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Das Gesetz des Dschungels

Bernard Schmid (Paris)
Einleitung

Frankreich schließt Flüchtlingslager im Raum Calais und schiebt erstmals wieder nach Afghanistan ab

Erstmals seit dem Jahr 2005 hat Frankreich auf einem gemeinsamen »Charter« (Sammelflug) zusammen mit den britischen Behörden wieder Flüchtlinge nach Afghanistan abgeschoben. Schon im vergangenen Jahr – im November 2008 – hätte ein französisch-britischer Sammelflug für Abgeschobene in Richtung Kabul starten sollen; dieses Vorhaben war damals jedoch unter dem Druck der öffentlichen Meinung zunächst annulliert worden.

Bild: flickr.com;priceminister;Seng YAM/CC BY 2.0

Eric Besson, Minister für Immigration, Integration, nationale Identität und solidarische Entwicklung.

In der Nacht vom 20. auf den 21. Oktober 2009 war es nun jedoch soweit: Ein von London aus gestartetes Flugzeug legte gegen Mitternacht am Pariser Flughafen Roissy-Charles de Gaulle einen Zwischenstopp ein. Bevor es nach Baku und von dort aus nach Kabul in Afghanistan weiterf log, nahm es drei junge Afghanen an Bord. Diese wurden zuvor bei Polizeikontrollen an der italienisch-französischen Grenze, in einem Park im 10. Pariser Bezirk neben dem Ostbahnhof sowie im nordfranzösischen Calais aufgegriffen. Das Flugzeug war zunächst zur Zwischenlandung in Lille erwartet worden, wo zur fraglichen Zeit mehrere Dutzend Menschen dagegen demonstrierten. In Paris waren den NGOs, Pro Asyl- und Solidaritätsvereinigungen widersprüchliche Informationen gegeben worden und am Ende hatte das Ministerium sie informiert, es werde keinen solchen »Charterflug« geben. Am folgenden Tag spielte Minister Besson dann mit den Worten und erklärte, es habe sich auch gar nicht um einen »Charter/ Sammelflug«, sondern nur um einen »speziell angeheuerten Sonderflug« gehandelt. In Calais war am 22. September 2009 ein von MigrantInnen selbst errichtetes Camp am Rande des Ärmelkanals, das auf den Namen »Jungle« getauft wurde, auf Anordnung des Ministers »für Einwanderung und nationale Identität« Eric Besson durch die Polizei auseinander genommen worden. Von dort aus hatten Flüchtlinge, die in Frankreich keine Aufnahme fanden, die Weiterreise nach Großbritannien oder in die skandinavischen Ländern versucht. Infolge einer französisch-britischen Vereinbarung war dieses Flüchtlingslager jedoch, ähnlich wie zum Jahreswechsel 2002/03 die vom Roten Kreuz betreute vergleichbare Einrichtung im nahen Sangatte, aufgelöst worden. Die MigrantInnen irren nun zum Teil erneut ohne Anlaufpunkt am Ärmelkanal herum. Doch handelte es sich nur um eines von sieben, »illegal« errichteten und in größter materieller Prekarität durch MigrantInnen »selbstverwalteten« Flüchtlingslagern im Raum Calais, aber um ihr mit Abstand größtes. Es gibt also noch weitere »Jungle«-Camps, von denen eins in Loon-Plages inzwischen ebenfalls polizeilich geräumt worden ist. Ihre Bewohnerschaft wird meistens durch Menschen einer gemeinsamen Herkunftsregion oder -»ethnie« und Sprache gebildet. So gab bzw. gibt es Camps für Menschen aus Eritrea, Somalia, Sudan; es gab das am 22. September geräumte »Camp der Paschtunen« aus Afghanistan sowie das »Camp der Hazara« (afghanische schiitische Minderheit). Von 140 Ende September im »Jungle« festgenommenen Afghanen hatten französische RichterInnen jedoch binnen kürzester Zeit 130 aus der Abschiebehaft freigelassen: Ihre Rechte seien durch die Art der Festnahmen und Personenkontrollen, aber auch durch ihren sofortigen Transport in weit entfernte Städte wie Toulouse und Nîmes missachtet worden. Auf diese Weise hätten sie ihr Grundrecht auf rechtliches Gehör nicht wahrnehmen können. Die jungen Erwachsenen Nik Khan (18), Waheed (22) und Khodaid (20) hatten jedoch nicht dieses Glück: Sie befanden sich auf dem Abschiebeflug von Paris nach Kabul. Der zuständige Minister Eric Besson hatte angekündigt, sie stammten alle drei aus der Hauptstadt Kabul – eine Information, die sich als unrichtig herausstellte – und seien daher keiner allzu starken Gefährdung ihrer Sicherheit ausgesetzt. Die erzwungene Ausreise eines vierten afghanischen Staatsbürgers, erklärte der Minister, habe er selbst noch kurz vor dem Abflug verhindert – weil die Erkenntnisse über dessen persönliche Sicherheit bzw. Gefährdung im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan nicht genau genug gewesen seien. Ferner wurde ein Sonderbeauftragter der französischen Botschaft in Kabul losgeschickt, der sich um ihren »Empfang« kümmern sollte. Er lud die drei Jungen in einem Hotel in Kabul ab und händigte ihnen umgerechnet rund 1.500 Euro aus. Besson versicherte, der Mann vom französischen Konsulat werde ihr weiteres Schicksal im Auge behalten, und ihre Sicherheit sei dadurch also gewährleistet. Dabei handelte es sich freilich vor allem um den Versuch, zu demonstrieren, »dass es geht«, dass man »gefahrlos« Flüchtlinge in das von Krieg und Terrorismus geschüttelte Krisenland Afghanistan zurücksenden könne. Zumindest bei den ersten dreien sollte ein solcher »Aufwand« betrieben werden – bei den nächsten hundert wäre das wohl kaum zu erwarten. Denn zeitgleich mit seiner Information an die Presse, dass drei afghanische Staatsbürger in der Nacht zum 21. Oktober 2009 »ausgeflogen« worden seien, kündigte Eric Besson an, künftig werde es »an jedem Dienstag« weitere Abschiebungen nach Afghanistan geben. Mehrere französische Medien, unter ihnen die Tageszeitung ›Libération‹ vom Mittwoch, 28. Oktober und ›Le Parisien‹ vom 30. Oktober sowie Wochenmagazine, veröffentlichten Reportagen über den Aufenthalt der drei jungen Männer in Kabul. Dabei stellte sich heraus, dass es unwahr ist, dass sie alle aus Kabul stammten: Nik Khan kommt aus der afghanischen Südostprovinz Paktia, nahe der Grenze zu Pakistan, die nicht nur als eine der »unsichersten« Regionen, sondern auch als eine Hochburg der Taliban gilt. Er war geflohen, um nicht durch die Talibankämpfer zwangsrekrutiert zu werden. Waheed seinerseits stammt aus Bagram nördlich von Kabul und war vor einem drohenden Vollzug der International »Blutrache«, aufgrund einer Familienfehde mit politischen Zügen, durch einen Warlord der mitregierenden »Nordallianz« geflüchtet. Am 29. Oktober 2009 hat Eric Besson nun seine »Gefahrenanalyse« bezüglich Afghanistans und der dort herrschenden Unsicherheit nachträglich abgeändert und verkündete, »falls die Situation sich dort noch weiter verschlechtert«, dann würden alle Abschiebungen dorthin ausgesetzt. Gleichzeitig haben die 27 Staats- und Regierungschefs der EU am 30. Oktober 2009 in Brüssel beschlossen, künftig verstärkt gemeinsame Sammelflüge für Abschiebungen durchzuführen und diese durch die Union finanzieren zu lassen. Präsident Nicolas Sarkozy erklärte im Anschluss stolz, dieser Beschluss gehe auf eine gemeinsame Initiative mit dem italienischen Premierminister Silvio Berlusconi zurück. Dies stimmt so allerdings nicht, da der Beschluss zur Durchführung gemeinsamer Abschiebeflüge auf europäischer Ebene schon 2004 gefällt wurde und im Kern nicht neu ist. Die französische öffentliche Meinung goutierte das Vorhaben bislang nicht, so dass nicht einmal die Vermutung zutrifft, die Regierung hätte sich Wahlvorteile dadurch verschafft: Laut einer Umfrage von Mitte Oktober diesen Jahres sprachen sich 44 Prozent gegen, und 37 Prozent zugunsten solcher Abschiebungen nach Afghanistan aus. Premierminister François Fillon schmetterte unterdessen die Kritik der sozialdemokratischen Parlamentsopposition ab mit den Worten – die französische Sozialdemokratie brauche gar nicht laut zu reden, denn zu ihrer Regierungszeit (1997 bis 2002) habe man sogar Flüchtlinge »in das Taliban-regierte Afghanistan« hinein abgeschoben.