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Das neue bayerische Polizeiaufgabengesetz

Benjamin Derin
Einleitung

Die am 15. Mai 2018 verabschiedete Änderung des bayerischen Polizeiaufgabengesetzes hat in den letzten Monaten für viel Aufsehen gesorgt. Dabei steht der Freistaat mit seinem Vorhaben keineswegs alleine da. Das Gesetz reiht sich ein in eine bundesweit betriebene Reformierung des Polizeirechts, die vor allem die Ausweitung der Befugnisse von Polizist_innen und eine Vorverlagerung des Eingriffszeitpunkts zum Ziel hat. Fast alle Bundesländer haben ihre Polizeigesetze entweder kürzlich verschärft oder planen derzeit Ähnliches. Auch in Bayern ist die Tinte der letzten Gesetzesnovelle noch feucht, die im August 2017 u.a. mit Fußfesseln und unbefristetem Präventivgewahrsam aufwartete. Die aktuelle Erweiterung versinnbildlicht die gegenwärtigen Tendenzen und steht zugleich exemplarisch für die in immer kürzeren Abständen erfolgenden Änderungen im Geiste einer permanenten Sicherheitsreform. Sie ist zum Aufhänger breiten gesellschaftlichen Widerstandes gegen diese Entwicklung geworden. Im Folgenden sollen zumindest die Kernprobleme des umfangreichen Entwurfs angerissen werden.

Foto: flickr.com — Casey Hugelfink, Das Leben der Anderen; CC BY-SA 2.0

Paradigmenwechsel: Drohende Gefahr

Im Fokus der Aufmerksamkeit steht der Begriff der „drohenden Gefahr“. Es handelt sich dabei um eine juristische Kategorie zur Bewertung von Bedrohungslagen, aus der sich bestimmte Eingriffsrechte ableiten. Während die Polizei nach dem Strafrecht in der Regel eingreift, wenn eine Straftat bereits begangen wurde, dient das Polizeirecht der präventiven Abwehr von Gefahren, bevor sie eintreten. Damit nicht willkürlich vorgegangen wird, regeln bestimmte Kriterien, wann von einer Gefahr ausgegangen werden darf. So setzen präventive Maßnahmen typischerweise das Vorliegen einer „konkreten Gefahr“ voraus, d.h. es müssen Tatsachen darauf hindeuten, dass der Eintritt eines Schadens kurz bevorsteht.

Mit dem sog. Gefährdergesetz von 2017 wurde in Bayern eine neue, weniger anspruchsvolle Kategorie eingeführt, die „drohende Gefahr“. Gemeint ist, dass bereits die Möglichkeit, es könne in absehbarer Zeit zu einem Angriff kommen, ein polizeiliches Eingreifen rechtfertigen soll. Damit darf die Polizei früher einschreiten. Der Begriff entstammt ursprünglich der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Terrorabwehr. Mit dem Gefährdergesetz wurde er erstmals gesetzlich aufgegriffen und einige Maßnahmen wie u.a. die elektronische Fußfessel und Platzverweise bereits erlaubt, wenn noch keine konkrete, aber eine „drohende Gefahr“ vorliegt. Das neueste Gesetz, dem nun zu Recht Widerstand begegnet, hat die „drohende Gefahr“ also weder erfunden noch eingeführt. Sie wird aber massiv ausgeweitet, etwa auf Telekommunikationsüberwachung, Observationen, Online-Durchsuchungen und den Datenaustausch mit Nachrichtendiensten.

Die seit Jahren betriebene Vorverlagerung staatlicher Eingriffe kulminiert hier in einer grundlegenden Umwälzung des polizeilichen Bezugspunkts von der konkreten, unmittelbaren auf die nur irgendwie absehbare, in einer vorhergesagten Zukunft drohende Gefahr. Problematisch ist das deshalb, weil der polizeiliche Handlungsspielraum ins schier Unermessliche ausgeweitet wird. Die Annahme einer drohenden Gefahr setzt eine Prognoseleistung über sich mitunter gegenwärtig vollkommen konform verhaltende Personen voraus, die sich nachträglich kaum noch überprüfen lässt.

Neben dieser allgemeinen Herabsetzung der Eingriffsschwelle enthält das Gesetz die Einführung neuer oder die Erweiterung bestehender Maßnahmen, von denen nur einige wichtige hier angeführt werden können.

Coptube: Übersichtsaufnahmen, Bodycams und Drohnen

Versammlungen dürfen künftig unabhängig von der Gefahrenlage mittels großflächiger Übersichtsaufnahmen gefilmt werden, wenn sie unübersichtlich sind. Solche anlasslosen Aufnahmen einer gesamten Demonstration und aller Teilnehmenden sind im Hinblick auf die Versammlungsfreiheit äußerst bedenklich, denn wer damit rechnen muss, gefilmt zu werden, wird möglicherweise auf die Ausübung seines Grundrechts verzichten. Erlaubt wird auch die Nutzung intelligenter Kamerasysteme zur automatisierten Bildauswertung. Diese hat sich vorläufig auf das Erkennen bestimmter Gegenstände zu beschränken, die Gesichtserkennung ist in letzter Minute gestrichen worden. Vorgesehen sind im neuen Gesetz neben Bodycams auch weitreichende Einsatzmöglichkeiten für Drohnen, etwa für besagte Aufnahmen von Demonstrationen, aber auch zum Abhören oder Blockieren von Kommunikation und sogar bei der Wohnraumüberwachung.

Hacker in Uniform: Staatstrojaner, Cloud-Zugriff und Telefonüberwachung

Die verdeckte Infiltration, Durchsuchung und Überwachung von Computern, Smartphones oder Tablets unter Einsatz von Trojanern ist hoch umstritten, nach dem PAG aber bereits zulässig. Neu ist, dass dies — ebenso wie fortan die herkömmliche Telefonüberwachung — eben schon bei einer „drohenden Gefahr“ erlaubt sein soll. Zudem dürfen nun unter Umständen die ausgespähten Daten heimlich manipuliert werden. Der Zugriff darf künftig auch externe Speicherorte umfassen, insbesondere in einer Cloud gespeicherte Daten. Bei Gefahr im Verzug soll keine richterliche Anordnung mehr erforderlich sein, die Polizei dürfte dann zunächst selbst entscheiden.

Who’s your daddy: Erweiterte DNA-Analyse

Eines der Grundprinzipien der staatlichen DNA-Analyse war bislang die Beschränkung auf die Beantwortung der Frage, mit welcher Wahrscheinlichkeit eine bestimmte Spur von einer bestimmten Person stammt. Die Befugnisse der bayerischen Polizei umfassen dagegen künftig auch die sog. erweiterte DNA-Analyse. Dabei wird eine Spur auf genetische Merkmale wie Geschlecht, Alter, Haar- oder Hautfarbe und die „biogeographische Herkunft“ untersucht. Experten warnen bereits, dass diese Merkmale sich keineswegs sicher aus dem Genmaterial ableiten lassen und ein großes Fehlerpotential bergen. Die Behörden gewinnen zudem höchst intime Erkenntnisse über die Betroffenen, etwa zu erblichen Krankheitsrisiken. Zugleich wird der Institutionalisierung rassistischer Ermittlungsstrukturen Tür und Tor geöffnet, denn vage Konzepte wie Biogeographie, Phänotypen und Hautfarben verdichten sich im polizeilichen Alltag regelmäßig zu einem diskriminierenden Tunnelblick und racial profiling.

Mittendrin statt nur dabei: Postsicherstellung, Verdeckte Ermittler und V-Leute

Bei aller Technologie sind auch traditioneller anmutende Maßnahmen nicht vergessen worden. So war die Sicherstellung von Postsendungen bislang der Strafverfolgung vorbehalten und setzte deshalb den konkreten Verdacht einer Straftat voraus. Künftig darf die Polizei auch zur Gefahrenabwehr heimlich die Post abfangen und mitlesen — selbstverständlich schon bei einer „drohenden Gefahr“ und bei Gefahr im Verzug ohne richterliche Anordnung.

Umstritten ist seit jeher der Einsatz verdeckter Ermittler, die sich über Monate und Jahre hinweg das Vertrauen Betroffener erschleichen und so besonders tief in deren Privatsphäre eindringen. Die neuen Regelungen stellen klar, dass solchen Spitzeln kaum Grenzen gesetzt sein sollen. Insbesondere das Betreten von Wohnungen, das Fälschen entsprechender Urkunden und die Betätigung in Foren und Chats werden gestattet. Ausdrücklich erlaubt wird nunmehr auch der Einsatz von nichtpolizeilichen Privatpersonen als V-Leute (diese hatten nicht zuletzt im NSU-Umfeld eine unrühmliche Rolle gespielt). Eine richterliche Anordnung ist für beide Maßnahmen grundsätzlich nur vorgesehen, wenn sie sich gegen bestimmte Personen richten. Den Regelfall dürften in der Praxis aber breite Einsätze gegen eine Szene als Ganzes darstellen.

Fazit

Das neue PAG beinhaltet eine besorgnis­erregende Ausweitung und Vorverlagerung polizeilicher Befugnisse. Externe richterliche Prüfpflichten werden abgebaut, die Polizei gewinnt nachrichtendienstliche Kompetenzen und eine paramilitärisch anmutende Aufrüstung. Sie ist längst zu einem der mächtigsten gesellschaftlichen Akteure geworden, verwehrt sich aber zunehmend jeglicher Kontrolle. Während sie sich einer Kennzeichnungspflicht und unabhängigen Beschwerdestellen mit im europäischen Vergleich beispiellosem Erfolg entzieht, drängen polizeiliche Interessenverbände verstärkt in den zivilgesellschaftlichen Diskurs hinein und versuchen, Kritik zu unterbinden. 
Es wäre jedoch verfehlt, diese Entwicklungen auf einzelne Befugnisse oder Gesetzesvorhaben zu reduzieren. Vielmehr handelt es sich um einen langfristigen Paradigmenwechsel, der auch eine Folge des unangefochtenen Primats vermeintlicher Sicherheit ist. Was eben noch undenkbar war, wird bald zur Terrorabwehr ausnahms­weise zulässig, dann in die regulären Polizeigesetze aufgenommen und ist schließlich Alltag. Diesem Mechanismus dienen die ständigen, in immer kürzeren Abständen erfolgenden und kaum noch überschaubaren Gesetzesänderungen. Umso wichtiger ist es, die Kritik nicht auf ein legislatives Projekt zu beschränken, sondern auf die dahinterstehenden Diskursverschiebungen auszurichten.