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Bad Nenndorf: Blockadeversuch einer Neonazidemonstration grundgesetzlich geschützt

Einleitung

Eine kreative Blockadeaktion sorgte im Sommer 2010 bundesweit für Schlagzeilen. Mit einem Überraschungscoup überwanden Gegner_innen der alljährlichen Neonazidemonstration im niedersächsischen Bad Nenndorf am 14. August 2010 die Polizeiabsperrungen. 

Legales Instrument der Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung: Die Blockadepyramide in Bad Nenndorf.

Die Aktivist_innen mieteten einen blauen Transporter und einen Anhänger, zogen sich Arbeitsanzüge an, die Polizeiuniformen entfernt ähnelten und legten eine aktuelle Ausgabe der Fachzeitschrift »Die Polizei« sowie ein Papierschild mit dem Wappen der »Freien Republik Wendland« hinter die Windschutzscheibe. Das reichte aus, um als vermeintliche Kolleg_innen durch die Polizeisperren gewunken zu werden. Vor den Augen der Polizei deponierten die Aktivist_innen dann gegen 13 Uhr eine etwa 110 cm hohe, mit Beton gefüllte Holzpyramide auf der neonazistischen Wegstrecke in unmittelbarer Nähe zum Platz der Zwischenkundgebung, steckten ihre Hände hinein und verbanden diese, von außen nicht sichtbar, mit Kabelbindern. Nachdem es den eingesetzten Polizist_innen nicht gelang, die Aktivist_innen aus der Pyramide zu lösen, stuften sie die Aktion als Versammlung ein und ordneten gegen 14 Uhr deren Auflösung an.

Die Aktivist_innen kamen der Anordnung jedoch nicht nach. Der »Trauermarsch« war so für mehrere Stunden blockiert. Gegen 16.00 Uhr mussten die mehr als 1.000 angereisten Neonazis, abgeschirmt von Polizeikräften, an der Pyramidenblockade vorbeigeleitet werden. Seit den frühen Morgenstunden war die Polizei mit 2.000 Einsatzkräften, Reiterstaffeln, einem Hubschrauber und hunderten Absperrgittern im Einsatz gewesen, um eine Blockade der Neonazidemonstration durch Gegendemonstrant_innen zu verhindern.

Das juristische Nachspiel

Nachdem sich die Aktivist_innen schließlich selbst aus der Pyramide gelöst hatten, stellte die Polizei ihre Personalien fest und ordnete eine Ingewahrsamnahme an. Anschließend wurden sie zur Gefangenensammelstelle gebracht, von wo sie erst gegen 19 Uhr, noch vor ihrer richterlichen Vorführung, entlassen wurden. Dagegen gingen die Aktivist_innen gerichtlich vor und bekamen in erster Instanz Recht: Das Amtsgericht Stadthagen stellte die Rechtswidrigkeit der polizeilichen Ingewahrsamnahme vom 14. August 2010 fest. Die sofortige Beschwerde der beteiligten Polizeidirektion Göttingen wies das Landgericht Bückeburg am 27. Juli 2011 als unbegründet zurück. Auch das Landgericht stufte die Ingewahrsamnahme als rechtswidrig ein, weil nach der Feststellung der Personalien ein Festnahmegrund nicht mehr bestand, ein Gewahrsam zur Durchsetzung eines Platzverweises ausschied, weil ein solcher nicht ausgesprochen wurde und weil die Voraussetzungen für einen Unterbindungsgewahrsam ebenfalls nicht mehr vorlagen.

Auch gegen diese Entscheidung wandte sich die Polizeidirektion Göttingen mit einer weiteren sofortigen Beschwerde nun schon an das Oberlandesgericht Celle, welche das Gericht am 14. September 2011 als unbegründet zurückwies. Die polizeiliche Ingewahrsamnahme der Aktivist_innen und die daraus resultierende Freiheitsentziehung war und ist damit rechtswidrig.

Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung

In seiner Entscheidung beschreibt das OLG Celle das Aufstellen der Pyramide und die Sitzblockade als »Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung«. Diese falle unter den grundgesetzlichen Schutz der Meinungsfreiheit. Es wird auch auf die politischen Hintergründe eingegangen: »Die Teilnehmer wollten damit ihren Widerstand gegen den rechtsextremistischen Aufzug zum Ausdruck bringen und darauf aufmerksam machen, dass mit dem sog. ›Trauermarsch‹ Fälle von Gefangenenmisshandlung in einem britischen Internierungslager aus den Jahren 1945 und 1946 als Vorwand benutzt werden, um die nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft zu billigen«. Das OLG wertete die Pyramidenaktion als eine friedliche und kreative Aktionsform, bei der zum Zeitpunkt der Anordnung der Ingewahrsamnahme eben keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür vorlagen, dass die Begehung einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit von erheblicher Gefahr für die Allgemeinheit zu erwarten war.

Auch den von Gerichten bislang bei aktiven Blockaden verbreitet angenommenen Straftatbestand der Nötigung sah das OLG Celle als nicht erfüllt an. Zwar sei das Merkmal der »Gewalt« (§240 Abs. 1 StGB) schon dadurch gegeben, dass das Aufstellen der Betonpyramide eine physische Krafteinwirkung erforderte und die Aktion über die bloße körperliche Anwesenheit der Aktivist_innen hinausging, es sei jedoch zweifelhaft, ob die Handlung der Aktivist_innen auch als »verwerflich« (§240 Abs. 2 StGB) anzusehen ist. Es sei nämlich zu berücksichtigen, so das OLG weiter, dass die Aktivist_innen sich ihrerseits auf den Schutz des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit berufen könnten. Für die Aktivist_innen entfalle der Schutz des Grundgesetz Art. 8 GG auch nicht etwa wegen Unfriedlichkeit der Versammlung, denn unfriedlich sei eine Versammlung erst dann, wenn Handlungen von einiger Gefährlichkeit wie etwa aggressive Ausschreitungen gegen Personen oder Sachen stattfänden, nicht aber schon dann, wenn es, wie vorliegend, zu bloßen Behinderungen Dritter kommt – selbst wenn diese gewollt seien.

Kollidiert die Versammlungsfreiheit – wie hier – mit Grundrechten Dritter, so das OLG weiter,  müsse letztlich ein Kompromiss gefunden werden. Das OLG schlussfolgert: »Vor diesem Hintergrund stellt sich die Pyramidenaktion nicht als verwerflich dar. Denn sie stand in unmittelbarem Zusammenhang mit dem rechtsextremistischen Aufzug, gegen den sie sich richtete, und beeinträchtigte dessen Teilnehmer nur geringfügig und für kurze Zeit.« Daneben sei der Polizeidirektion Göttingen darin Recht zu geben, dass die hier zu beurteilende Aktion einen »kreativen Weg« des Protestes darstelle. Allerdings sprächen die »Kreativität« dieses Protestes und seine akribische Vorbereitung gerade nicht dafür, dass von den Aktivist_innen unmittelbar im Anschluss daran ein gewalttätiges Verhalten zu erwarten gewesen wäre. Dies hatte die Polizei kurzerhand behauptet, um den Versuch zu unternehmen, ihr Vorgehen rechtlich abzusichern.

Ein Freibrief für kreative Blockaden von Neonazidemonstrationen?

Das Urteil ist erfreulich und kann befriedigt zur Kenntnis genommen werden. Schließlich sind weitere neonazistische »Trauermärsche« in Bad Nenndorf zu erwarten. Es bedeutet aber nicht, dass alle zukünftigen Blockadeaktionen straffrei bleiben werden. Dennoch stellt das Urteil unzweifelhaft eine Ermutigung für die Aktivist_innen dar, die sich in einer Erklärung für die Unterstützung bei solidarischen Teilen der Bevölkerung und bei ihren Rechtsanwält_innen bedankten. Die gerichtliche Feststellung der Rechtswidrigkeit des polizeilichen Vorgehens gegen die gewählte kreative Protestform ist auch bundesweit für Nachahmer_innen interessant. Insgesamt betrachtet können Antifaschist_innen aus der gerichtlichen Auseinandersetzung um die Bad Nenndorfer Pyramide gestärkt hervorgehen. Im Sommer 2011 kam im übrigen wieder eine Pyramide in Bad Nenndorf zum Einsatz, die diesmal von der Polizei in einer Vorkontrolle beschlagnahmt werden konnte. Der hierfür von der Polizei eingesetzte Kran erwies sich allerdings als eine Nummer zu groß. Die polizeilich erwartete Betonfüllung fehlte dieses Mal – die Beamt_innen waren auf eine Attrappe hereingefallen.