verfolgungsbehörden des Maßnahmenstaates – freies Ermessen in der Wahl der Mittel. Die Maßnahmen der Polizei unterlagen keiner gerichtlichen Kontrolle.

»Hauptkennzeichen des Maßnahmenstaates ist die völlige Beseitigung der Unverbrüchlichkeit des Rechts«4 . Recht dient nicht mehr zum Schutz des Individuums, sondern kommt zur Anwendung, wie es der Staatsräson des NS dient. Beispielhaft dafür ist die Lex van der Lubbe, die im Rahmen der Notverordnung vom 28. Februar 1933 entstand. Die Lex van der Lubbe5 setzte rückwirkend die Todesstrafe für ein Delikt fest, das zur Zeit der Begehung der Tat nur mit Freiheitsentzug bestraft wurde. Das Rechtsverständnis der Nazis fasst Fraenkel anschaulich mit einem Zitat des NS-Ideologen Alfred Rosenberg zusammen: »Recht ist das, was arische Männer für Recht befinden«.6

Fraenkel analysiert richtig und vorausblickend die Praxis der Behörden des Maßnahmenstaates, die mit ihren zur Ausschaltung engagierter politischer Gegner entwickelten Kampfmethoden gleichfalls zur Gleichschaltung genuin unpolitischer Konkurrenzorganisationen gebraucht – Fraenkel spricht von »missbraucht« – werden.

Die Justiz des Maßnahmenstaates ist eine klar politische, da sie nur den Parteiwillen bzw. im Zweifelsfall Führerbefehle exekutiert. Eine Gewaltenteilung im Sinne von gegenseitiger Kontrolle ist im Maßnahmenstaat überhaupt nicht gegeben. Die Justiz des Maßnahmenstaates steht unter dem Kommando der diktatorisch-politischen Administration. Es herrscht also die von der NSDAP geregelte Exekutive über die Gesellschaft, wobei sie bestimmte Bereiche einer Selbstregulierung bzw. normenstaatlichen Verfahren überlässt. Juden unterlagen spätestens ab dem Jahr 1937 vollständig nur noch dem Maßnahmenstaat(7). Für sie galten von dem Zeitpunkt an in keinem Bereich mehr normenstaatliche Regelungen. Spätestens ab dem Jahr 1938 waren die Juden »bürgerlich tot«, das heißt vollkommen entrechtet in allen Bereichen des Lebens, und den für sie zuständig erklärten Organisationen ausgeliefert. Nach dem »bürgerlichen Tod« folgte bekanntlich das sich radikalisierende staatliche Vernichtungsprogramm.

Folgen aus Fraenkels Forschungsergebnissen

Ernst Fraenkels Publikation sollte wie die viele anderer exilierter Wissenschaftler der amerikanischen Regierung, Öffentlichkeit und Militärbehörden erklären, was im nationalsozialistischen Deutschland geschah.

Fraenkels Gedankengang, den NS als Doppelstaat zu fassen wirkt bis heute nach, obwohl er nur die Entstehungs- und Vorkriegszeit des Regimes behandelte. An der historischen Stelle, wo Fraenkel endet, setzt nach allgemeiner Meinung das Werk Behemoth, benannt nach dem Ungeheuer aus der jüdischen Mythologie, seines Freundes und ehemaligen Sozius Franz Neumann ein. Der Behemoth ist ebenfalls eine Strukturanalyse des Nationalsozialismus. Beide Autoren sahen ihre Forschung und die aus dieser ableitenden theoretischen Überlegungen alleine auf den Nationalsozialismus beschränkt. Sie betrieben also keine allgemeine Faschismus- oder Totalitarismustheorie.
Bis in die 1960er fand der Doppelstaat keine Rezeption in Deutschland.

Der Doppelstaat, richtig gesagt The Dual State, war nur in einigen englischsprachigen Ausgaben in wenigen deutschen Bibliotheken vorhanden. Nach der Rückübersetzung ins Deutsche durch Fraenkel im Jahre 1994 begleiteten die Beobachtungen und das theoretische Konstrukt Fraenkels die wechselhafte Geschichte der NS- und Faschismusforschung in Deutschland. Ab den 1970er Jahren hatten Wissenschaftler und Öffentlichkeit herausgefunden, dass neben Autobahn, Mutterkreuz und Krieg es im NS noch was anderes gegeben hatte – die versuchte Vernichtung der europäischen Juden. In den Neunziger Jahren wurde dann zu den Tätern geforscht, publiziert und über diese diskutiert. Hier stellte sich vor allem die Frage, wie ganz normale Deutsche zu diesen anormalen Taten fähig waren. Untersucht wurden hier jene Organisationen, die dem Maßnahmenstaat zugerechnet werden.

Die Trennung des NS in einen Bereich des Maßnahmenstaats und einen des Normenstaates fand sich in verschiedenen Urteilen wieder. So beispielsweise in einem Grundsatzurteil des Bundessozialgerichts vom 11. September 1991, das die Todesurteilspraxis der Wehrmachtsgerichte dem Maßnahmenstaat zuordnete, oder 2007, als endgültig das Urteil gegen Marinus van der Lubbe aufgehoben wurde. Die Teilung des NS in Maßnahmenstaat und Normenstaat fand auch in anderen Fällen von Renten- und Entschädigungsansprüchen während der Neunziger Jahre Anwendung.

In den letzten Jahren ist vor allem die Normalität während des NS ein Forschungsschwerpunkt der Geschichtswissenschaft und der öffentlichen Diskussion. Prominentestes Beispiel dürften hier die Veröffentlichungen Götz Alys sein. Aber auch junge DoktorantInnen forschen nun zu normenstaatlichen Bereichen im NS, wenn sie beispielsweise das Justiz- und Gefängniswesen abseits der maßnahmenstaatlichen Bereiche untersuchen.

Die Frage, welche Praxen und konkreten Entscheidungen dem Normenstaat und welche dem Maßnahmenstaat zugerechnet werden, wird weiterhin umkämpftes Terrain bleiben. Ergeben sich hieraus einerseits konkrete Rechtsansprüche auf Entschädigung und Opferrente, andererseits wirft es auch immer wieder ein schlechtes Licht auf das Deutschland nach 1945, wenn es in bestimmten Bereichen kaum einen Kontinuitätsbruch gab und streckenweise die gleichen Einrichtungen weiterexistierten.

Literatur:
Fraenkel; Ernst (2001): »Der Doppelstaat«. Hamburg; Europäische Verlagsanstalten

  • 1Fraenkel 2001 S. 124
  • 2Fraenkel 2001 S. 117
  • 3Fraenkel widmet sich in seinem Buch ausführlich der staatlichen Repression gegen christliche Sekten, die überhaupt keine politischen Ambitionen hatten.
  • 4Fraenkel 2001 S.159
  • 5Marinus van der Lubbe war ein linker niederländischer Arbeiter, der am 27. Februar 1933 im brennenden Reichstag in Berlin festgenommen und im März mit vier – später mangels Beweisen freigesprochenen – Kommunisten wegen Brandstiftung angeklagt wurde. Trotz seines schlechten psychischen Gesundheitszustandes wurde er am 22. Dezember wegen Hochverrat in Tateinheit mit vorsätzlicher Brandstiftung im so genannten Reichstagsbrandprozess durch das Reichsgericht in Leipzig zum Tode verurteilt; das Urteil wurde 1934 vollstreckt.
  • 6Fraenkel 2001 S: 161 7| Zwischen 1933 und 1938 kann »nur« von Diskriminierung und Beschneidung gesprochen werden [Vgl. Fraenkel 2001 S. 145].