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Der »Fall Krasnodar«

Einleitung

Seit November 1998 werden die linksradikalen anarchistischen, antifaschistischen und ökologischen Gruppen in Russland mit einer Repressionswelle überzogen. Offizielle Begründung für das Vorgehen des russischen Geheimdienstes „Föderaler Dienst für Sicherheit der Russischen Föderation“ (FSB) ist der sogenannte »Fall Krasnodar«.

Bild: Kremlin.ru, CC BY 4.0, wikimedia

Der russische Politiker Nikolai Kondratenko.

Am 28. November 1998 wurde der 18jährige Punk Genadij N. in der südrussischen Provinzhauptstadt Krasnodar verhaftet. Angeblich wurde bei ihm Sprengstoff beschlagnahmt. Das angebliche Geständnis von Genadij N., er hätte einen Anschlag auf den Gebietsgouverneur Nikolai Kondratenko geplant, führte zur Verhaftung von Maria R. aus Krasnodar und im Februar 1999 von Larisa Sch. aus Moskau. Nach mehrmonatiger Haft wurden die Beschuldigten im Mai bzw. Juni 1999 vorläufig freigelassen. Ihnen wird der Besitz und Transport von Sprengstoff vorgeworfen. Zusätzlich versucht der FSB, Beweise und Aussagen für ein Verfahren nach § 205 (Terrorismus) zu sammeln. Unter Verwendung angeblicher Aussagen von Genadij N. starteten die Ermittlungsbehörden eine Kampagne gegen anarchistische, antifaschistische und ökologische Organisationen, zu denen die Beschuldigten in irgendeiner Beziehung stehen. Der FSB versucht inzwischen, Aussagen über Moskauer, St. Petersburger und Gruppen aus anderen Städten zu erhalten. Im Verlauf einer Reihe von Hausdurchsuchungen in Moskau und Krasnodar wurden Computer und umfangreiche Archive mehrerer AktivistInnen beschlagnahmt.

Antisemitischer KPRF-Funktionär verantwortlich für Repression ?

Auffällig ist, daß die Ermittlungen trotz der Ausweitung auf Moskau und andere westrussische Städte zunächst in der Zuständigkeit der Krasnodarer Regionalabteilung des FSB lagen. Die Moskauer Solidaritätsgruppe für die vom »Fall Krasnodar« Betroffenen vertritt die Einschätzung, daß der Krasnodarer Gouverneur Kondratenko persönlich für das Vorgehen gegen die dortige Szene verantwortlich sei. Kondratenko ist eine Art Paradebeispiel für die antisemitischen Tendenzen in der "Kommunistische Partei der Russischen Föderation" (KPRF). Er gilt unter BeobachterInnen vor Ort als ein "paranoider Antisemit", der häufig öffentliche Stellungnahmen zu angeblichen jüdischen Verschwörungen abgibt. Die wichtigste neofaschistische Organisation Russlands, die "Russische Nationale Einheit" (RNE) hat im Krasnodarer Gebiet eine ihrer Hochburgen und soll laut Berichten lokaler AntifaschistInnen von Kondratenko in gewisser Weise gefördert werden. Die aktuelle Repressionswelle wird deshalb als Versuch Kondratenkos angesehen, die aktive Antifa-Arbeit der antistalinistischen linksradikalen Szene in Krasnodar zu zerschlagen. Dazu wird eine terroristische Vereinigung konstruiert, die bis nach Moskau reicht, die eine Bombe mit einer Sprengkraft von 1,7 kg TNT zur Verfügung gehabt haben soll und die zu einer "jüdischen Verschwörung" gegen den Gouverneur gemacht wird.

Schwierige Anti-Repressionsarbeit

Seit dem Entstehen der unabhängigen anarchistischen, antifaschistischen und ökologischen Gruppen in Russland in den achtziger Jahren hat es ein solch massives Vorgehen der staatlichen Sicherheitsstrukturen noch nicht gegeben. Gleichzeitig gibt es bisher auch kaum Erfahrungen mit Antiirepressionsarbeit. Die aktuelle Situation hat jetzt erstmalig zur Gründung mehrerer »Gruppen gegen staatliche Repression« geführt, die eine Solidaritätskampagne aufzubauen versuchen. Die Unterstützung der Beschuldigten ist auch bitter nötig. Während der Zeit in Untersuchungshaft wurde erfolgreich verhindert, daß die Beschuldigten Kontakt zu RechtsanwältInnen ihres Vertrauens aufnehmen konnten. So hatte nur zu Larisa Sch. ein mit politischen Verfahren vertrauter Anwalt Zugang, dessen Arbeit aber von den Ermittlungsbehörden stark behindert wurde. Die Isolation der anderen beiden Verhafteten führte dazu, daß beide schließlich Aussagen machten, mit deren Hilfe Larisa Sch. inzwischen zur Hauptbeschuldigten gemacht worden ist. Larisa Sch. hatte gleichzeitig die extremsten Haftbedingungen, da sie zum Zeitpunkt ihrer vorläufigen Haftentlassung bereits im sechsten Monat schwanger war, ihr Gesundheitszustand sich dramatisch verschlimmert und sie trotz Schwangerschaft mehrere Kilogramm abgenommen hatte. Ihre Freilassung erfolgte unter der Auflage, in Krasnodar zu bleiben und die Eröffnung des Gerichtsprozesses Mitte Juli 1999 abzuwarten. Maria R. und Gennadij N. wurden zu ZeugInnen erklärt, womit sie zu Aussagen vor Gericht verpflichtet werden können. Zu erwarten ist eine Verurteilung von Larisa Sch. zu einer Haftstrafe.

Freilassungen als erste Erfolge oder als Auftakt für einen »Fall Moskau«?

Die »Gruppen gegen staatliche Repression« sehen die Freilassungen der Beschuldigten als ersten Erfolg ihrer Solidaritätskampagne an. Die Ermittlungsbehörden in Krasnodar würden sehr genau registrieren, daß der »Fall Krasnodar« öffentliche Aufmerksamkeit erregt hätte. Angesichts der generell sehr schwierigen Bedingungen, unter denen die anarchistischen, antifaschistischen und ökologischen Gruppen politisch arbeiten, ist es tatsächlich ein Erfolg, daß diese Solidaritätskampagne überhaupt begonnen hat. Bisher fanden bereits mehrere Solidaritätskundgebungen sowie am 30. März 1999 ein Aktionstag statt, an dem parallel in mehreren russischen Städten und vor der russischen Botschaft in Berlin Kundgebungen abgehalten wurden. Außerdem gab es in Moskau ein open-air-Konzert und eine größere Aktion vor dem zentralen FSB-Gebäude, es konnten einige Presseartikel veröffentlicht werden und es wird ständig dazu aufgerufen, Protestfaxe nach Krasnodar zu schicken. Gleichzeitig wird allerdings massiv weiterermittelt, und es werden weitere AktivistInnen aus Moskau vom FSB vernommen. In Moskau wird die Eröffnung eines »Falls Moskau« gegen einige AktivistInnen bereits in der nächsten Zeit erwartet, genauere Informationen darüber liegen aber bisher nicht vor. Die internationale Aufmerksamkeit ist für den Schutz der vom »Fall Krasnodar« Betroffenen von großer Bedeutung.