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Ausblendung neonazistischer Gewalt im Allgäu

Antirassistisches Jugendaktionsbüro
Einleitung

Am Dienstag, den 6. Mai 2014 verurteilte die Große Strafkammer am Kemptener Landgericht den Neonazi Falk H. nach nur zwei Verhandlungstagen zu elf Jahren Freiheitsentzug mit Alkoholtherapie. Die „vollkommen sinnlose Sauferei und Prügelei“ am letztjährigen Tänzelfest in Kaufbeuren (vgl. AIB 100), welche Konstantin M., einem „Mann aus Kasachstan“, das Leben kostete, wertete das Gericht als Körperverletzung mit Todesfolge. Zu einer Tatrelevanz des neonazistischen Hintergrundes und Umfeldes des Täters „konnten aber keine konkreten Feststellungen“ getroffen werden. Das kritisiert das „Antirassistische Jugendaktionsbüro“.

Foto: rh

Verurteilt wegen Körperverletzung mit Todesfolge - Neonazi Falk H.

Die Aktivist_innen leisteten Prozessbeobachtung, denn sie wollten angesichts des im Voraus festgestellten neonazistischen Hintergrundes der Tätergruppe etwas dagegensetzen, „wenn Behörden und Bevölkerung wieder in die Deutungs- und Verhaltensmuster zurückfallen, die mit der Aufarbeitung der NSU-Morde erkannt und erledigt werden sollten.“ Die Befürchtung sei, „dass auch der Fall um Falk H. entpolitisiert und abgehakt wird.“

Die Zeugen- und Sachverständigenaussagen zeichneten ein eindeutiges Bild: Am Abend des 17. Juli 2013 um kurz vor Mitternacht verlässt die fünfköpfige Gruppe um Falk H. das Festzelt am Tänzelfest. In der Gruppe ist mit H.’s Neffen Markus V. mindestens ein weiterer Neonazi. Zur gleichen Zeit verlassen drei von den Thüringern offenbar als nicht-deutsch Identifizierte das Festgelände und werden als „Scheiß Polacken“ und „Scheiß Russen“ beschimpft. Der 36-jährige Thüringer wirft den Dreien vor, „ihr habt damals meine Oma vertrieben“ und greift an. Zu zweit halten die Angegriffenen ihre Gegner in Schach, sodass diese mehrfach zu Boden gehen und schließlich aufgeben müssen. Frustriert und wütend über die Niederlage ziehen sich die Angreifer zurück auf das Gelände, wo der unbeteiligte Konstantin M. völlig unvermittelt einen heftigen Faustschlag gegen die Schläfe erhält. Obwohl der 34-Jährige aufgrund eines durch den Hieb ausgelösten Risses einer Arterie hirntot ist, noch bevor sein Körper ganz zu Boden fällt, holt der Thüringer nochmals aus: Ein schwerer Fußtritt gegen den Hals des Familienvaters verursacht weitere schwerwiegende Verletzungen. Anwesende Sicherheits- und Rettungskräfte können nicht mehr tun, als den kurze Zeit später festgenommenen Falk H. als Täter zu identifizieren. Konstantin M. stirbt kurz darauf im Krankenhaus. Das Verfahren des anfangs ebenfalls verdächtigten 22-jährigen Markus V. wird eingestellt und gegen H. eine Anklage wegen Körperverletzung mit Todesfolge in Tateinheit mit versuchtem Mord vorbereitet, während dieser in Untersuchungshaft sitzt. Der 36-Jährige kennt das. In der Vergangenheit wurde er viele Male unter anderem wegen teils erheblichen Gewalttätigkeiten angeklagt und mit Freiheitsstrafen belegt, die allerdings meist zur Bewährung ausgesetzt wurden. Verzeichnet sind 18 Verurteilungen, der Großteil Körperverletzungen, oft in Verbindung mit Hitlergrüßen und „Sieg Heil!“-Rufen. Eine Person wurde verprügelt, weil sie sagte, sie sei links. Die auszugsweise Verlesung eines Teils der Urteile zeichnet das Bild eines äußerst gewalttätigen Neonazis.

Deutlich ist auch das engere Umfeld des Neonazis, so Robert Andreasch von der antifaschistischen Informations-, Dokumentations- und Archivstelle München e.V. (AIDA): „Bilder mit der schwarzen Sonne der SS finden sich hier genauso wie ein Kokettieren mit der Mordserie des ,Nationalsozialistischen Untergrunds’ (NSU): Markus V. hat eine ,Pink Panther’-Figur mit Maschinengewehr gepostet. Zu seinen Online-Freunden gehören unter anderem thüringer und sächsische Neonazis, die Jugendorganisation von ,Pro Deutschland’ sowie der aus Bayern stammende, frühere NPD-Bundesvorsitzende Udo Voigt.“ Das Bild mit der „Pink-Panther“-Figur ziere das Symbol der neonazistischen Internetseite „Infoportal Schwaben“, erklärt der Journalist, der sich schwerpunktmäßig seit Jahren mit der bayerischen Neonaziszene beschäftigt.

Der Täter selbst hält sich — von einigen sexistischen Ausfällen abgesehen — auf Facebook eher zurück. Lediglich auf einem Foto offenbart er auf seiner linken Brust ein Tattoo, das eine Lebens- und eine Todesrune zeigt.

Der Täter, der sich an den Vorfall nicht erinnern will, rechtfertigt über seine Verteidigerin die neonazistischen Äußerungen. Falk H. sei eigentlich „eher links“, bestimmt aber „nicht rechts“ eingestellt, in Antifa- und Punkkreisen unterwegs und hätte somit seine Taten „mehr ironisch“ gemeint. Auch der vorsitzende Richter bezeichnet diese Behauptungen als „Quatsch“ und erkennt die rechte Gesinnung des Täters an. Eine Tatrelevanz will das Gericht allerdings nicht erkennen und stellt auf eine „völlig sinnlose Sauferei und Prügelei“ ab.

Genau das kritisiert das „Antirassistische Jugendaktionsbüro“. Ob die Gesinnung des Täters Tatrelevanz hat, sei ohne Prüfung verneint worden. „Selbst die ›ausländer‹-feindlichen und explizit rechten Parolen, die auf dem Tänzelfest fielen, wurden nicht debattiert.“

The show must go on

Damit wurde die Forderung eines Tänzelfestbesuchers schließlich eingelöst. „Bitte sagt das Feuerwerk NICHT ab! [...] THE SHOW MUST GO ON!“ Tatsächlich zeigt auch das Kemptener Urteil eine fatale Kontinuität im Umgang mit rassistischen Motiven. Sie werden ignoriert und ausgeblendet. Nicht nur, dass es unter anderem diese Haltung überhaupt erst ermöglichte, dass der NSU jahrelang ungestört morden und rauben konnte, während viele seiner Opfer und deren Angehörige verdächtigt, überwacht und eingeschüchtert wurden. Immer wieder will mensch rassistische Motive nicht erkennen. Wer sie trotzdem benennt, stört. So werden Infoveranstaltungen zur lokalen Neonaziszene sowie eine Demonstration nach dem Vorfall kaum besucht. Stadt und Justiz verwenden eine Reihe lächerlicher Kleinigkeiten, um Repression gegen deren Anmelder_innen zu richten. Auf einem Benefizkonzert für die Hinterbliebenen von Konstantin M. wird den auftretenden Künstler_innen gesagt, sie sollten sich gegen Gewalt positionieren, nicht aber von Neonazis sprechen.

Auch der mittlerweile sechs Jahre zurückliegende Mord an Peter Siebert in Memmingen wird weiter entpolitisiert. Die Polizei propagiert nach wie vor eine Beziehungstat, obwohl selbst der Vizepräsident des Landgerichts Memmingen einräumte, dass ein extrem rechter Hintergrund „wahrscheinlich“ sei und der Fall wegen eben jenem Verdacht neu geprüft werden soll. In Gedenken an dieses und alle weiteren Opfer neonazistischer Gewalt zogen 400 Menschen unter dem Motto „Remembering means fighting!“ an Peter Sieberts sechsten Todestag, dem 26. April 2014, durch die Memminger Innenstadt.

„Fighting“ bezieht sich dabei auf ein bitter notwendiges Vorgehen gegen die nach wie vor starke und gefährliche Neonaziszene im Allgäu. Diese formiert sich um Gruppierungen wie „Voice of Anger“ oder die „Allgäu-Schwäbische Kameradschaft“, deren Bands „National Born Haters“, „Codex Frei“ und „Faustrecht“ oder Unternehmen wie den „EPS Druckshop“ in Memmingen, dessen Eigentümer Benjamin E. ebenfalls für den neonazistischen Versandhandel „Oldschool Records“ verantwortlich ist.

In der Nacht vom 5. auf den 6. Oktober 2013 attackieren zwei Mitglieder von „Voice of Anger“ drei Antifaschist_innen mit Spring­messern und dem Ruf: „Ich schlitz’ euch auf!“ Daraufhin dringen der Memminger und Kemptener Staatsschutz in Wohn- und Geschäftsräume ein und entwenden Datenträger, Computer und Dokumente. Allerdings nicht, wie zu erwarten wäre, bei Mitgliedern der gewalttätigen Neonazigruppierung, sondern bei Menschen, die sich aktiv gegen Rassismus und Neonazis im Allgäu einsetzen. Angeblich sollen so Zeug_innen ausfindig und die Täter_innen geschnappt werden. Maßnahmen gegen das Umfeld der Täter werden nicht bekannt.

This show won't go on

Aktivitäten gegen diese und andere Umtriebe in der Region gehen seit Ende 2012 vom selbstverwalteten Jugendzentrum „react!OR“ in Kempten aus. Nachdem jahrelange Versuche, mit den örtlichen (städtischen) Jugendeinrichtungen zusammenzuarbeiten, immer wieder scheiterten oder zumindest unbefriedigend ausfielen, war einigen Antifaschist_innen aus der Region klar: „Wenn wir gegen diese Vorgänge effektiv vorgehen und eine emanzipatorische Perspektive in der Provinz entwickeln wollen, müssen wir eigene Strukturen aufbauen.“ So entstand das JuZe mit Infoladen, Umsonstladen, Offenem Büro und Aktionsmateriallager. Von hier gingen mittlerweile weit über 50 Interventionen und inhaltliche Veranstaltungen aus. Viele der Aktionen — die im Antifa- und Antirabereich stattfanden — wurden vom „Antirassistischen Jugendaktionsbüro“ organisiert. Das Aktionsbüro stellt sich dem rassistischen und rechten Treiben in der Region aktiv entgegen und leistet Recherche zu entsprechenden Vorfällen und Strukturen, dokumentiert die Ergebnisse und klärt auf. Mit direktem Support werden Flüchtlinge unterstützt und Bildungsveranstaltungen ermöglichen eine inhaltliche Auseinandersetzung mit und die Entwicklung von emanzipatorischen Positionen.

Trotz finanziellem und personellem Dauernotstand sind die Aktivist_innen überzeugt: „This show won't go on.“

Weitere Infos unter www.react.or.ke