Skip to main content

Dem Tod davongelaufen

Florian Osuch
Einleitung

Die persönlichen Berichte und Aufzeichnungen der Überlebenden von Verfolgung, Vernichtungskrieg und Holocaust gehören zu den eindrucksvollsten Schilderungen über die Zeit des deutschen Faschismus. Eines dieser Dokumente ist die kürzlich auf Deutsch erschienene Fluchtgeschichte der französischen Widerstands­kämpferin Suzanne Maudet (1922–1994).

Symbolbild von Christian Ditsch

In „Dem Tod davongelaufen“ schildert sie eine acht Tage dauernde Odyssee durch die sächsische Provinz. Zusammen mit acht Freundinnen – ebenfalls zur Zwangsarbeit verschleppte Widerstandskämpferinnen – hatte sie die Flucht von einem Todesmarsches gewagt. Suzanne Maudet hatte sich nach der deutschen Besetzung Frankreichs der Résis­tance angeschlossen und war im März 1944 verhaftet worden. Sie wurde ins KZ Ravensbrück deportiert, wo sie andere Widerstandskämpferinnen traf.

Sie alle wurden zur Zwangsarbeit in ein Außenlager des KZ Buchenwald nach Leipzig-­Schönefeld verbracht. Dort waren 5.000 Frauen und 7.000 Männer für den deutschen Rüstungskonzern HASAG – die Hugo und August Schneider AG – tätig. Die Firma unterhielt mehrere eigene Konzentrations­lager in Leipzig, die zum weitgespannten Netz der Außenlager des KZ Buchenwald gehörten. Die Häftlinge mussten dort bis zu 12 Stunden am Tag Munition und Grana­ten fertigen.1

Rund 20 Millionen Menschen waren im damaligen Deutschen Reich und in den von der Wehrmacht besetzten Gebieten der Zwangsarbeit unterworfen. Die größte Gruppe waren Menschen aus der Sowjetunion, aus Frankreich, Polen und Italien. Zwangsarbeiter:innen wurden in allen Bereichen der Gesellschaft eingesetzt, insbesondere in der Landwirtschaft, im Handwerk, im Bergbau und in der Industrie, aber auch bei Behörden, in Einrichtungen der Kirche, in den Firmen der SS oder in privaten Haushalten.

Die HASAG-Fabrik wurde im April 1945 durch Luftangriffe schwer beschädigt. SS-Männer und Aufseherinnen trieben die männlichen und die weiblichen Häftlinge auf einen Todesmarsch Richtung Osten.

Die tiefdunkle Nacht erfasst uns, noch halb benommen, hinter dem starken Schein­werfer, der das Tor des Lagers ausleuchtet. Fünftausend Frauen sind, angesichts des Vormarsches der Amerikaner, in Fünferreihen von der SS auf die Straße getrieben worden.“ Mit dieser Schilderung beginnt die als Tagebuch verfassten Aufzeichnungen ­Suzanne Maudets. Sie schildert den Todes­marsch beginnend in Leipziger Stadtgebiet, Richtung Wurzen in Nordsachsen. Die Todesmärsche waren Teil der sogenannten Endphaseverbrechen.2 Das waren örtliche Amokläufe und auch Massenmordaktionen der Nazis, als das „Tausendjährige Reich“ bereits auf ein kleines Rumpfgebiet geschrumpft und weite Teile Europas befreit waren.

Wir marschieren bis zum Dunkelwerden und dann beginnt zweifellos die Albtraum-Nacht, unsere schlimmste Nacht in Deutschland: Marschieren … immer weiter marschieren … lautes Schrittgetrappel, das nie aufhört … dieses quälende Aufschlagen des Holzes auf dem Pflaster … blind mit der Stirn auf dem Rücken der Vorderleute auflaufen … die Streitereien und die bissigen Kommentare … die Beinmuskeln, die derartig schmerzen und trotz allem automatisch ihren Dienst tun … die bloßen Füße brennen in den Holzplatinen und sind voller Blasen … und jeder Aufbruch ist so mühsam nach dem kleinsten Halt (…). Und die Augen, die sich öffnen und nur das sehen, was wirklich da ist: die verkrampft am Straßenrand liegenden Leichen, die armen abgemagerten Leiber, die vor Erschöpfung oder im Maschinen­gewehr­feuer gestorben sind, die Hände noch in einer flehenden Geste vor das Gesicht gehoben

Marschiert wird bei Tag und bei Nacht, es gibt nur kurze Pausen, mal auf einer Wiese, in einem Schulhof oder Park. Der Tross führt durch Dörfer und auch größere Ortschaften wie Wurzen. Die Einwohner­:innen betrachten den Zug der Frauen, ­deren Ermordung vorgesehen ist. „Die Kolonne setzt sich in Bewegung und wir laufen durch Oschatz. Es ist Sonntag und so gegen Mittag, alle Bewohner sind vor die Tür getreten, um uns zu sehen; die Kinder lachen, als würde ein Zirkus vorbeiziehen; die Eltern betrachten uns gelassen, die Hände vor dem Bauch.“
Die zusammengewürfelte Gruppe junger Frauen – sechs Französinnen, zwei Holländerinnen und eine gebürtige Spanierin – fasst den Entschluss zur Flucht, auch wenn das den Tod bedeuten kann. Im untergehenden Reich machen Einheiten von Gestapo und SS sowie Angehörige von Wehrmacht und Volkssturm sowie mancherorts auch Zivilist:innen Jagd auf entflohene Zwangsarbeiter:innen, Wehrmachts-­Desateure oder ehemalige KZ-Häftlinge.

Hinter uns keine SS in Sicht; sie sind weit vorne. Wir werfen uns einen schnellen Blick zu und unser Entschluss ist sofort gefasst: Wozu auf die Nacht warten? Eine bessere Gelegenheit wird sich uns nicht mehr bieten. Direkt links von uns geht ein Hohlweg in die Wiese. Wir stürzen uns dort hinein, alle neun und marschieren zügig weiter. Als die Straße außer Sicht ist, bleiben wir stehen, um Veränderungen von höchster Priorität vorzunehmen: die gestreiften Kleider und Jacken ausziehen, Nummern und rote Dreiecke abtrennen (aber sie sorgfältig aufheben, weil wir sie brauchen können, um später unsere Identität zu beweisen) …

Wie ergeht es neun Frauen, die von einer Minute auf die anderen aus dem „absoluten Grauen“ in die Freiheit gesprungen sind? Sie wissen nicht, wo sie sich genau befinden, nur dass die Amerikaner nicht mehr weit sein können. Wer wird ihnen helfen, Unterschlupf gewähren, Essen geben? Wer wird sie verraten oder gar erschießen? Nur eins ist klar: Es geht Richtung Westen, Richtung Heimat.

Die Fluchtgeschichte der jungen Widerstandskämpferinnen ist eindrucksvoll. Zwischen den Zeilen wird die gesellschaftliche Stimmung kurz vor dem endgültigen Zusammenbruch der NS-Herrschaft mit all ihren Wirren und Widersprüchen deutlich. Insgesamt gab es zu dieser Zeit enorme Fluchtbewegungen in unterschiedlicher Richtungen. Millionen Deutsche und Kollaborateure des NS-Regimes bewegten sich in die Reichsmitte. Sachsen war damals ein wichtiger Knotenpunkte vertriebener Deutscher. Dort gab es wiederum Bewegungen aus den Städten auf das Land, ausgelöst durch die massiven Bombardierungen von Dresden, Leipzig und Chemnitz im Frühjahr 1945. Gleichzeitig waren erste Zuchthäuser, Lager und andere Haftanstalten befreit worden. Diejenigen, die noch bei Kräften waren, versuchten in ihre Heimat zurückzukehren, ohne ein zweites Mal in die Hände der Nazis zu fallen.
Durch den täglich wechselnden Frontverlauf und die sich überschlagenden Ereignisse im gesamten Reichsgebiet änderte sich offenbar auch die Einstellung von Mitläufer:innen und Täter:innen. Das wird in den unterschiedlichen Begegnungen der jungen Frauen mit der sächsischen Bevölkerung deutlich.

Das Fluchttagebuch hatte Suzanne Maudet kurz nach ihrer Rückkehr nach Paris verfasst, veröffentlicht wurde es jedoch lange nicht. Erst im Jahr 2004, zum 60. Jahrestag der Deportation Maudets und zum 10. Jahrestag ihres Todes, wurde das Buch erstmals publiziert. Pierre Sauvanet, Neffe der Widerstandskämpferin und Professor an der Universität von Bordeaux, hatte sich des Manuskripts angenommen. Die Autorin Gwen Strauss, Großnichte einer weiteren Protagonistin des Buches, trug mit umfangreichen Recherche, Archivarbeit und Interviews interessantes Material zusammen. So sind heute Hintergründe über die beteiligten Frauen bekannt, die in der Originalfassung nur mit Vor- bzw. Decknamen benannt sind. Der nun auf Deutsch vorliegende Titel umfasst das eigentliche Fluchttagebuch, biografische Angaben zu den neun Widerstandskämpferinnen sowie Ergänzungen in den Nachworten von Pierre Sauvanet und Patrick Andrivet, Professor für Französische Literatur an der Universität von Paris und einem Cousin von Suzanne Maudet.

Suzanne Maudet
Dem Tod davongelaufen
Wie neun junge Frauen dem
Konzentrationslager entkamen
Assoziation A, 2021, 128 Seiten
16,- Euro

  • 1Einer der leitenden Ingenieure des Konzerns, Edmund Heckler (ab 1933 Mitglied der NSDAP), siedelte nach der Befreiung in die Bundesrepublik über und gründete dort 1949 den Rüstungskonzern Heckler & Koch.
  • 2Mehr dazu in „Mörderisches Finale. NS-Kriegsverbrechen bei Kriegsende 1945“ (Ulrich Sander, PapyRossa, 2020).